Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit von Maßnahmen zum Schutz vor COVID-19 hatte der Verordnungsgeber angesichts der fehlenden Erfahrungen mit dem SARS-CoV-2-Virus und den Wirkungen von Schutzmaßnahmen einen tatsächlichen Einschätzungsspielraum, der sich darauf bezog, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren. Ein solcher Spielraum hat jedoch Grenzen. Die Einschätzung des Verordnungsgebers muss auf ausreichend tragfähigen Grundlagen beruhen. Das Ergebnis der Prognose muss einleuchtend begründet und damit plausibel sein. Das unterliegt der gerichtlichen Überprüfung. Maßgebend ist die Erkenntnislage bei Erlass der Verordnung (ex-ante-Sicht).
2. Wird die Annahme, die gewählte Maßnahme erreiche den Zweck der Schutzverordnung wirksamer als eine in Betracht kommende weniger belastende Alternative, im gerichtlichen Verfahren nicht plausibel gemacht, kann das Gericht nicht zur Feststellung gelangen, dass die verordnete Schutzmaßnahme erforderlich und damit verhältnismäßig ist. Das geht zu Lasten des Verordnungsgebers.
3. Das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien ohne Kontakt zu hausstandsfremden Personen konnte nur erforderlich sein, wenn es über ein Verbot solcher Kontakte hinaus geeignet war, einen relevanten Beitrag zur Verhinderung hausstandsübergreifender Kontakte zu leisten. Zu berücksichtigen war hierbei, dass das Ziel, physische Kontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren (§ 4 Abs. 1 BayIfSMV), auch durch die Ausgangsbeschränkung mit den zugelassenen Gründen für das Verlassen der Wohnung nicht vollständig zu erreichen war.
4. Auch am Beginn der Pandemie konnte das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien nur verhältnismäßig im engeren Sinne sein, wenn es über eine Kontaktbeschränkung hinaus einen erheblichen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten konnte, physische Kontakte zu reduzieren und dadurch die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern.
Verfahrensgang
Bayerischer VGH (Beschluss vom 04.10.2021; Aktenzeichen 20 N 20.767) |
Tenor
Die Revision des Antragsgegners gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die Antragsteller wenden sich gegen eine durch die COVID-19-Pandemie veranlasste Ausgangsbeschränkung.
Rz. 2
Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege ordnete in § 4 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung - BayIfSMV) vom 27. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 158) in der Fassung der Verordnung zur Änderung der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 31. März 2020 (BayMBl. 2020 Nr. 162; GVBl. S. 194) - im Folgenden: BayIfSMV - eine Ausgangsbeschränkung an. Die Vorschrift lautete wie folgt:
§ 4
Vorläufige Ausgangsbeschränkung
(1) Jeder wird angehalten, die physischen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren. Wo immer möglich, ist ein Mindestabstand zwischen zwei Personen von 1,5 m einzuhalten.
(2) Das Verlassen der eigenen Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt.
(3) Triftige Gründe im Sinn des Abs. 2 sind insbesondere:
1. die Ausübung beruflicher Tätigkeiten,
2. die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen, der Besuch bei Angehörigen therapeutischer Berufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist, sowie Blutspenden,
3. Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs (...); nicht zur Deckung des täglichen Bedarfs gehört die Inanspruchnahme sonstiger Dienstleistungen wie etwa der Besuch von Friseurbetrieben,
4. der Besuch bei Lebenspartnern, Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen (außerhalb von Einrichtungen) und die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts im jeweiligen privaten Bereich,
5. die Begleitung von unterstützungsbedürftigen Personen und Minderjährigen,
6. die Begleitung Sterbender sowie Beerdigungen im engsten Familienkreis,
7. Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung und
8. Handlungen zur Versorgung von Tieren.
(4) Die Polizei ist angehalten, die Einhaltung der Ausgangsbeschränkung zu kontrollieren. Im Falle einer Kontrolle sind die triftigen Gründe durch den Betroffenen glaubhaft zu machen.
Rz. 3
Die Vorschrift galt vom 1. bis 19. April 2020 (§ 2 Satz 1 der Änderungsverordnung, § 7 Abs. 1 BayIfSMV).
Rz. 4
Die Antragsteller wohnen in Bayern. Sie haben am 10. April 2020 beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof einen Normenkontrollantrag gestellt. Nach dem Außerkrafttreten der Vorschrift haben sie beantragt, festzustellen, dass § 4 Abs. 2 BayIfSMV unwirksam war.
Rz. 5
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch Beschluss vom 4. Oktober 2021 festgestellt, dass § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV unwirksam war. Zur Begründung hat er ausgeführt: Der Normenkontrollantrag sei zulässig und begründet. § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV habe gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Für die Regelung habe zwar mit § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 20. Juli 2000 in der Fassung des Gesetzes vom 27. März 2020 eine verfassungskonforme Ermächtigungsgrundlage bestanden; deren Tatbestandsvoraussetzungen seien erfüllt gewesen. In ihrer konkreten Ausgestaltung sei die Ausgangsbeschränkung jedoch keine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gewesen. Der Verordnungsgeber habe den Ausnahmetatbestand der triftigen Gründe in § 4 Abs. 3 BayIfSMV so eng gefasst, dass die Regelung im Ergebnis unverhältnismäßig gewesen sei. Ihm stehe zwar grundsätzlich auch im Rahmen des § 32 Satz 1 IfSG ein Rechtsetzungsermessen zu. Er unterliege aber im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Ob er bei der Auswahl der Maßnahmen wegen Ungewissheiten hinsichtlich ihrer Wirkungen über einen gewissen Spielraum verfüge, sei eine Frage des Einzelfalls. Nach diesen Maßstäben stelle sich die streitige Ausgangsbeschränkung als unverhältnismäßig dar. Sie sei zwar grundsätzlich geeignet gewesen, den Gesetzeszweck nach § 1 Abs. 1 Alt. 3 IfSG zu erfüllen und die Übertragung des Coronavirus jedenfalls zu hemmen. Durch die Ausgangsbeschränkung komme es zur Kontaktreduzierung im öffentlichen und privaten Raum. Als mildere Maßnahme sei jedoch eine Beschränkung des Kontakts im öffentlichen und privaten Raum in Betracht gekommen. Die Auslegung von § 4 Abs. 3 BayIfSMV ergebe, dass das kontaktlose Verweilen im Freien außerhalb der Wohnung kein triftiger Grund zum Verlassen der Wohnung sei. Nach dem Vortrag des Antragsgegners bleibe offen, warum das Verweilen im Freien allein oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes, das infektiologisch unbedeutend sei, verboten gewesen sei. Sollte in dem Verweilen in der Öffentlichkeit eine Gefahr für die Bildung von Ansammlungen gesehen worden sein, weil sich um den Verweilenden sozusagen als Kristallisationspunkt Ansammlungen von Menschen bilden könnten, so unterstelle diese Sichtweise ein rechtswidriges Verhalten der Bürger und setze es sogar voraus. Dass ein solches Verhalten zu jenem Zeitpunkt in relevanter Anzahl anzunehmen gewesen wäre, sei nicht ersichtlich. Der Antragsgegner habe hierzu auch nichts vorgetragen. Der Senat könne daher bereits die Erforderlichkeit der Ausgangsbeschränkung in Bezug auf das Verlassen der Wohnung mit dem Ziel des Verweilens alleine oder in Begleitung von Mitgliedern des Hausstands in der Öffentlichkeit nicht erkennen. Letztlich stelle sich die Ausgangsbeschränkung auch als unangemessen dar. Es sei nicht ersichtlich, warum die Gefahr der Bildung von Menschenansammlungen eine landesweite Ausgangsbeschränkung rechtfertigen sollte, zumal diese Gefahr lediglich an stark frequentierten Lokalitäten bestanden haben dürfte. Hier wären regionale und örtliche Maßnahmen das mildere Mittel gewesen. Der Antragsgegner könne sich nicht darauf berufen, ihm sei bei der Auswahl der Maßnahme ein Einschätzungsspielraum zuzubilligen. Das Übermaßverbot sei über das Merkmal der Notwendigkeit in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG einfachgesetzlich und wegen der mit der Ausgangsbeschränkung verbundenen Grundrechtseingriffe verfassungsrechtlich zu beachten.
Rz. 6
Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgerichtshof wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision macht der Antragsgegner geltend: Der angefochtene Beschluss beruhe auf einer Verletzung von § 28 Abs. 1, § 32 IfSG, Art. 35 BayVwVfG, Art. 80 Abs. 1 und 4 GG und dem bundesverfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs sei die vorläufige Ausgangsbeschränkung eine notwendige Schutzmaßnahme im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar. Die vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegte Kontrolldichte bei der Überprüfung des Verordnungsermessens und die Nichtberücksichtigung eines Einschätzungsspielraums des Verordnungsgebers verletzten Bundesrecht. Der Spielraum des Verordnungsgebers sei auf allen Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung relevant. Er beziehe sich insbesondere auf die Einschätzung der Gefahrenlage und die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen. Das Bundesverfassungsgericht habe für die im Kontext der so genannten Bundesnotbremse angeordneten Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen keinen über die Vertretbarkeitskontrolle hinausgehenden Kontrollmaßstab für angezeigt erachtet. Entsprechendes müsse für Ausgangsbeschränkungen im Rahmen von Verordnungen gelten. § 32 Satz 1 in Verbindung mit der Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG impliziere ein Verordnungsermessen hinsichtlich Art und Umfang der Schutzmaßnahmen. Die Genese von § 32 Satz 1 und § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG und die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs sprächen für einen weiten Spielraum des Verordnungsgebers bei der Auswahl der Schutzmaßnahmen. Die Situation der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 sei durch eine besondere Dynamik und Komplexität des Infektionsgeschehens, Unsicherheiten hinsichtlich der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen sowie das Eingreifen zugunsten hochrangiger Rechtsgüter geprägt gewesen. Zudem habe der Verordnungsgeber die in unterschiedliche Richtungen weisenden Freiheits- und Schutzbedarfe der verschiedenen Grundrechtsträger zu gewichten und abzuwägen. Dabei komme ihm ein Wertungsspielraum zu. Die vorläufige Ausgangsbeschränkung halte einer Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle stand. Der Verwaltungsgerichtshof habe ihre Erforderlichkeit nicht verneinen dürfen. Die Einschätzung des Verordnungsgebers, dass die Ausgangsbeschränkung einen wirksameren Beitrag zur Reduzierung beabsichtigter und unbeabsichtigter Sozialkontakte im privaten und öffentlichen Raum leiste und dadurch Infektionsketten wirksamer unterbreche als eine schlichte Kontaktbeschränkung, sei vertretbar gewesen. Das Plus an Wirksamkeit der Ausgangsbeschränkung gegenüber der Kontaktbeschränkung sei auch in der Rechtsprechung anerkannt worden. Wäre ein längeres Verweilen im Freien zulässig gewesen, hätte dies wegen der verstärkt zu erwartenden sozialen Kontakte kein infektiologisch unbedeutendes Verhalten dargestellt. Dass im beginnenden Frühsommer die Gefahr von Ansammlungen im Freien bestehe, sei ein allgemeiner Erfahrungssatz. Eine Kontaktbeschränkung wäre im Vergleich zur Ausgangsbeschränkung mit einer gesteigerten Mobilität der Bevölkerung einhergegangen. Die Einhaltung der Ausgangsbeschränkung lasse sich effektiver und grundrechtsschonender kontrollieren als eine Kontaktbeschränkung für private Räume. Regional differenzierte Beschränkungen seien im März 2020 nicht in Betracht gekommen, weil kein regional differenziert beherrschbares Infektionsgeschehen vorgelegen habe. Soweit der Verwaltungsgerichtshof die Angemessenheit der Ausgangsbeschränkung verneint habe, beruhe dies auf einem fehlerhaften Prüfungsmaßstab. Er habe die Eingriffsintensität der Ausgangsbeschränkung nicht - wie geboten - ins Verhältnis zum Gewicht und zur Dringlichkeit der sie rechtfertigenden Gründe gesetzt. Den Grundrechtseingriffen hätten mit dem Lebens- und Gesundheitsschutz und der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung gegenübergestanden, zu deren Wahrung dringlicher Handlungsbedarf bestanden habe. Der Verordnungsgeber habe mit der angeordneten Maßnahme auf ein dynamisches und bedrohliches Infektionsgeschehen reagiert, das in Bayern eine äußerste Gefahrenlage begründet habe. Danach erweise sich die der Maßnahme zugrundeliegende Interessenabwägung mindestens als vertretbar.
Rz. 7
Die Antragsteller verteidigen den angefochtenen Beschluss in seinen entscheidungstragenden Teilen.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Der Senat entscheidet über die Revision auf der Grundlage der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2022. Der Schriftsatz des Antragsgegners vom 15. November 2022 gibt keinen Anlass, die mündliche Verhandlung gemäß § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO wiederzueröffnen. Er dient - wie der Antragsgegner selbst darlegt - lediglich der schriftlichen Zusammenfassung seines Vortrags in der mündlichen Verhandlung.
Rz. 9
Die zulässige Revision des Antragsgegners ist nicht begründet. Der angefochtene Beschluss beruht nicht auf der Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO). Der Normenkontrollantrag ist zulässig (1.). Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, die Ausgangsbeschränkung in § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV sei nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig gewesen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (2.). Soweit er angenommen hat, die Ausgangsbeschränkung stelle sich auch als unangemessen dar, ist der Beschluss nur im Ergebnis mit Bundesrecht vereinbar (3.). Die Feststellung der Unwirksamkeit von § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV auf einen Teil der Vorschrift zu beschränken, war bundesrechtlich nicht geboten (4.).
Rz. 10
1. Der gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO statthafte Normenkontrollantrag ist zulässig. Dass die angegriffene Rechtsvorschrift außer Kraft getreten ist, hat ihn nicht unzulässig gemacht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. November 2022 - 3 CN 1.21 - Rn. 8 ff.). Die Antragsteller haben den Normenkontrollantrag während der Geltungsdauer des § 4 BayIfSMV gestellt. Sie können - wie geschehen - geltend machen, durch die angegriffene Ausgangsbeschränkung in ihrer durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheit der Person und in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt worden zu sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 240 ff.). Sie haben angesichts der kurzen Geltungsdauer der Vorschrift und des durch die Ausgangsbeschränkung bewirkten gewichtigen Grundrechtseingriffs ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV unwirksam war.
Rz. 11
2. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Unwirksamkeit der Ausgangsbeschränkung in § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV festgestellt, weil der Antragsgegner die triftigen Gründe, die zum Verlassen der eigenen Wohnung berechtigten, so eng gefasst habe, dass die Beschränkung des Ausgangs im Ergebnis unverhältnismäßig gewesen sei. Von der Beschränkung sei auch das Verweilen im Freien alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes erfasst gewesen. Dass eine solche Beschränkung zur Hemmung der Übertragung des Coronavirus erforderlich und damit im Sinne von § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG notwendig gewesen sei, sei auf der Grundlage des Vortrags des Antragsgegners nicht zu erkennen. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 12
a) Gemäß § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045) i. d. F. des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587) - im Folgenden: IfSG - erlässt der Verordnungsgeber unter den in § 28 Abs. 1 IfSG genannten Voraussetzungen die notwendigen Schutzmaßnahmen in Form von Geboten und Verboten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung der übertragbaren Krankheit erforderlich ist. Danach müssen die Maßnahmen an dem Ziel ausgerichtet sein, die Verbreitung der Krankheit zu verhindern, und sie müssen verhältnismäßig sein, das heißt geeignet und erforderlich, den Zweck zu erreichen, sowie verhältnismäßig im engeren Sinne. Sind die Voraussetzungen erfüllt, handelt es sich um notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne der Ermächtigungsnormen. Innerhalb dieser durch § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG und das Verhältnismäßigkeitsgebot gezogenen Grenzen verfügt der Verordnungsgeber beim Erlass der Schutzverordnungen über ein normatives Ermessen (zum Ermessen des Verordnungsgebers vgl. BVerwG, Urteile vom 26. April 2006 - 6 C 19.05 - BVerwGE 125, 384 Rn. 16, vom 15. Juni 2011 - 9 C 5.10 - Buchholz 401.84 Benutzungsgebühren Nr. 110 Rn. 12 und vom 26. November 2015 - 7 CN 1.14 - Buchholz 445.4 § 51 WHG Nr. 2 Rn. 20). Ob die Grenzen dieses Ermessens überschritten sind, unterliegt der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Gegenstand der Kontrolle ist das Ergebnis des Rechtsetzungsverfahrens, also die Vorschrift in ihrer regelnden Wirkung (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. April 2006 - 6 C 19.05 - BVerwGE 125, 384 Rn. 16, vom 26. November 2014 - 6 CN 1.13 - BVerwGE 150, 327 Rn. 60 und vom 18. Dezember 2014 - 4 C 35.13 - Buchholz 442.42 § 27a LuftVO Nr. 8 Rn. 98). Auf die Motive desjenigen, der an ihrem Erlass mitgewirkt hat, und auf den der Verordnung zugrundeliegenden Abwägungsvorgang kommt es nicht an; das Infektionsschutzgesetz enthält insoweit keine Vorgaben. Unverhältnismäßig kann ein verordnetes Ge- oder Verbot auch sein, wenn das normative Ermessen "weit" ist. Maßgebend sind die Anforderungen, die sich in der konkreten Entscheidungssituation aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben.
Rz. 13
Der Verwaltungsgerichtshof hat das normative Ermessen, das dem Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege bei Erlass der Ausgangsbeschränkung in § 4 BayIfSMV zukam, nicht verkannt. Er ist zutreffend davon ausgegangen, dass nur die Einhaltung der Grenzen des normativen Ermessens zu überprüfen sei und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit das Ermessen begrenze (vgl. BA Rn. 63 - 66). Soweit er angenommen hat, Verordnungen auf Grund des § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG übernähmen Funktion und Regelungsgehalt eines Verwaltungsakts und es liege nahe, "sie derselben Kontrollintensität auszusetzen wie Verwaltungsakte" (BA Rn. 69), beruht die Entscheidung hierauf nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat seine nachfolgenden, die zitierte Erwägung nicht konkretisierenden Ausführungen dahingehend zusammengefasst, dass auf §§ 32 Satz 1, 28 IfSG gestützte Maßnahmen einer gerichtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlägen; ob dem Verordnungsgeber bei der Auswahl der Maßnahmen wegen der unbekannten Wirkung der Maßnahmen ein gewisser Spielraum einzuräumen sei, könne nicht generell beantwortet werden, sondern sei eine Frage der konkreten Maßnahme und der Umstände (BA Rn. 74). Entscheidungstragend sind danach allein die nachfolgenden, auf die Ausgangsbeschränkung in ihrer konkreten Ausgestaltung bezogenen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit (BA Rn. 75 ff.). Unabhängig hiervon liegt die vom Antragsgegner gerügte Verletzung von Art. 35 BayVwVfG nicht vor. Als Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift hat der Verwaltungsgerichtshof die Ausgangsbeschränkung in § 4 BayIfSMV nicht qualifiziert.
Rz. 14
b) Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, die Ausgangsbeschränkung in § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV sei zwar geeignet gewesen, die Übertragung des Coronavirus jedenfalls zu hemmen und damit ihren mit der gesetzlichen Ermächtigung vereinbaren Zweck zu erreichen (BA Rn. 76); sie sei hierfür aber nicht erforderlich gewesen (BA Rn. 77 - 79). Das ist ausgehend von der Auslegung des Landesrechts und den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs mit Bundesrecht vereinbar.
Rz. 15
aa) An der Erforderlichkeit einer Regelung fehlt es, wenn dem Verordnungsgeber eine andere, gleich wirksame Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Zwecks zur Verfügung steht, die weniger in die Grundrechte der Betroffenen eingreift und Dritte und die Allgemeinheit nicht stärker belastet. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahme zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 203 m. w. N.; BVerwG, Urteile vom 25. Oktober 2017 - 6 C 44.16 - BVerwGE 160, 157 Rn. 26 und vom 28. März 2018 - 8 C 9.17 - BVerwGE 161, 334 Rn. 21).
Rz. 16
(1) Als milderes Mittel kamen hier - wie der Verwaltungsgerichtshof zu Recht angenommen hat - Beschränkungen des Kontakts im öffentlichen und privaten Raum in Betracht. Sie hätten die Adressaten weniger belastet als die angegriffene Ausgangsbeschränkung. Der Verwaltungsgerichtshof hat § 4 Abs. 3 Nr. 7 BayIfSMV dahin ausgelegt, dass zwar das Verlassen der eigenen Wohnung für Sport und Bewegung, aber nicht für bloßes Verweilen an der frischen Luft erlaubt sei (BA Rn. 77). Das Verlassen der Wohnung, um an einem Ort außerhalb der eigenen Wohnung zu verweilen - also z. B. um auf einer Parkbank ein Buch zu lesen -, sei nicht von einem triftigen Grund im Sinne der Regelung, auch nicht von einem ungeschriebenen, umfasst. Um ein kurzes Erholen im Rahmen von Sport und Bewegung ging es insoweit nicht. Diese Auslegung des irrevisiblen Landesrechts ist für das Revisionsverfahren verbindlich (§ 137 Abs. 1, § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO). Das Verweilen im Freien im Wege einer verfassungskonformen Auslegung in die triftigen Gründe einzubeziehen, musste der Verwaltungsgerichtshof nicht in Betracht ziehen. Ein Verlassen der Wohnung, um im Freien zu verweilen, sollte - wie das Vorbringen des Antragsgegners im Normenkontrollverfahren bestätigt - nach der Zielsetzung der Verordnung gerade nicht zulässig sein. Bei einer Beschränkung lediglich des Kontakts, aber nicht des Ausgangs wäre es zulässig gewesen, die eigene Wohnung zu verlassen, um alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstands im Freien zu verweilen. Eine solche Kontaktbeschränkung hätte auch nicht in Rechte Dritter eingegriffen oder die Allgemeinheit belastet.
Rz. 17
(2) Bei der Beurteilung der Erforderlichkeit von Maßnahmen zum Schutz vor COVID-19 hatte der Verordnungsgeber angesichts der fehlenden Erfahrungen mit dem SARS-CoV-2-Virus und den Wirkungen von Schutzmaßnahmen einen tatsächlichen Einschätzungsspielraum, der sich darauf bezog, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 204). Ein solcher Spielraum hat jedoch Grenzen. Die Einschätzung des Verordnungsgebers muss auf ausreichend tragfähigen Grundlagen beruhen. Das Ergebnis der Prognose muss einleuchtend begründet und damit plausibel sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. Juli 2002 - 6 CN 8.01 - BVerwGE 116, 347 ≪352≫ = juris Rn. 35, vom 29. Oktober 2009 - 7 C 22.08 - Buchholz 400 IFG Nr. 1 Rn. 20, vom 11. November 2015 - 8 CN 2.14 - BVerwGE 153, 183 Rn. 36 und vom 28. Mai 2021 - 7 C 2.20 - BVerwGE 172, 365 Rn. 37 m. w. N.; Beschluss vom 21. Dezember 2021 - 9 B 6.21 - juris Rn. 16). Das unterliegt der gerichtlichen Überprüfung. Maßgebend ist die Erkenntnislage bei Erlass der Verordnung (ex-ante-Sicht). Im gerichtlichen Verfahren obliegt es dem Verordnungsgeber, Tatsachen und Erwägungen vorzutragen, die das Ergebnis seiner Prognose plausibel machen. Das Gericht hat nicht eigene prognostische Erwägungen anzustellen, sondern die Rechtmäßigkeit der Prognose des Verordnungsgebers zu überprüfen. Wird die Annahme, die gewählte Maßnahme erreiche den Zweck der Schutzverordnung wirksamer als eine in Betracht kommende weniger belastende Alternative, im gerichtlichen Verfahren nicht plausibel gemacht, kann das Gericht nicht zur Feststellung gelangen, dass die verordnete Schutzmaßnahme erforderlich und damit verhältnismäßig ist. Das geht zu Lasten des Verordnungsgebers.
Rz. 18
Aus dem Erfordernis, dass die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung in jeder Hinsicht eindeutig feststehen muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 203), ergibt sich nichts Anderes. Dass die Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahme "in jeder Hinsicht" eindeutig feststehen muss, bedeutet, dass nicht bereits ein einzelner Vorzug einer anderen Lösung gegenüber der gewählten zu deren Verfassungswidrigkeit führt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Dezember 1968 - 1 BvL 5/64 u. a. - BVerfGE 25, 1 ≪19 f.≫, vom 16. März 1971 - 1 BvR 52/66 u. a. - BVerfGE 30, 292 ≪319≫ und vom 14. November 1989 - 1 BvL 14/85 u. a. - BVerfGE 81, 70 ≪90 f.≫). Der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber muss die mildere Maßnahme nur wählen, wenn deren Gleichwertigkeit "eindeutig feststeht"; danach darf die Erforderlichkeit des gewählten Mittels nicht schon deshalb verneint werden, weil unsicher ist, ob es besser wirkt als das weniger belastende Mittel. Unsicherheiten der Wirkungsprognose gehen nicht ohne Weiteres zu Lasten des Gesetz- und auch nicht des Verordnungsgebers. Bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen dürfen tatsächliche Unsicherheiten aber auch nicht ohne Weiteres zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich hingewiesen. Dient der Eingriff dem Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsrechtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt (BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 204). Ob der Spielraum des Verordnungsgebers bei der Prognose der Wirkungen von Schutzmaßnahmen im Sinne von § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG ebenso weit reicht wie derjenige des Gesetzgebers bei der Prognose der Eignung der von ihm gewählten Maßnahmen, kann offenbleiben. Auch die Prognose des Verordnungsgebers muss jedenfalls vertretbar sein. Zu dieser Feststellung kann das Gericht nur gelangen, wenn ihr Ergebnis einleuchtend begründet und damit aus ex-ante-Sicht plausibel ist.
Rz. 19
Das Bayerische Ministerium für Gesundheit und Pflege musste allerdings nicht bereits bei Erlass der angegriffenen Ausgangsbeschränkung begründen, warum Beschränkungen des Kontakts im öffentlichen und privaten Raum die Weiterverbreitung von COVID-19 nach seiner Auffassung nicht ebenso wirksam hemmen würden wie die angegriffene Ausgangsbeschränkung; das Infektionsschutzgesetz verlangte eine solche Begründung nicht. Rechtsverordnungen, die nach § 32 i. V. m. § 28 Abs. 1 IfSG erlassen werden, müssen erst seit Einfügung des § 28a Abs. 5 IfSG durch das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397) mit einer allgemeinen Begründung versehen werden. Der gerichtlichen Kontrolle sind daher alle Erwägungen des Antragsgegners zugrunde zu legen, die er zu den bei Erlass der Verordnung vorliegenden Tatsachen bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs über den Normenkontrollantrag - die Entscheidung ist ohne mündliche Verhandlung ergangen - prozessordnungsgemäß vorgebracht hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 2020 - 8 C 9.19 - BVerwGE 167, 259 Rn. 22).
Rz. 20
(3) Von diesen Anforderungen an die Erforderlichkeit einer Schutzmaßnahme und an die Prognose ihrer Wirkungen ist auch der Verwaltungsgerichtshof ausgegangen. Er hat die Unwirksamkeit der Ausgangsbeschränkung in § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV festgestellt, weil er ausgehend von dem Vortrag des Antragsgegners ihre Erforderlichkeit in Bezug auf das Verlassen der Wohnung mit dem Ziel des Verweilens alleine oder in Begleitung von Mitgliedern des eigenen Hausstands in der Öffentlichkeit nicht zu erkennen vermochte (BA Rn. 79).
Rz. 21
bb) Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, im Vortrag des Antragsgegners sei offengeblieben, warum ein Verhalten, welches für sich gesehen infektiologisch unbedeutend sei, nämlich das Verweilen alleine oder mit den Personen seines Haushalts im Freien außerhalb der eigenen Wohnung, der Ausgangsbeschränkung unterworfen worden sei (BA Rn. 79). Dass der Verwaltungsgerichtshof ein solches Verweilen als infektiologisch unbedeutend eingestuft hat, ist eine Würdigung von Tatsachen, die der Antragsgegner nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen hat; sie ist daher für das Revisionsverfahren verbindlich (§ 137 Abs. 2 VwGO). Unabhängig hiervon ist nicht ersichtlich, inwiefern durch bloßes Verweilen im Freien alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstands eine Infektionsgefahr entstehen sollte. Dass Ansammlungen im Freien um die Verweilenden oder Kontakte auf dem Weg zum Ort des Verweilens infektiologisch unbedeutend seien, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht angenommen ("für sich gesehen").
Rz. 22
Der Verwaltungsgerichtshof hat außerdem festgestellt, es sei nicht ersichtlich, dass sich um den Verweilenden sozusagen als Kristallisationspunkt Ansammlungen von Menschen bilden könnten. Hierfür müsse ein rechtswidriges Verhalten der Bürger unterstellt werden; dass ein solches Verhalten zu jenem Zeitpunkt in relevanter Anzahl anzunehmen gewesen wäre, sei nicht ersichtlich (BA Rn. 79). Das Bundesverwaltungsgericht ist auch hieran gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden. Dass der Verwaltungsgerichtshof insoweit Vorbringen des Antragsgegners übergangen haben könnte, ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Einen der Feststellung widersprechenden allgemeinen Erfahrungssatz zum Verhalten von Menschen im Freien während einer Pandemie und unter Geltung pandemiebedingter Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen gibt es nicht. Soweit der Antragsgegner geltend macht, das Ansammeln wäre nicht rechtswidrig gewesen, weil Ansammlungen in der damals geltenden Verordnung nicht verboten gewesen seien, verkennt er, dass für die Prüfung, ob ein Kontaktverbot ebenso wirksam wie ein Verbot des Ausgangs zum Verweilen im Freien wäre, die Geltung eines solchen Kontaktverbots und damit auch ein Verbot von Ansammlungen zu unterstellen ist. Soweit es um Kontakte im Freien geht, sind besondere Schwierigkeiten bei der Durchsetzung eines solchen Verbots - anders als beim Verbot von Kontakten in privaten Wohnungen - nicht ersichtlich. Die Annahme, für derartige Ansammlungen sei nichts ersichtlich, widerspricht auch nicht anderen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs. Der Verwaltungsgerichtshof hat bei der nachfolgenden Prüfung der Angemessenheit der Ausgangsbeschränkung nicht - wie der Antragsgegner meint - festgestellt, dass die Gefahr von Ansammlungen an stark frequentierten Orten bestanden habe. Er hat die Angemessenheit der Ausgangsbeschränkung verneint, weil er keine Anhaltspunkte für eine landesweite Gefahr der Bildung von Ansammlungen gesehen hat; eine etwaige örtlich begrenzte Gefahr von Ansammlungen reichte nach seiner Auffassung für die Angemessenheit einer landesweiten Ausgangsbeschränkung nicht aus. Mit dem Nachsatz "zumal diese Gefahr lediglich an stark frequentierten Lokalitäten bestanden haben dürfte" (BA Rn. 80), hat er eine solche örtlich begrenzte Gefahr lediglich unterstellt. Anhaltspunkte dafür, dass er die Relevanz der Anzahl etwaiger Ansammlungen um die Verweilenden bundesrechtswidrig beurteilt haben könnte, sind nicht ersichtlich. Eine Kontaktbeschränkung kann dem Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien auch dann zur Zweckerreichung gleichwertig sein, wenn zwar nicht auszuschließen ist, dass sich in einzelnen Fällen um die im Freien Verweilenden Ansammlungen bilden, die Ansammlungen aber im Vergleich zu den Ansammlungen, die aufgrund der zugelassenen Gründe für das Verlassen der Wohnung zu erwarten sind, für die Erreichbarkeit des Ziels ohne Relevanz bleiben.
Rz. 23
Der Verwaltungsgerichtshof hat keine überzogenen Anforderungen an die Darlegungen des Antragsgegners gestellt. Dass das Verlassen der Wohnung auf dem Weg zum Ort des Verweilens an der frischen Luft - wie das Verlassen der Wohnung aus den in § 4 Abs. 3 BayIfSMV anerkannten Gründen - zu physischen Kontakten mit nicht dem eigenen Hausstand angehörenden Personen führen kann, bedarf als allgemeinkundige Tatsache nicht der Darlegung. Auch der Verwaltungsgerichtshof hat diese Möglichkeit nicht in Abrede gestellt. Das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien ohne Kontakt zu hausstandsfremden Personen konnte aber nur erforderlich sein, wenn es über ein Verbot solcher Kontakte hinaus geeignet war, einen relevanten Beitrag zur Verhinderung möglicher hausstandsübergreifender Kontakte zu leisten. Zu berücksichtigen war hierbei, dass das Ziel des Antragsgegners, physische Kontakte zu Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren (§ 4 Abs. 1 BayIfSMV), auch durch die Ausgangsbeschränkung mit den zugelassenen Gründen für das Verlassen der Wohnung nicht vollständig zu erreichen war. Bei Vorliegen triftiger Gründe (§ 4 Abs. 3 BayIfSMV) war das Verlassen der eigenen Wohnung erlaubt. Triftige Gründe waren u. a. die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs, Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung, und Handlungen zur Versorgung von Tieren (§ 4 Abs. 3 Nr. 1, 3, 7 und 8 BayIfSMV). Auch ein solches erlaubtes Verlassen der Wohnung war mit Mobilität verbunden und konnte - beabsichtigt oder unbeabsichtigt - zu Kontakten mit Menschen außerhalb des eigenen Hausstandes führen. Die Annahme, das bloße Verweilen im Freien sei anders als das Verlassen der Wohnung aus den zugelassenen Gründen nicht "absolut nötig" (vgl. § 4 Abs. 1 BayIfSMV) und deshalb gesondert von ihnen zu betrachten, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Es konnte nicht zuletzt wegen der pandemiebedingten Beschränkungen der Lebensgestaltung von großer Bedeutung sein, jedenfalls die Wohnung verlassen und an der frischen Luft verweilen zu können, ohne dafür einen weitergehenden Grund angeben und bei Bedarf glaubhaft machen zu müssen (vgl. § 4 Abs. 4 BayIfSMV). Das Verlassen der Wohnung aus den zugelassenen Gründen hat der Verordnungsgeber im Übrigen nicht davon abhängig gemacht, dass es auch im Einzelfall "absolut nötig" war. Im Hinblick darauf hätte der Antragsgegner im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof darlegen müssen, aufgrund welcher Tatsachen und Erwägungen die Annahme gerechtfertigt war, das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien ohne Kontakt zu hausstandsfremden Personen werde über die Kontakte hinaus, die im Rahmen der zugelassenen Gründe für ein Verlassen der Wohnung zu erwarten waren, in einem für die Zielerreichung relevanten Umfang zu weiteren unerwünschten Kontakten führen. Das hat er nicht getan.
Rz. 24
Mit der nächtlichen Ausgangsbeschränkung im Rahmen der "Bundesnotbremse", die das Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet hat (Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223), sind die Wirkungen des Verbots, die Wohnung zum Verweilen im Freien zu verlassen, nicht vergleichbar. Die nächtliche Ausgangsbeschränkung sollte in erster Linie Zusammenkünfte in privaten Wohnungen, insbesondere solche in den Abendstunden und mit Alkoholkonsum, verhindern und verkürzen (a. a. O. Rn. 277 f.). Inwieweit das hier in Rede stehende, vor allem am Tage relevante Verbot angesichts der zugelassenen Gründe für ein Verlassen der Wohnung einen relevanten Beitrag dazu leisten sollte, Zusammenkünfte in privaten Wohnungen zu verhindern, ist nicht ersichtlich.
Rz. 25
Ausgehend hiervon hat der Verwaltungsgerichtshof die Erforderlichkeit des aus § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV folgenden Verbots, die eigene Wohnung für ein Verweilen im Freien zu verlassen, zu Recht verneint.
Rz. 26
3. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Ausgangsbeschränkung in ihrer konkreten Ausgestaltung auch als unangemessen beanstandet (BA Rn. 80). Das ist nur im Ergebnis mit Bundesrecht vereinbar.
Rz. 27
a) Zur Begründung der Unangemessenheit hat der Verwaltungsgerichtshof dargelegt, es sei nicht ersichtlich, warum die Gefahr der Bildung von Ansammlungen eine landesweite Ausgangsbeschränkung rechtfertigen sollte; regionale und örtliche Maßnahmen seien das mildere Mittel (BA Rn. 80). Diese Erwägungen tragen die Verneinung der Angemessenheit nicht.
Rz. 28
Die Angemessenheit und damit die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordern, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 216 m. w. N.). In einer Abwägung sind Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits und die Bedeutung der Maßnahme für die Zweckerreichung andererseits gegenüberzustellen. Angemessen ist eine Maßnahme dann, wenn bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt wird. Dabei ist ein angemessener Ausgleich zwischen dem Eingriffsgewicht der Maßnahme und dem verfolgten Ziel sowie der zu erwartenden Zielerreichung herzustellen (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. September 2022 - 1 BvR 2380/21 u. a. - juris Rn. 119 m. w. N.).
Rz. 29
Der Verwaltungsgerichtshof hat eine solche Abwägung nicht vorgenommen. Seine Ausführungen verhalten sich weder zur Bedeutung des Zwecks der Ausgangsbeschränkung und der zu erwartenden Zweckerreichung noch zum Gewicht des durch die Ausgangsbeschränkung bewirkten Eingriffs in die Grundrechte der Adressaten noch zum Ausgleich der gegenläufigen Interessen. Der Sache nach verneint er nicht die Angemessenheit, sondern aus einem weiteren Grund die Erforderlichkeit der Ausgangsbeschränkung, jedoch ohne - wie geboten - die Plausibilität der Annahme zu überprüfen, regionale und örtliche Maßnahmen seien einer landesweiten Ausgangsbeschränkung nicht gleichwertig gewesen.
Rz. 30
b) Der angefochtene Beschluss stellt sich insoweit jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs standen der mit der Ausgangsbeschränkung in ihrer konkreten Ausgestaltung verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung außer Verhältnis zu der Schwere des mit ihr verbundenen Eingriffs in die Grundrechte der Adressaten.
Rz. 31
aa) Das Verbot, die eigene Wohnung zum Verweilen im Freien zu verlassen, war ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der Adressaten. Es beschränkte die tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 GG) erheblich; je nach Größe der Wohnung konnte der Bewegungsradius auf wenige Quadratmeter begrenzt sein. Auch die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) war erheblich beschränkt. Der Aufenthalt im Freien ist für das Wohlbefinden vieler Menschen von elementarer Bedeutung; wenn Kontakt zu Menschen pandemiebedingt vermieden werden soll, kann der Kontakt zur Natur umso wichtiger werden. Die zugelassenen Gründe für das Verlassen der Wohnung minderten das Gewicht des Verbots jedenfalls für einen nicht geringen Teil der Betroffenen nur wenig. Menschen, die außerhalb der Wohnung keine berufliche Tätigkeit ausübten, kein Tier zu versorgen hatten, ihre Versorgungsgänge für Gegenstände des täglichen Bedarfs auf das Nötigste beschränkten und - aus welchem Grund auch immer - nicht für Sport oder Bewegung ins Freie wollten, dürften an vielen Tagen keinen triftigen Grund im Sinne des § 4 Abs. 3 BayIfSMV gehabt haben, die Wohnung zu verlassen. Das Verbot galt ganztägig und damit auch während der Tagstunden. § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV beschränkte die Freiheit der Betroffenen damit deutlich stärker als die nächtliche Ausgangsbeschränkung im Rahmen der "Bundesnotbremse". Die angegriffene Verordnung war allerdings befristet; § 4 BayIfSMV galt für 19 Tage einschließlich der Osterfeiertage. Für eine Freiheitsbeschränkung ist das ein erheblicher Zeitraum.
Rz. 32
bb) Den durch die Ausgangsbeschränkung bewirkten, schweren Grundrechtseingriffen standen auf der anderen Seite Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung gegenüber. Ziel der Verordnung war es, die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus und der dadurch verursachten bedrohlichen COVID-19-Erkrankung (vgl. § 2 Nr. 3a IfSG) zu verlangsamen und damit die Bevölkerung vor Lebens- und Gesundheitsgefahren zu schützen. Die Rechtsgüter Leben und Gesundheit haben eine überragende Bedeutung (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 231 m. w. N.). Der Verordnungsgeber durfte bei Erlass der Ausgangsbeschränkung davon ausgehen, dass dringlicher Handlungsbedarf bestand. Das Robert Koch-Institut schätzte die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland als hoch, für Risikogruppen als sehr hoch ein (BA Rn. 54). Bayern wies bei Erlass der Ausgangsbeschränkung eine im Bundesvergleich schlechtere epidemiologische Lage auf (BA Rn. 84).
Rz. 33
cc) In die Prüfung der Angemessenheit ist über die Bedeutung des Zwecks hinaus - wie ausgeführt - einzustellen, in welchem Maße er durch die in Rede stehende Maßnahme gefördert wird. Auch am Beginn der Pandemie konnte das Verbot des Ausgangs für ein Verweilen im Freien nur verhältnismäßig im engeren Sinne sein, wenn es über eine Kontaktbeschränkung hinaus einen erheblichen Beitrag zur Erreichung des Ziels leisten konnte, physische Kontakte zu reduzieren und dadurch die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern. Auch das Bundesverfassungsgericht hat zur Begründung dafür, dass die nächtliche Ausgangsbeschränkung im Rahmen der "Bundesnotbremse" dem Verhältnismäßigkeitsgebot im engeren Sinne genügt habe, maßgebend darauf abgestellt, dass der Gesetzgeber ihren Beitrag zur Verminderung des Sterberisikos und des Risikos schwerer Krankheitsverläufe als "quantitativ und qualitativ erheblich" habe veranschlagen dürfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - BVerfGE 159, 223 Rn. 303). Dass die bayerische Ausgangsbeschränkung in ihrer konkreten Ausgestaltung insgesamt einen erheblichen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten konnte, genügte nicht. Das Verweilen im Freien ohne Kontakt zu haushaltsfremden Personen ist - wie der Verwaltungsgerichtshof festgestellt hat - für sich gesehen infektiologisch unbedeutend. Insoweit unterscheidet es sich von der Nutzung bestimmter Einrichtungen und einem hierauf gerichteten Verbot, dessen Gemeinwohlbedeutung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur im Zusammenwirken mit den weiteren Maßnahmen eines Gesamtkonzepts für andere Kontaktorte bewertet werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 971/21 u. a. - BVerfGE 159, 355 Rn. 154 zu Schulschließungen). Das Verweilen im Freien war zugleich - insbesondere unter den pandemiebedingten Beschränkungen des gesamten Lebens - für das Wohlbefinden der Menschen von elementarer Bedeutung. Das Verbot, die Wohnung zu verlassen, um im Freien zu verweilen, konnte deshalb nur gerechtfertigt sein, wenn es selbst einen erheblichen Beitrag zur Zielerreichung leisten konnte. Bei der Abschätzung dieses Beitrags hatte der Verordnungsgeber - wie bei der Prüfung der Erforderlichkeit - einen tatsächlichen Einschätzungsspielraum; der Antragsgegner hätte aber einen solchen erheblichen Beitrag in der Tatsacheninstanz plausibel darlegen müssen. Das hat er nicht getan. Er hat - wie ausgeführt - vor dem Verwaltungsgerichtshof bereits nicht dargelegt, dass das Verbot einen relevanten Beitrag zur Reduzierung haushaltsübergreifender Kontakte leisten konnte.
Rz. 34
4. Die Feststellung der Unwirksamkeit von § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV auf einen Teil der Vorschrift zu beschränken, war bundesrechtlich nicht geboten. Ob und inwieweit die Vorschrift teilbar war, ist eine Frage des nichtrevisiblen Landesrechts. Da das Verbot, die eigene Wohnung zum Verweilen im Freien zu verlassen, nicht gesondert geregelt war, sondern aus der fehlenden Anerkennung des Verweilens im Freien als triftiger Grund folgte, ist im Übrigen nicht ersichtlich, auf welchen Teil der Vorschrift der Verwaltungsgerichtshof die Feststellung der Unwirksamkeit hätte beschränken können. Auch der Antragsgegner hat das nicht dargelegt.
Rz. 35
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
BVerwGE 2023, 92 |
DÖV 2023, 484 |
ZfS 2022, 662 |
BayVBl. 2023, 3 |
DVBl. 2023, 730 |
NordÖR 2023, 11 |
GSZ 2022, 8 |
Jura 2023, 1359 |