Leitsatz (amtlich)
1. Die Befugnis der Industrie- und Handelskammern, im jährlichen Haushaltsplan (Wirtschaftsplan) angemessene Rücklagen vorzusehen, deckt keine Bemessung einer Ausgleichsrücklage nach einem Vielfachen des für das betreffende Wirtschaftsjahr prognostizierten Einnahmenausfalls.
2. Die Erhöhung des festgesetzten Kapitals (Nettoposition) in der Bilanz einer Kammer bedarf eines sachlichen Grundes im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit. Das Ziel, den Wert des langfristig gebundenen Vermögens in der Nettoposition abzubilden, kann ihre Erhöhung nicht rechtfertigen.
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 17.09.2018; Aktenzeichen 8 LB 130/17) |
VG Braunschweig (Urteil vom 20.04.2017; Aktenzeichen 1 A 59/16) |
Tenor
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger wendet sich gegen die vorläufige Festsetzung eines Beitrags von 40 € zur beklagten Industrie- und Handelskammer für das Jahr 2016.
Rz. 2
Die Beitragsfestsetzung erfolgte auf Grundlage des Wirtschaftsplans der Beklagten für das Jahr 2016, der Einnahmen in Höhe von 9 949 000 €, Aufwendungen in Höhe von 10 496 500 € und einen Saldo der Rücklagenveränderung in Höhe von 547 500 € vorsah. Die von der Beklagten im Vorjahr vorgehaltene Ausgleichsrücklage sollte gegenüber dem Vorjahreswert um 375 000 € verringert werden und am 31. Dezember 2016 noch 2 698 224 € betragen. Das festgesetzte Kapital, das in der Eröffnungsbilanz mit 500 000 € angesetzt und zuletzt im Jahr 2013 um 2 500 000 € auf 4 000 000 € erhöht worden war, sollte unverändert bleiben.
Rz. 3
Nach Klageerhebung hat die Vollversammlung der Beklagten am 25. April 2016 eine Begründung für die Höhe der Ausgleichsrücklage im Jahr 2016 verabschiedet. Sie solle der Vorsorge vor konjunktur- und branchenbedingten Beitragsschwankungen, vor dem Ausfall eines oder mehrerer großer Beitragszahler und vor einem dauerhaften Wertverlust von Finanzanlagen dienen. Das Risiko konjunktur- und branchenbedingter Beitragsschwankungen betrage 2 367 216 €. Im Durchschnitt hätten die Beitragseinnahmen in den letzten zehn Jahren 7 488 480 € betragen. Dieser Durchschnittswert sei in dem genannten Zeitraum um maximal 1 972 680 € unterschritten worden. Schätze man die Eintrittswahrscheinlichkeit einer solchen Abweichung auf 40 %, ergebe sich ein jährliches Ausfallrisiko in Höhe von 789 072 €. Da sich konjunkturelle Einflüsse in der Regel drei bis fünf Jahre lang auswirkten und die Beklagte in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Beitragserhöhungen vermeiden wolle, werde Vorsorge für drei Jahre getroffen. Das Risiko des Ausfalls eines oder mehrerer großer Beitragszahler werde aufgrund der Erfahrungswerte der Vergangenheit mit durchschnittlich 40 000 € pro Jahr für eine Dauer von drei Jahren, also insgesamt mit 120 000 €, bewertet. Das Risiko der dauerhaften Entwertung von Finanzanlagen bei Anwendung des gemilderten Niederstwertprinzips sei mit 227 000 € anzusetzen.
Rz. 4
Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Klägers stattgegeben. Der der Beitragsfestsetzung zugrundeliegende Beitragstarif in der Wirtschaftssatzung 2016 sei nichtig. Die ihm zugrundeliegende Mittelbedarfsfeststellung genüge den rechtlichen Anforderungen nicht. Die Entnahme aus der Ausgleichsrücklage sei zu gering ausgefallen, weil die von der Beklagten angesetzte Höhe der Ausgleichsrücklage durch die von ihr angestellte Mittelbedarfsprognose nicht gerechtfertigt werde. Sie verletze das Gebot der Schätzgenauigkeit. Danach müssten Mittelbedarfsprognosen entsprechend den auch im allgemeinen Verwaltungsrecht entwickelten Maßstäben für die Prüfung behördlicher Prognoseentscheidungen auf der Grundlage eines zutreffenden Sachverhalts nach einer geeigneten Methode erstellt und einleuchtend begründet werden. Weil es keine besonderen Verfahrensregelungen für die Erstellung der Mittelbedarfsprognose gebe, komme es bei ihrer Kontrolle auf die vom Beklagten hierzu im Prozess vorgetragenen Erwägungen an. Diese rechtfertigten nicht die von der Beklagten in ihrem Beschluss vom 25. April 2016 für erforderlich gehaltene Höhe der Ausgleichsrücklage von insgesamt 2 714 216 €. Die Beklagte habe das Risiko des konjunkturbedingten Ausfalls großer Beitragszahler doppelt, nämlich sowohl bei der Bezifferung des Risikos konjunktur- und branchenbedingter Beitragsschwankungen als auch bei der Bemessung des Risikos des Ausfalls großer Beitragszahler, berücksichtigt. Bei der Quantifizierung des Risikos der dauerhaften Entwertung von Finanzanlagen habe sich die Beklagte an der Summe der stillen Lasten zum 31. Dezember 2015 orientiert. Das entspreche der Annahme einer Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos von 100 %. In der Vollversammlung am 25. April 2016 habe die Beklagte im Widerspruch dazu erklärt, sie gehe nicht von einer dauerhaften Wertminderung ihrer Finanzanlagen aus. Darüber hinaus sei die Mittelbedarfsfeststellung in der Wirtschaftssatzung 2016 fehlerhaft, weil die Erhöhung des festgesetzten Kapitals im Jahr 2013 nicht rückgängig gemacht worden sei. Eine Erhöhung des festgesetzten Kapitals führe zu erhöhtem Mittelbedarf und damit zu höheren Beiträgen. Sie sei nur aus sachlichen Gründen zulässig. Solche hätten bei der Erhöhung des festgesetzten Kapitals im Jahr 2013 nicht vorgelegen. Insbesondere stelle der Wunsch der Beklagten, den Betrag des festgesetzten Kapitals an den in der Bilanz für das Anlagevermögen ausgewiesenen Betrag anzugleichen, keinen sachlichen Grund für die Erhöhung des festgesetzten Kapitals dar.
Rz. 5
Die Beklagte meint, die Angemessenheit der Höhe der von ihr für das Jahr 2016 geplanten Ausgleichsrücklage sei zu vermuten, weil deren Betrag sich in dem von ihrem Finanzstatut vorgegebenen Rahmen bewege. Diese Vermutung habe der Kläger nicht widerlegt. Das Risiko des konjunkturbedingten Ausfalls großer Beitragszahler habe sie entgegen der Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht doppelt angesetzt. Ihre erläuternden Aussagen zum Risiko der dauerhaften Wertminderung von Finanzanlagen in der Mitgliederversammlung am 25. April 2016 widersprächen der von ihr insoweit angestellten Risikoprognose nicht. Die Erhöhung des festgesetzten Kapitals (Nettoposition) verringere die zur Aufgabenerfüllung zur Verfügung stehenden Finanzmittel nur, wenn diese Erhöhung aus frei verfügbaren Finanzmitteln bestritten werde. Das sei im Jahr 2013 nicht der Fall gewesen. Die Bilanzposition des festgesetzten Kapitals habe die Funktion, den Gesamtbetrag des auf der Aktivseite der Bilanz aufgeführten langfristig gebundenen Vermögens der Beklagten auf der Passivseite der Bilanz abzubilden. Dieser Zweck rechtfertige ihre Erhöhung im Jahr 2013.
Rz. 6
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 17. September 2018 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 20. April 2017 zurückzuweisen.
Rz. 7
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Rz. 8
Er verteidigt das Berufungsurteil.
Rz. 9
Der Vertreter des Bundesinteresses meint, der Wechsel von der Kameralistik zur Doppik erfordere eine Anpassung der in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - aufgestellten Prüfungsmaßstäbe für die Zulässigkeit der Bildung von Rücklagen. Andernfalls werde der weite Gestaltungsspielraum der Kammern bei ihrer Wirtschaftsplanung nicht ausreichend respektiert.
Entscheidungsgründe
Rz. 10
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Berufungsurteil stellt sich im Ergebnis als richtig dar (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 144 Abs. 4 VwGO). Die Beitragsfestsetzung für das Jahr 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie verstößt gegen § 3 Abs. 2 des Gesetzes zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern (Industrie- und Handelskammergesetz - IHKG) vom 18. Dezember 1956 in der hier maßgeblichen Fassung des Art. 7 Nr. 2 des Zweiten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft vom 7. September 2007 (BGBl. I S. 2246). Die Vorschrift ermächtigt die Kammern, zur Deckung der Kosten ihrer Errichtung und Tätigkeit nach Maßgabe ihres Wirtschaftsplans von den Kammerzugehörigen gemäß einer Beitragsordnung Beiträge zu erheben, soweit diese nicht anderweitig gedeckt sind. Die Heranziehung zu Kammerbeiträgen ist rechtmäßig, wenn die Feststellung des Mittelbedarfs der Kammer im Wirtschaftsplan den an sie zu stellenden rechtlichen Anforderungen genügt, der Mittelbedarf in rechtmäßiger Weise durch eine Beitragsordnung auf die Kammerzugehörigen umgelegt wird und diese Beitragsordnung im Einzelfall ohne Rechtsfehler angewendet wurde (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - Buchholz 430.5 IHKG Nr. 2 Rn. 13 ff.).
Rz. 11
Die Mittelbedarfsfeststellung in dem Wirtschaftsplan der Beklagten für das Jahr 2016 überschreitet den bei der Aufstellung von Wirtschaftsplänen durch § 3 Abs. 2 IHKG eingeräumten Gestaltungsspielraum. Die Vorschrift verpflichtet die Kammern, vor Beginn eines jeden Wirtschaftsjahres einen Wirtschaftsplan aufzustellen und ihre Tätigkeit im betreffenden Wirtschaftsjahr an ihm auszurichten (§ 3 Abs. 2 Satz 2 IHKG). Bei Aufstellung des Wirtschaftsplans muss die Kammer vor dem Hintergrund der von ihr im kommenden Wirtschaftsjahr beabsichtigten Tätigkeiten unter Berücksichtigung der zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben den durch Beiträge zu deckenden Bedarf prognostizieren (BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - Buchholz 430.5 IHKG Nr. 2 Rn. 12). Dabei hat sie zu beachten, dass die Kammern zur sparsamen und wirtschaftlichen Finanzgebarung sowie zur pfleglichen Behandlung der Leistungsfähigkeit der Kammerzugehörigen verpflichtet sind. Vermögen zu bilden, ist den Kammern verboten. Jeder Bedarfsansatz muss daher von einem sachlichen Zweck im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit getragen werden und auch der Höhe nach von diesem gedeckt sein (§ 3 Abs. 2 Satz 2 IHKG; BVerwG, Urteile vom 26. Juni 1990 - 1 C 45.87 - Buchholz 430.3 Kammerbeiträge Nr. 22 S. 12 und vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - BVerwGE 153, 315 Rn. 17). Darüber hinaus sind die Kammern an die Grundsätze des staatlichen Haushaltsrechts und ergänzende Satzungsbestimmungen gebunden. Zu den haushaltsrechtlichen Grundsätzen zählt das Gebot der Haushaltswahrheit, aus dem in Ansehung von Prognosen das Gebot der Schätzgenauigkeit folgt. Danach müssen Mittelbedarfs- und Einnahmenprognosen aus ex-ante-Sicht sachgerecht und vertretbar ausfallen (BVerwG, Urteile vom 26. Juni 1990 - 1 C 45.87 - Buchholz 430.3 Kammerbeiträge Nr. 22 S. 12 und vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - BVerwGE 153, 315 Rn. 16). Diese rechtlichen Vorgaben gelten auch nach der Einführung der doppischen Rechnungslegung gemäß § 3 Abs. 7a IHKG unverändert fort.
Rz. 12
1. Die Entscheidung der Beklagten, im Jahr 2016 eine Ausgleichsrücklage in Höhe von 2 698 224 € zur Absicherung der Risiken konjunktur- und branchenbedingter Beitragsausfälle, der Ausfälle großer Beitragszahler und der dauerhaften Entwertung von Finanzanlagen vorzuhalten, ist teilweise schon mangels rechtfertigenden Zwecks (a) und im Übrigen der Höhe nach (b) zu beanstanden.
Rz. 13
a) Die Bildung einer Ausgleichsrücklage durch die Beklagte im Jahr 2016 war nur teilweise durch einen sachlichen Zweck im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit gerechtfertigt. Nicht zu beanstanden war die Entscheidung, eine Ausgleichsrücklage für den Fall des Eintritts konjunktur- und branchenbedingter Beitragsschwankungen und - soweit nicht schon darin eingeschlossen - des Ausfalls großer Beitragszahler vorzuhalten (aa). Dagegen war die Entscheidung, eine Reserve auch für den Fall der Entwertung von Finanzanlagen vorzusehen, rechtlich fehlerhaft (bb).
Rz. 14
aa) Die Bildung der Ausgleichsrücklage zur Vorsorge vor konjunktur- und branchenbedingten Beitragsschwankungen und zur Vorsorge vor einem - konjunkturunabhängigen - Ausfall großer Beitragszahler war durch einen sachlichen Zweck im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit gerechtfertigt. Die Ausgleichsrücklage dient der Vermeidung der Inanspruchnahme von teuren Kassenkrediten zur Finanzierung der Aufgaben der Kammer bei einem Ausfall von Beitragseinnahmen infolge eines Konjunkturabschwungs oder eines von konjunkturellen Einflüssen unabhängigen Ausfalls eines großen Beitragszahlers. Dieser sachliche Zweck hält sich im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit. Er ist darauf gerichtet, die zeitgerechte, kostengünstige Verfügbarkeit der für die Aufgabenerfüllung erforderlichen Finanzmittel zu sichern.
Rz. 15
bb) Die Bildung einer Ausgleichsrücklage zur Vorsorge vor einer dauerhaften Entwertung von Finanzanlagen ist dagegen nicht durch einen sachlichen Zweck im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit gedeckt. Das Ziel, dauerhafte Wertminderungen des Vermögens der Kammer im Haushaltsjahr 2016 zu kompensieren, stellt schon deswegen keinen solchen Zweck dar, weil den Kammern die Bildung von Vermögen verboten ist. Daher kann auch das Ziel, eventuell im Haushaltsjahr eintretende Vermögensverluste zu kompensieren, für sich genommen keinen solchen Zweck darstellen. Einen anderen, tragfähigen sachlichen Grund hat die Beklagte nicht benannt.
Rz. 16
b) Im Übrigen überschreitet die Bemessung der Höhe der Ausgleichsrücklage im Jahr 2016 den Gestaltungsspielraum, den das Haushaltsrecht der Kammer bei der Aufstellung ihres Wirtschaftsplans einräumt (dazu vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - BVerwGE 153, 315 Rn. 16 m.w.N.).
Rz. 17
aa) Entgegen der Auffassung der Beklagten spricht keine Vermutung für die Angemessenheit der Höhe der im streitigen Wirtschaftsplan angesetzten Ausgleichsrücklage. Die oben (Rn. 11) dargestellten rechtlichen Grenzen der Haushalts- und Wirtschaftsführung der Industrie- und Handelskammern lassen keinen Raum für eine Vermutungsregel. Der Grundsatz der Haushaltswahrheit und das daraus folgende Gebot der Schätzgenauigkeit verlangen aus ex-ante-Sicht sachgerechte und vertretbare Prognosen. Dies setzt voraus, dass jeder Ansatz sachbezogen begründbar ist. Dagegen genügt nicht, dass er einen pauschal festgelegten maximalen Prozentsatz der geplanten Aufwendungen nicht überschreitet oder sich in einem durch solche Prozentanteile begrenzten Korridor bewegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - BVerwGE 153, 315 Rn. 20). Aus diesem Umstand lässt sich auch keine Vermutung der Angemessenheit ableiten. Die Beachtung der haushaltsrechtlichen Grundsätze ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Wirtschaftsplans. Kann das Gericht sich von ihrer Wahrung nicht überzeugen, ist der Wirtschaftsplan rechtswidrig. Für die Annahme einer Vermutung, die genannten Anforderungen seien eingehalten, lassen die Vorschriften keinen Raum.
Rz. 18
bb) Der Mittelansatz der Beklagten für die Ausgleichsrücklage in Höhe von 2 698 224 € verletzt das Gebot der Schätzgenauigkeit und ist nicht mehr von ihrem gesetzlich zulässigen Zweck gedeckt, Einnahmeausfälle im jeweiligen Haushaltsjahr auszugleichen.
Rz. 19
(1) Das Gebot der Schätzgenauigkeit verpflichtet dazu, den im Haushalt für einen bestimmten Zweck veranschlagten Mittelbedarf aufgrund der bei der Aufstellung des Haushaltsplans (Wirtschaftsplans) verfügbaren Informationen sachgerecht und vertretbar zu prognostizieren (BVerfG, Urteil vom 9. Juli 2007 - 2 BvF 1/04 - BVerfGE 119,96 ≪129 f.≫; BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - BVerwGE 153, 314 Rn. 16). Was dabei als vertretbar zu gelten hat, kann nur aufgrund einer Gesamtbewertung der konkreten Entscheidungssituation unter Berücksichtigung des betroffenen Sach- und Regelungsbereichs, der Bedeutung der zu treffenden Entscheidung und deren Folgen sowie der verfügbaren Tatsachengrundlagen für die Prognose bestimmt werden. Unvertretbar sind jedenfalls bewusst falsche Etatansätze und gegriffene Ansätze, die trotz naheliegender Möglichkeit besserer Informationsgewinnung ein angemessenes Bemühen um realitätsgerechte Prognosen zu erwartender Einnahmen oder Ausgaben vermissen lassen (BVerfG, Urteil vom 9. Juli 2007 - 2 BvF 1/04 - BVerfGE 119, 96 ≪129 f.≫).
Rz. 20
Dieser Maßstab geht über eine bloße Willkürkontrolle hinaus. Er entspricht allerdings nicht dem vom Berufungsgericht angelegten allgemeinen Maßstab für die gerichtliche Überprüfung behördlicher Prognoseentscheidungen auf die Eignung der Prognosemethode, die zutreffende Sachverhaltsermittlung und der einleuchtenden Begründung ihres Ergebnisses hin. Die Mittelbedarfsprognose richtet sich auf eine möglichst realitätsgerechte Schätzung der künftigen Einnahmen und Ausgaben der Kammer. Diesen spezifischen Anforderungen wird ein zur Bewältigung technisch-naturwissenschaftlicher Ungewissheiten angewandter Maßstab für die gerichtliche Kontrolle behördlicher Prognosen nicht gerecht.
Rz. 21
(2) Die Mittelbedarfsprognosen für die Absicherung des Risikos von konjunktur- und branchenbedingten Beitragsausfällen und des Risikos des Ausfalls großer Beitragszahler waren nicht vertretbar und sind darum rechtswidrig.
Rz. 22
Allerdings musste die Beklagte sie bei Verabschiedung des Wirtschaftsplans für das Jahr 2016 nicht ausdrücklich begründen. Die Regelungen über die Aufstellung von Wirtschaftsplänen sehen, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, keine besonderen Verfahrens-, Anhörungs- oder Begründungspflichten vor. Der Kontrolle der Mittelbedarfsprognosen sind daher alle Erwägungen der Beklagten zugrunde zu legen, die sie zu den im Zeitpunkt des Beschlusses ihrer Vollversammlung über den betreffenden Wirtschaftsplan vorliegenden Tatsachen bis zum Schluss der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung prozessordnungsgemäß vorgebracht hat.
Rz. 23
Die Bemessung des Mittelbedarfs zum Ausgleich konjunktur- und branchenbedingter Beitragsschwankungen schöpft jedoch naheliegende Möglichkeiten der Informationsgewinnung nicht aus. Mit der Bildung einer Rücklage für konjunktur- und branchenbedingte Beitragsausfälle möchte die Beklagte das Risiko abdecken, dass die Beitragserhebung aufgrund ihrer Beitragsordnung für das Jahr 2016 weniger Einnahmen erbringt, als sie nach ihrem Wirtschaftsplan für ihre Tätigkeit im Wirtschaftsjahr 2016 für erforderlich erachtet. Es liegt nahe, bei der Bemessung dieses Risikos an die Abweichungen der tatsächlichen Einnahmen anzuknüpfen, die sich in vergangenen Wirtschaftsperioden von den für das jeweilige Wirtschaftsjahr erwarteten Beitragseinnahmen ergeben haben. Diese Abweichungen eignen sich zur realitätsgerechten Schätzung der Beitragseinnahmen im zu beschließenden Wirtschaftsplan, soweit sich ihre konjunkturellen und branchenspezifischen Gründe voraussichtlich auf das kommende Wirtschaftsjahr übertragen lassen. Demgegenüber ist der von der Beklagten gewählte Ansatz für eine realitätsgerechte Prognose künftiger konjunkturbedingter Beitragsausfälle ungeeignet. Die von ihr herangezogene Differenz des geringsten Wertes zum Durchschnittswert der tatsächlichen Beitragseinnahmen wird schon aufgrund der in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsenen Wirtschaftsleistung und der Geldentwertung umso größer, je länger der Betrachtungszeitraum in die Vergangenheit ausgedehnt wird. Danach hängt die Höhe des drohenden Einnahmeausfalls wesentlich von der Länge des Betrachtungszeitraums und allenfalls sehr eingeschränkt von konjunkturellen und branchenbedingten Ereignissen ab. Das wird der Anforderung einer realitätsgerechten Bedarfsprognose nicht gerecht.
Rz. 24
Auch bei der Bemessung des Mittelbedarfs für die Absicherung des Risikos des Ausfalls großer Beitragszahler hat die Beklagte naheliegende Möglichkeiten der Informationsgewinnung nicht ausgeschöpft, sondern pauschal auf bestehende Erfahrungswerte verwiesen, ohne sicherzustellen, dass konjunkturbedingte, bereits im vorigen Ansatz berücksichtigte Ausfälle nicht nochmals und damit doppelt kalkuliert wurden.
Rz. 25
Darüber hinaus ist die angesetzte Höhe der Ausgleichsrücklage unangemessen, weil sie nach dem Dreifachen des prognostizierten Beitragsausfalls berechnet wurde. Die Höhe der Rücklage hätte nur mit der Prognose gerechtfertigt werden können, dass es im jeweiligen Haushaltsjahr realistischer Weise zu Ausfällen von Beitragszahlungen in der angenommenen Gesamthöhe kommen könne (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 2015 - 10 C 6.15 - BVerwGE 153, 315 Rn. 20). Den prognostizierten Ausfall zu verdreifachen, nimmt einen Beitragsausfall in den beiden Folgejahren vorweg, der wegen des haushaltsrechtlichen Grundsatzes der Jährlichkeit der Haushalts- und Wirtschaftsplanung noch nicht zu prognostizieren war und nach § 3 Abs. 2 IHKG nicht auf die Beitragszahler des verfahrensgegenständlichen Wirtschaftsjahres umgelegt werden durfte.
Rz. 26
2. Die Entscheidung der Beklagten, im Jahr 2016 ein festgesetztes Kapital von 4 000 000 € beizubehalten, war rechtswidrig, weil die Entscheidung, das festgesetzte Kapital 2013 um 2 500 000 € zu erhöhen, ihrerseits rechtswidrig war. Sie stellt eine unzulässige Bildung von Vermögen dar (a). Auf die Frage, ob die Erhöhung des festgesetzten Kapitals darüber hinaus auch gegen Bilanzierungsvorschriften verstieß, kommt es danach nicht mehr an (b).
Rz. 27
a) Die Entscheidung der Beklagten, die Nettoposition festgesetzten Kapitals um 2 500 000 € zu erhöhen, stellt - unabhängig davon, ob dies durch einen Gewinnverwendungsbeschluss oder einen Beschluss über einen Passivtausch erfolgte - eine unzulässige Vermögensbildung dar.
Rz. 28
Ein Jahresüberschuss ist wegen des aus § 3 Abs. 2 Satz 1 IHKG folgenden Verbots, Vermögen zu bilden, grundsätzlich unverzüglich zur Finanzierung der Aufgabenerfüllung und damit zur Minderung des von den Kammerzugehörigen durch Beiträge zu deckenden Mittelbedarfs der Kammern zu verwenden. Denn er stellt eine Möglichkeit dar, deren Kosten anderweitig zu decken. Die Entscheidung, einen Jahresüberschuss zur Erhöhung des festgesetzten Kapitals zu verwenden, stellt demgegenüber stets die Bildung von Vermögen dar.
Rz. 29
Gleiches gilt für die Erhöhung des festgesetzten Kapitals durch Passivtausch. Ein Passivtausch verringert eine Passivposition der Bilanz um den Betrag, um den er eine andere Passivposition derselben Bilanz erhöht. Mit der Verringerung einer Passivposition um einen bestimmten Betrag dokumentiert die Kammer, dass sie diese Mittel nicht mehr für die Erfüllung der betreffenden Aufgabe benötigt. Nach § 3 Abs. 2 Satz 1 IHKG ist der frei gewordene Betrag unverzüglich zur Minderung des von den Kammerzugehörigen durch Beiträge zu deckenden Mittelbedarfs der Kammer einzusetzen. Mit der Entscheidung, ihn stattdessen zur Erhöhung des festgesetzten Kapitals (Nettoposition) zu verwenden, steht er für eine Minderung des von den Kammerzugehörigen durch Beiträge zu deckenden Mittelbedarfs der Kammer nicht mehr zur Verfügung.
Rz. 30
Die Erhöhung des festgesetzten Kapitals der Beklagten um 2 500 000 € war nicht durch einen sachlichen Grund im Rahmen zulässiger Kammertätigkeit gedeckt. Einen solchen stellt insbesondere der Wunsch der Beklagten, den Wert ihres langfristig gebundenen Vermögens in der Nettoposition festgesetzten Kapitals abzubilden, nicht dar. Ein sachlicher Grund für die Erhöhung der Nettoposition müsste geeignet sein, die Aufgabenerfüllung zu fördern. Das ist vorliegend nicht festgestellt oder sonst ersichtlich. Insbesondere liegt kein sachlicher Grund darin, langfristig gebundenes Anlagevermögen durch Erhöhung des festgesetzten Kapitals dauerhaft in seinem Bestand zu sichern.
Rz. 31
Sowenig die Kammern Vermögen bilden dürfen, sowenig dürfen sie es um seiner selbst willen bewahren. Auch das Anlagevermögen dient der Aufgabenerfüllung; auch sein Umfang muss durch einen sachlichen, aufgabenbezogenen Zweck gerechtfertigt sein. Das Anliegen, Vorkehrungen für einen noch nicht konkret absehbaren Finanzbedarf künftiger Jahre zu treffen, reicht dazu nicht aus. Ihm kann durch Rückstellungen mit zulässigem Zweck und Umfang und durch angemessene Rücklagen entsprochen werden. Dagegen legitimiert es weder eine Erhöhung der Nettoposition noch das Beibehalten ihrer unzulässigen Erhöhung.
Rz. 32
b) Ob die Erhöhung des festgesetzten Kapitals um 2 500 000 € darüber hinaus auch gegen Bilanzrecht verstieß, kann danach ebenso dahinstehen wie die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Verstöße gegen Bilanzierungsvorschriften, an die die Kammer gemäß § 3 Abs. 7a IHKG und §§ 238 ff. HGB gebunden ist, die Rechtmäßigkeit der von ihr erstellten Wirtschaftspläne und der darauf gegründeten Beitragserhebungen beeinflussen.
Rz. 33
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
DStR 2020, 14 |
BVerwGE 2020, 259 |
NZG 2020, 6 |
AnwBl 2020, 146 |
DÖV 2020, 890 |
GewArch 2020, 278 |
DVBl. 2020, 3 |
ImmWert 2020, 39 |
NdsVBl. 2021, 14 |