Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachbarschutz. Baustufenplan. Hamburg. Hamburgische Baupolizeiverordnung. Gebietsfestsetzung. Altpläne. Drittschutz. Ermächtigungsgrundlage. Austauschverhältnis. verfassungskonforme Auslegung. Eigentum. Grundeigentum. Art der baulichen Nutzung. faktisches Baugebiet. Asylbewerberunterkunft. Ausnahme. Befreiung. dringender Wohnbedarf. Rücksichtnahmegebot. Wertminderung
Leitsatz (amtlich)
- Städtebauliche Pläne, die gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 als Bebauungspläne übergeleitet worden sind, können drittschützende Festsetzungen enthalten, auch wenn ihnen oder der zu ihnen ermächtigenden gesetzlichen Regelung seinerzeit ein nachbarschützender Gehalt nicht zuerkannt wurde. Das gilt insbsondere für Baustufenpläne, die nach den Vorschriften der Bauregelungsverordnung vom 15. Februar 1936 (RGBl I S. 104) erlassen wurden.
- Gebietsfestsetzungen in übergeleiteten Baustufenplänen vermitteln nachbarlichen Drittschutz (Fortentwicklung von BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151).
- Eine landesrechtliche Verordnung, die sich auf eine bundesrechtliche Ermächtigungsgrundlage stützt, ist im Zweifel bundesrechtskonform auszulegen.
- Neben § 31 Abs. 1 BauGB in Verbindung mit der sich auf bestimmte Vorhaben beziehenden Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 4 W Satz 2 BPVO für Wohngebiete ist kein Raum mehr für die allgemeine Ausnahmeregelung des § 10 Abs. 9 BPVO. Sie ist insoweit durch § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 in Verbindung mit § 31 Abs. 1 und 2 BBauG/BauGB gegenstandslos geworden.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 Sätze 1-2, Abs. 2, Art. 19 Abs. 4 S. 1; BBauG 1960 § 173 Abs. 3 S. 1; BauGB § 31 Abs. 1-2, § 34 Abs. 2; BauGB-MaßnG § 4 Abs. 1 a; BauNVO § 15 Abs. 1; VwGO § 137 Abs. 1-2; Hamburgische Baupolizeiverordnung § 10 Abs. 4, 9
Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Urteil vom 28.04.1994; Aktenzeichen Bf II 19/93) |
VG Hamburg (Urteil vom 27.11.1992; Aktenzeichen 16 VG 1252/91) |
Tenor
Das Urteil des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. April 1994 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Hamburgische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlußentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Die Klägerin wendet sich gegen zwei Baugenehmigungen, welche die Beklagte dem Beigeladenen zur vorübergehenden Unterbringung von Asylbewerbern erteilt hat.
Die Klägerin und der Beigeladene sind Eigentümer benachbarter Grundstücke im Geltungsbereich des Baustufenplans W…/O… der beklagten Freien und Hansestadt H… vom 11. Juli 1952 (Amtl. Anzeiger 1952, 797), erneut festgestellt am 14. Januar 1955 (Amtl. Anzeiger 1955, 61). Der Plan setzt für sie und ihre Umgebung Wohngebiet mit zweigeschossiger offener Bebauung fest (W 2 o). Der Baustufenplan trägt ferner den Aufdruck, daß das reine Wohngebiet gemäß § 10 Abs. 4 BPVO besonders geschützt sei, daß gewerbliche und handwerkliche Betriebe, Läden und Werbeanlagen nicht zugelassen seien und daß Mindestgrundstücksgrößen eingehalten werden sollten; es könnten je Grundstück bis zu zwei Wohnungen zugelassen werden, wenn die Bestimmungen der Abwasserverordnung von 1940 eingehalten würden.
Der Bereich ist ausschließlich mit zum Teil villenartigen Wohngebäuden bebaut. Auf dem Grundstück der Klägerin steht ein Einfamilienhaus. Westlich schließen sich die beiden zusammen rund 5 000 qm großen Grundstücke des Beigeladenen an, die im hinteren Bereich mit einem inzwischen abgebrannten Reetdachhaus und im Abstand von etwa 1,50 m zum Grundstück der Klägerin mit einem Nebengebäude (“Remise”) bebaut waren.
Mit Bescheid vom 22. Februar 1991 erteilte die Beklagte dem Beigeladenen die Baugenehmigung für zwei Einfamilienhäuser als Doppelhaus im vorderen Bereich für die vorübergehende Unterbringung von 26 Asylbewerbern. Die Unterbringung soll in Ein- bis Dreibettzimmern erfolgen. Es sind jeweils eine Küche und zwei Bäder vorgesehen. In der Baugenehmigung wurde gemäß § 31 Abs. 2 BauGB eine Befreiung von den Festsetzungen des Baustufenplans zum Nutzen der Wohngebäude für die vorübergehende Unterkunft von Asylbewerbern im Wohngebiet erteilt. Die Baugenehmigung enthält ferner die Nebenbestimmungen, daß die beiden Grundstücke während der Nutzung durch die Asylbewerber nicht weiter bebaut und daß auf ihnen nicht mehr als 50 bis 55 Bewohner untergebracht werden dürften; die Nutzung für Asylbewerber wurde auf fünf Jahre begrenzt. Mit Bescheid vom 24. Januar 1992 genehmigte die Beklagte den Umbau und die Nutzung des Nebengebäudes (Remise) für die vorübergehende Unterbringung von 13 Asylbewerbern und die Errichtung von Nebenräumen. Im Erdgeschoß der Remise sind eine Küche, ein Bad und ein Dreibettzimmer, ferner zwei Wirtschaftsräume, eine Waschküche, Heizungsanlagen und Sanitärräume für Personal vorgesehen, im Dachgeschoß zwei Drei- und ein Vierbettzimmer, eine Küche und zwei Bäder. In der Baugenehmigung wurde eine Ausnahme von den Festsetzungen des Baustufenplans zum Nutzen des Gebäudes für die vorübergehende Unterkunft von Asylbewerbern im Wohngebiet erteilt. Die Baugenehmigung enthält dieselben Nebenbestimmungen wie die Genehmigung vom 22. Februar 1991.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte vorsorglich für beide Vorhaben eine Ausnahme nach § 34 Abs. 2, § 31 Abs. 1 BauGB in Verbindung mit § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO 1990, hilfsweise eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB in Verbindung mit § 4 Abs. 1a BauGB-MaßnG und weiter hilfweise eine Ausnahme nach § 10 Abs. 9 BPVO für die vorübergehende Nutzung der Häuser als Asylbewerberunterkünfte erteilt.
Nach erfolglosen Widerspruchsverfahren hat die Klägerin Klage erhoben, die in beiden Rechtszügen erfolglos geblieben ist. Das Berufungsgericht hat verneint, daß die Baugenehmigungen subjektive Rechte der Klägerin verletzten; ob die Baugenehmigungen nach objektivem Recht rechtswidrig seien, hat es unentschieden gelassen. Zur näheren Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt:
Die Baugenehmigungen verletzten keine nachbarschützenden Festsetzungen des Baustufenplans W…/O…, der als übergeleiteter Bebauungsplan fortgelte. Denn dessen Festsetzungen einschließlich seiner Baugebietsfestsetzungen seien nicht nachbarschützend. Der aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes (1961) stammende Baustufenplan und die ihn ergänzenden Vorschriften der hamburgischen Baupolizeiverordnung von 1938 wollten nur die städtebauliche Entwicklung sichern. Sie wollten den Grundeigentümern nicht die Rechtsmacht verleihen, die Einhaltung der planungsrechtlichen Festsetzungen zu verlangen. Der Baustufenplan sei 1955 wirksam – insbesondere ohne Verstoß gegen Art. 14 GG – in Kraft gesetzt und später wirksam übergeleitet worden. Er sei mit § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 vereinbar, weil er im Zeitpunkt der Überleitung das rechtmäßige Ergebnis einer Abwägung nach § 1 Abs. 4 Satz 2 BBauG 1960 hätte sein können; auch mit seiner nicht nachbarschützenden Festsetzung eines Wohngebietes habe er einen zulässigen Inhalt gehabt. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – (BVerwGE 94, 151) führe zu keinem anderen Ergebnis.
Die Klägerin werde auch nicht in ihren Rechten aus § 31 Abs. 2 BauGB verletzt, wenn unterstellt werde, daß die Vorhaben den Festsetzungen des Plans einschließlich der Ausnahmemöglichkeit nach § 10 Abs. 9 BPVO objektiv widersprechen würden und wenn weiter unterstellt werde, daß die objektiv-rechtlichen Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht sämtlich vorliegen sollten. Zwar habe § 31 Abs. 2 BauGB mit dem Gebot der Würdigung nachbarlicher Interessen drittschützende Wirkung. Die Interessenabwägung gehe jedoch zugunsten des beigeladenen Bauherrn aus. Denn während der Beigeladene ein gewichtiges wirtschaftliches Interesse an der vorgesehenen Nutzung habe, sei das Interesse der Klägerin an der Abwehr der wohngebietsfremden Nutzung geringwertig, weil die Nutzung äußerlich in Wohngebäuden stattfinde und in einem reinen Wohngebiet nach § 15 Abs. 1 BauNVO hinzunehmen wäre. Die Baugenehmigungen verstießen schließlich auch nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend, auch die übergeleiteten Baustufenpläne seien hinsichtlich ihrer Gebietsfestsetzung nachbarschützend. Es sei davon auszugehen, daß die Beklagte bei der Überleitung habe rechtmäßig handeln wollen und deshalb gebilligt habe, daß den Festsetzungen mit der Überleitung nachbarschützende Funktion zukomme. Auch eine verfassungskonforme Auslegung gebiete die Annahme von Nachbarschutz.
Die genehmigten Asylbewerberunterkünfte dienten nicht Wohnzwecken; vielmehr seien es soziale Einrichtungen, in denen die Bewerber nur untergebracht würden. Eine Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB scheide aus, weil der Baustufenplan jede Ausnahme von der Wohnnutzung ausschließe. Asylbewerberunterkünfte fielen nicht unter § 10 Abs. 4 BPVO. Die Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB sei objektiv rechtswidrig. Gründe des Allgemeinwohls erforderten die Zulassung der Unterkunft an dieser Stelle nicht; andere Baugebiete ständen zur Verfügung.
Das Rücksichtnahmegebot werde verletzt. Die Interessen der Klägerin hätten Vorrang, weil sie sich auf den Bebauungsplan berufen könne. Das Profitinteresse des Beigeladenen sei nicht schutzwürdig. Es komme zu unzumutbaren Lärmbelästigungen. In die durch Villengrundstücke geprägte Umgebung füge sich das mit 55 Asylbewerbern und Betreuern überbelegte Grundstück nicht ein. Die Lebensgewohnheiten und der Tagesrhythmus der Asylbewerber unterschieden sich ganz erheblich von denen der Anwohner Os. Das Grundstück sei von den Geräuschemissionen her mit einem Kinderspielplatz oder einer Kindertagesstätte vergleichbar, die ebenfalls unzulässig wären. Das Grundstück der Klägerin habe eine Wertminderung bis zur Unverkäuflichkeit erlitten. Die Grenze der Sozialbindung des Eigentums werde überschritten.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung der Urteile des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. April 1994 und des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 27. November 1992 den Baugenehmigungsbescheid vom 24. Januar 1992 in der Fassung des Bescheids vom 4. März 1992 sowie den Widerspruchsbescheid vom 23. März 1992 und den Baugenehmigungsbescheid vom 22. Februar 1991 sowie den Widerspruchsbescheid vom 10. April 1991, soweit er den oben angegebenen Baugenehmigungsbescheid betrifft, aufzuheben.
Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil und machen insbesondere geltend, daß es mit den Anschauungen der fünfziger Jahre unvereinbar sei, Planfestsetzungen als drittschützend anzusehen.
Der Oberbundesanwalt beteiligt sich am Verfahren. Er hält es aus Gründen der Gleichbehandlung für geboten, daß auch in Gebieten übergeleiteter Baustufenpläne Nachbarschutz nach den Grundsätzen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1993 (a.a.O.) gewährt werde.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision ist begründet. Das Berufungsurteil verletzt revisibles Recht. Eine abschließende Entscheidung ist im Hinblick auf fehlende tatrichterliche Feststellungen nicht möglich. Dies führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (vgl. § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO).
1. Der Baustufenplan W…/O… vom 14. Januar 1955 enthält bauplanerische Gebietsfestsetzungen. Das ergibt sich im Zusammenwirken mit § 10 der Baupolizeiverordnung für die Hansestadt Hamburg – BPVO – vom 8. Juni 1938 (VBl S. 69). Diese Vorschrift ist – wie das Berufungsgericht in Auslegung irrevisiblen Rechts feststellt – Bestandteil des Baustufenplans.
Das Berufungsgericht verneint einen sich aus der Gebietsfestsetzung des Baustufenplans ergebenden Drittschutz des Grundstücksnachbarn. Diese Ansicht ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Die Gebietsfestsetzung hat auch bei den gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 übergeleiteten Baustufenplänen drittschützende Wirkung. Der Grundstücksnachbar kann geltend machen, daß er bereits durch eine Verletzung der Gebietsfestsetzungen in seinen eigenen Rechten verletzt werde. Er kann ferner geltend machen, daß die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen einer Ausnahme oder Befreiung nach § 31 BauGB nicht gegeben seien oder daß das Ermessen fehlerhaft ausgeübt worden sei. Auf die vom Berufungsgericht zugrunde gelegte tatsächliche Beeinträchtigung kommt es nicht an. Demgemäß ist es rechtsfehlerhaft, insoweit nur auf eine unzumutbare Beeinträchtigung im Rahmen des Rücksichtnahmegebots abzustellen. Der erkennende Senat hat hierzu erwogen:
a) Für die rechtliche Beurteilung ist zunächst entscheidend, ob ein rechtswirksamer Baustufenplan erlassen worden ist. Nur ein rechtswirksam in Kraft getretener Plan kann gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 rechtswirksam übergeleitet worden sein. Der Baustufenplan W…/O… vom 14. Januar 1955 ist – soweit er revisibles Recht betrifft – wirksam zustande gekommen.
aa) Das Revisionsgericht ist an einer eigenen Beurteilung der seinerzeit maßgebenden Rechtslage nicht dadurch gehindert, daß das Berufungsgericht mit der inhaltlichen Auslegung des Baustufenplans und des diesem zugeordneten § 10 Abs. 4 BPVO irrevisibles Recht angewandt hat.
Das Berufungsgericht hat durch die Auslegung des als Landesrecht geltenden Baustufenplans und der hamburgischen Baupolizeiverordnung keine tatrichterlichen Feststellungen im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO getroffen. Insbesondere hat das Gericht nicht als einen konkreten tatsächlichen Umstand festgestellt, der Verordnungsgeber habe bei Erlaß des Baustufenplans inhaltlich bewußt eine bestimmte, nämlich nicht nachbarschützende Rechtsetzung verfolgt. Die Entstehungsgeschichte derartiger Pläne – soweit sie allgemein bekanntgeworden ist (vgl. Lechelt, Baurecht in Hamburg, 1994, Bd. I Rnrn. 400, 403 unter Hinweis auf OVG Hamburg HmbJVBl 1982, 131 ≪132≫) – ergibt dies auch nicht. Vielmehr hat man zu der damaligen Zeit ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz nicht gedacht.
Demgemäß bewegen sich die Ausführungen des Berufungsgerichts zum Inhalt der planerischen Festsetzungen im üblichen Rahmen methodisch geleiteter Auslegung. Seine Auffassung begründet das Gericht vor allem mit einer Auslegung der hamburgischen Baupolizeiverordnung. Diese wird im Hinblick auf nachbarlichen Drittschutz als abschließend beurteilt. Dazu werden frühere Entscheidungen des Berufungsgerichts angeführt. Geht man diesen nach, so halten sich auch diese im Rahmen üblicher Interpretatorik (vgl. unter anderem OVG Hamburg, MDR 1949, 59 ≪60≫; DVBl 1959, 822 ≪823≫; MDR 1966, 1034; NVwZ 1984, 48 ≪49≫, jeweils mit Nachweisen; vgl. zum Ganzen insoweit auch Mückenheim, Die Nachbarklage im hamburgischen Recht, in: FS W. Reimers, 1979 S. 365 ff. ≪366, 368≫; weiterführend für den früheren Zeitraum auch K. Redeker, NJW 1959, 749; M. Sellmann, DVBl 1963, 273 ≪279≫).
Zum objektiven Inhalt der durch § 10 Abs. 4 BPVO ergänzten Festsetzungen des Baustufenplans vertritt das Berufungsgericht bestimmte Auslegungen. Nur diese sind für das Revisionsgericht bindend (vgl. § 173 VwGO, § 562 ZPO). Eine Bindung besteht hingegen nicht, soweit das Berufungsgericht bei der Auslegung und Anwendung des Landesrechts Bundesrecht ausgelegt und angewandt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 1967 – BVerwG 4 C 179.65 – BVerwGE 26, 305 ≪310≫; BVerwG, Urteil vom 31. Oktober 1975 – BVerwG 4 C 8-11.74 – BVerwGE 49, 301 ≪303 f.≫). Eine Bindung besteht auch nicht, wenn das Berufungsgericht bei der Auslegung und Anwendung des Landesrechts die Maßgeblichkeit des Bundesrechts übersehen hat. Das Berufungsgericht kann dann durch eine derartige Auslegung des Landesrechts Bundesrecht verletzt haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 1969 – BVerwG 7 C 20.67 – BVerwGE 32, 254 ≪255≫).
bb) Derartiges, hier zu beachtendes Bundesrecht besteht. Die für den angewandten Baustufenplan zugrunde gelegte, ehemals reichsrechtliche Ermächtigungsgrundlage ist revisibel. Sie ist bei der Auslegung des Baustufenplans zu beachten (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1977 – BVerwG 8 C 44.76 – BVerwGE 54, 54 ≪56≫).
Der Baustufenplan ist als Rechtsverordnung des Senats der beklagten Freien und Hansestadt H. erlassen worden. Die Rechtsverordnung gibt als Ermächtigungsgrundlage §§ 1, 2 der Verordnung über die Regelung der Bebauung – BauRegVO 1936 – vom 15. Februar 1936 (RGBl I S. 104), § 2 der Verordnung über die Baugestaltung – BauGestVO 1936 – vom 10. November 1936 (RGBl I S. 938) in Verbindung mit § 20a des Gesetzes betreffend das Verhältnis der Verwaltung zur Rechtspflege in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 1954 (HGVBl S. 155) an. Außerdem wird in der Ermächtigungsgrundlage auf § 10 der erwähnten Baupolizeiverordnung verwiesen.
Die reichsrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen gehören dem Bundesrecht an. Das folgt aus Art. 123 Abs. 1, 125 Nr. 1 i.V.m. Art. 74 Nr. 18 GG (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 26. September 1991 – BVerwG 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69 ≪71≫). Das Bundesverwaltungsgericht hat die bundesrechtliche Qualität der §§ 1, 2 BauRegVO 1936 wiederholt festgestellt (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 1954 – BVerwG 1 C 16.53 – Buchholz 406.21 § 3 BauRegVO 1936 Nr. 2). Es hat dabei zugleich die §§ 1, 2 BauRegVO 1936 als rechtsgültig angesehen. Daran wird festgehalten. Auch § 2 BauGestVO 1936 ist gültiges Bundesrecht geworden (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Juni 1955 – BVerwG 1 C 146.53 – BVerwGE 2, 172 ≪177≫).
Als Bundesrecht steht die Auslegung und die Anwendung ehemaliger reichsrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen damit gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 173 VwGO, § 550 ZPO einer revisionsgerichtlichen Nachprüfung offen. Zwar hat § 186 Abs. 1 Satz 2 Nr. 15 BBauG 1960 die BauRegVO 1936 mit Ablauf des 30. Juni 1961 aufgehoben. § 117 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 118 Satz 1 der Hamburger Bauordnung von 1969 hat dies für die BauGestVO 1936 getan. Der Wegfall der Ermächtigungsnormen berührt die Rechtsgültigkeit der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsvorschriften indes nicht. Ihr Außerkrafttreten steht auch einer revisionsgerichtlichen Prüfung nicht entgegen.
b) Die damit gebotene Auslegung der bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen und der bundesrechtlichen Überleitungsvorschrift des § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 ergibt für den vorliegenden Zusammenhang:
aa) §§ 1, 2 BauRegVO 1936 vermittelten nach Maßgabe der vorkonstitutionellen Entstehungsgeschichte keinen Nachbarschutz. Der historische Befund ist hierzu eindeutig. Auch die Beklagte geht hiervon aus. Die frühere Rechtsprechung des Berufungsgerichts hat dies ebenfalls nicht in Zweifel gezogen.
Ein wirksamer Nachbarschutz hätte den seinerzeit herrschenden Vorstellungen deutlich widersprochen. Die Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts anerkannte grundsätzlich einen nachbarlichen Drittschutz nicht (vgl. z.B. PrOVGE 70, 377; 78, 257 ≪259 f.≫). Auch andere ehemalige Reichsländer sahen einen Nachbarschutz – mit Ausnahme von Braunschweig, Bremen und Sachsen – nicht vor (vgl. M. Sellmann, DVBl 1963, 273 ff. ≪275≫). Dem Städtebaurecht des NS-Systems war ein nachbarlicher Drittschutz erst recht fremd. Insbesondere das frühere Gesetz über einstweilige Maßnahmen zur Ordnung des deutschen Siedlungswesens vom 3. Juli 1934 (RGBl I S. 568), das für die §§ 1, 2 BauRegVO 1936 die Ermächtigungsgrundlage darstellt, läßt eine drittschützende Zielsetzung nicht erkennen. Auch die gesamte Bauregelungsverordnung von 1936 ergibt nichts anderes.
Ein mittelbarer Beleg für diese Auffassung findet sich in der hamburgischen Baupolizeiverordnung selbst. §§ 6, 36 BPVO, auf die das Berufungsgericht zur Stützung seiner Ansicht verweist, müssen danach als ausdrücklich vorgesehene Ausnahmen gelten. Demgemäß war – so die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bauregelungsverordnung herrschende Auffassung – ein nachbarlicher Drittschutz ausgeschlossen, wenn er nicht ausdrücklich normiert war (vgl. auch OVG Hamburg, DVBl 1959, 822 ≪823≫). Eine verfassungsrechtliche Gewährleistung des Eigentums gab es nicht mehr. Art. 153 WRV 1919, der dies hätte begründen können, war durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (RGBl I S. 83) aufgehoben worden (vgl. BVerfGE 2, 237 ≪248≫).
bb) Wurden die §§ 1, 2 BauRegVO 1936 in nachkonstitutioneller Zeit genutzt, um Baustufenpläne zu erlassen, so wurde damit der Inhalt des Grundeigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG geregelt (BVerwG, Beschluß vom 15. Juni 1954 – BVerwG 1 B 260.53 – Buchholz 406.21 § 3 BauRegVO 1936 Nr. 1, zu § 3 BauRegVO 1936; insbesondere zu Gebietsfestsetzungen vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 17.90 – BVerwGE 88, 191 ≪194≫; vgl. ferner BVerfGE 70, 35 ≪53≫; 79, 174 ≪198≫; 87, 114 ≪141≫).
Das Berufungsgericht nimmt dies im Grundsatz ebenfalls an. Es verweist zur Auslegung des Baustufenplans auf Art. 14 Abs. 1 GG. In der Tat kann ein Verständnis einer planerischen Festsetzung nicht ohne einen Bezug auf Art. 14 Abs. 1 GG gelingen. Indes beachtet das Gericht nicht genügend, daß es nicht in erster Linie die planerische Abwägung im Sinne des § 1 Abs. 4 BBauG 1960 oder § 1 Abs. 6 BauGB zu prüfen hatte. Daß eine derartige Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG verstoßen darf, ist selbstverständlich. Vielmehr ist für den vorliegenden Zusammenhang vorrangig zu fragen, ob die dem Baustufenplan zugrunde gelegte Ermächtigungsgrundlage hinreichend den Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG genügte oder bei verfassungskonformer Auslegung genügen kann. Soweit das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – (BVerwGE 94, 151 ≪155 a.E.≫) auf das planerische Abwägungsgebot im Sinne des § 1 Abs. 6 BBauG 1960 verweist, mag dies mißverständlich sein.
Maßgebend ist in diesem Zusammenhang aus der Sicht des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in erster Linie die konkrete planerische Abwägung, sondern die vorgelagerte gesetzgeberische Abwägung in der zu planerischen Festsetzungen ermächtigenden gesetzlichen Regelung. Sie muß den grundrechtlichen Anforderungen eines angemessenen Ausgleichs der privaten Interessen einerseits (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) und der sich aus Art. 14 Abs. 2 GG ergebenden Sozialpflichtigkeit des Eigentums andererseits genügen.
Jede Ermächtigungsgrundlage ist nur in der vom Verfassungsrecht geforderten oder doch nahegelegten Auslegung anzuwenden (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. April 1984 – BVerwG 5 C 72.82 – BVerwGE 69, 162 ≪174≫). Das gilt auch für vorkonstitutionelle Ermächtigungsgrundlagen. Sie sind grundrechtskonform und darüber hinaus – im Zweifel – auch grundrechtsfreundlich auszulegen und anzuwenden.
Dazu gehören der Bezug zu Art. 14 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG und die Verwirklichung der Ziele des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Oktober 1965 – BVerwG 4 C 3.65 – BVerwGE 22, 129 ≪131≫ zu § 13 Abs. 4 der Reichsgaragenordnung vom 17. Februar 1939 ≪RGBl I S. 219≫; zum Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes vgl. BVerfGE 24, 367 ≪401≫; 35, 253 ≪277≫). In vergleichbarer Weise gilt dies auch für § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Oktober 1972 – BVerwG 4 C 14.71 – BVerwGE 41, 67 ≪70 ff.≫; Beschluß vom 29. Dezember 1988 – BVerwG 4 NB 28.88 – Buchholz 406.11 § 173 BBauG Nr. 18).
cc) Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG enthält einen Regelungsauftrag. Er setzt die Pflicht voraus, den Inhalt des Eigentums im Sinne einer sozialgerechten Eigentumsordnung zu normieren.
Die nähere Ausgestaltung einer sozialgerechten Bodenordnung ist schwierig. Das gilt auch für planerische Gebietsfestsetzungen, wie sie die hamburgischen Baustufenpläne enthalten. Die Eigentumsordnung muß gleichzeitig den Interessen der betroffenen einzelnen und denen der Allgemeinheit gerecht werden. Hierzu hat der Normgeber die Interessen zu qualifizieren. Er besitzt dazu einen nicht nur politischen, sondern auch rechtlichen Gestaltungsauftrag. Neben der grundsätzlichen Anerkennung des Privateigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) und der verbindlichen Richtschnur der Sozialpflichtigkeit (Art. 14 Abs. 2 GG) muß er insbesondere versuchen, gegenläufige private und öffentliche Interessen auszugleichen. In diesem Sinne obliegt ihm eine umfassende Abwägung.
Der Gesetzgeber und die von ihm ermächtigten Verordnungs- oder Satzungsgeber sind in der inhaltlichen Gestaltung des Eigentums im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG also nicht völlig frei. Soweit Gründe des Allgemeinwohls im Sinne des Art. 14 Abs. 2 GG nicht entgegenstehen, trifft den regelnden Gesetzgeber auch die Aufgabe, gegenläufige Privatinteressen auf horizontaler Ebene gleichgeordneter Interessen auszugleichen (vgl. auch Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, 1992, S. 247 ff.). Im Kern handelt es sich um eine am Gemeinwohl ausgerichtete Verteilungsgerechtigkeit. Der Gesetzgeber hat im Sinne einer sozialgerechten Eigentumsordnung die schutzwürdigen und die schutzbedürftigen Belange aller am Interessenkonflikt Beteiligten in einen gerechten Ausgleich zu bringen (vgl. BVerfGE 58, 330 ≪334 ff.≫; 72, 66 ≪76 f.≫). Ihm obliegt es dabei, die von der Regelung erfaßten oder auch nur berührten Interessen zu bewerten. Die Gründe, die hierbei für eine das Privateigentum einschränkende Regelung angeführt werden können, müssen von dem geregelten Sachbereich her geboten und auch in ihrer Ausgestaltung sachgemäß sein (vgl. BVerfGE 79, 174 ≪179≫; BVerwG, Urteil vom 16. Mai 1991 – BVerwG 4 C 17.90 – BVerwGE 88, 191 ≪195≫).
Diese Grundsätze ergeben allerdings nicht, daß der Gesetzgeber in jeder Hinsicht nachbarlichen Drittschutz vorzusehen hat. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zwingt ihn in aller Regel nicht zu einem bestimmten Ergebnis. Daher sind keineswegs alle baurechtlichen Vorschriften potentiell drittschützend (BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 – BVerwG 4 C 8.84 – DVBl 1987, 478). Jedoch ist eine vorkonstitutionelle Ermächtigungsgrundlage, die jeden Nachbarschutz ausschließt, nicht verfassungsgemäß (so auch Steinberg, NJW 1984, 457 ≪458 ff.≫). Sie bedarf daher – soll sie nicht für rechtsunwirksam angesehen werden – der verfassungskonformen Auslegung und lückenfüllenden Ergänzung.
dd) Gegenstand der verfassungskonformen Auslegung sind §§ 1 und 2 BauRegVO 1936 selbst. Für sie ist eine sich in den Systemzusammenhang des von der Rechtsprechung entwickelten bauplanungsrechtlichen Nachbarschutzes einpassende Auslegung ohne weiteres und sachgemäß möglich. Der Wortlaut und der objektive Regelungsgehalt ist hierzu offen. Der Annahme einer Nichtigkeit der Ermächtigungsgrundlage bedarf es nicht. Dies wäre eine Folge, die tunlichst zu vermeiden Art. 123 Abs. 1 GG aufgibt. Auch die gesetzgeberischen Wertungen, wie sie in § 173 Abs. 3 BBauG 1960, §§ 214, 215 BauGB zum Ausdruck kommen, stehen dem entgegen. Die genannten Vorschriften legen vielmehr eine Auslegung der Ermächtigungsgrundlagen für übergeleitete Pläne nahe. Diese orientiert sich an der bundesrechtlichen Ermächtigung zum Erlaß von Bebauungsplänen. Das ergibt sich zwanglos aus dem in § 173 Abs. 3 BBauG 1960 selbst enthaltenen Kontinuitätsgedanken. Der Gesetzgeber will eine Integration früherer Pläne in das von ihm geschaffene System des bundesrechtlichen Bauplanungsrechts erreichen.
Allerdings begründet Art. 14 Abs. 1 selbst keine unmittelbaren Abwehransprüche oder Plangewährleistungsansprüche (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. September 1991 – BVerwG 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69 ≪78≫; vgl. ferner Ehlers VVDStRL 51 ≪1992≫ S. 211 ≪222≫; Wahl, in: FS Redeker, 1993 S. 245 ≪266 f.≫; Schlichter/Roeser, Vorbem. zu §§ 29 ff., in: Berliner Kommentar zum BauGB, 2. Aufl., 1995, Rn. 22). Vielmehr hat der Gesetzgeber nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG den näheren Inhalt einer sozialgerechten Eigentumsordnung erst zu konkretisieren. Nachbarschutz besteht grundsätzlich nur, soweit ihn der Gesetzgeber auch normiert hat. Es handelt sich um einfachrechtliche Normen, die der Gesetzgeber an einigen Stellen, nicht aber durchgehend als allgemeines baurechtliches Gebot geschaffen hat.
In dieser Lage muß ein Gericht prüfen, ob sich gleichwohl Maßstäbe sowohl verfassungsrechtlicher Art als auch als Ausdruck gesetzgeberischer Wertungen finden lassen, um zu einer lückenfüllenden Ergänzung zu gelangen. Das ist der Fall. §§ 1, 2 BauRegVO 1936 enthalten – betrachtet man die Ermächtigungsgrundlage in objektiver Hinsicht – hinreichend genau, was Gegenstand einer bauplanungsrechtlichen Vorschrift zu sein hat. Danach können zur Regelung der Bebauung Kleinsiedlungsgebiete, Wohngebiete, Geschäftsgebiete und Gewerbegebiete als Baugebiete ausgewiesen werden. Für das einzelne Baugebiet ist vorzuschreiben, welche Arten von Anlagen in ihm errichtet oder nicht errichtet werden dürfen. In Kleinsiedlungsgebieten, Wohngebieten und Geschäftsgebieten dürfen Anlagen, die beim Betrieb erhebliche Nachteile oder Belästigungen für die Bewohner oder die Allgemeinheit zur Folge haben können, nicht zugelassen werden. Der Baustufenplan besitzt eine zulassende, aber auch eine ausschließende Funktion. Vorhaben, welche den Gebietsfestsetzungen nicht widersprechen, sind zulässig, die ihnen widersprechen, sind grundsätzlich unzulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. November 1966 – BVerwG 4 C 36.65 – BVerwGE 26, 243; Urteil vom 2. März 1973 – BVerwG 4 C 40.71 – BVerwGE 42, 30; Urteil vom 21. Juni 1974 – BVerwG 4 C 14.74 – Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 148).
Nach den zugrundeliegenden Ermächtigungsnormen hat der Baustufenplan damit eine Funktion zu erfüllen, die nach heutigem Verständnis zu den allgemeinen Aufgaben des Bauplanungsrechts gehört. Die einzelnen Grundstücke sind einer auch im Verhältnis untereinander verträglichen Nutzung zuzuführen (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 ≪155≫). In dieser Weise will die Rechtsordnung auf mögliche Bodennutzungskonflikte reagieren. Sie hat dazu einen sachgerechten Ausgleich zu schaffen. Das entspricht dem zu Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG erörterten Grundsatz, eine Ordnung zu normieren, die auf Ausgleich der beteiligten schutzwürdigen Interessen gerichtet ist. Ihr Ziel ist ein Gesamtausgleich der berührten öffentlichen und privaten Belange und Interessen.
Für planerische Gebietsfestsetzungen sind Wechselbezüglichkeit der Interessen und ein daraus abgeleitetes Austauschverhältnis seit längerem anerkannt (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 1973 – BVerwG 4 C 71.71 – DVBl 1974, 358 ≪361≫; ähnlich auch BVerwG, Urteil vom 17. Februar 1972 – BVerwG 4 C 2.68 – DVBl 1971, 754; weiterführend auch Sendler, BauR 1970, 4 ≪7≫; Bender/Dohle, Nachbarschutz im Zivil- und Verwaltungsrecht, 1972, Rn. 143; Ortloff, in: Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Bd. 2, 3. Aufl. 1993, 189 f.; Kübler/Speidel, Handbuch des Baunachbarrechts, 1970, S. 130 Rn. 84; Geiger, in: Birkl (Hrsg.), Nachbarrecht im Bau-, Umwelt- und Zivilrecht, Kap. I 80a ff.; Gelzer/Birk, Bauplanungsrecht, 5. Aufl., 1991, Rnrn. 979 ff.). Die “Baufreiheit” wird aus städtebaulichen Gründen, aber auch zum Nutzen der Beteiligten wechselseitig beschränkt. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird in diesem Bereich sinnfällig dadurch ausgeglichen und im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zusätzlich auch gerechtfertigt, daß auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind. Durch das Festlegen einer Fläche etwa zur Nutzung als Wohngebiet werden die Grundeigentümer als jeweilige Nachbarn innerhalb des festgelegten Gebietes zu einer Gemeinschaft verbunden. Der Bundesgerichtshof hat – wenngleich in anderen Zusammenhängen – wiederholt auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis hingewiesen. Dieses Ziel des Ausgleichs wechselbezüglicher Interessen ist bei objektiver Auslegung auch in der Ermächtigungsgrundlage der §§ 1, 2 BauRegVO 1936 enthalten (so bereits VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17. April 1986 – 8 S 2096/85 – ≪nur in Juris veröffentlicht≫ unter Hinweis auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 3. Juni 1985 – 8 S 551/85 – ≪nicht veröffentlicht≫).
Bauplanerische Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung sind regelhaft darauf ausgerichtet, die davon betroffenen Grundeigentümer in ein Austauschverhältnis gerade wechselseitig rechtlich einzubinden. Daher darf das Ausgleichsverhältnis nicht einseitig aufgehoben werden. Der gewollte Interessenausgleich würde sonst aus dem Gleichgewicht gebracht. Der bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf diesem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses: Weil und soweit der einzelne Eigentümer gemeinsam mit anderen – benachbarten – Eigentümern in der Ausnutzung seines Grundstücks öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er grundsätzlich deren Beachtung auch im Verhältnis zu den anderen Eigentümern verlangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Mai 1989 – BVerwG 4 C 1.88 – BVerwGE 82, 61 ≪75≫; Beschluß vom 21. Dezember 1994 – BVerwG 4 B 261.94 – ≪unveröffentlicht≫). Jeder Grundeigentümer muß sich – indem er gegenüber dem anderen als Nachbar erscheint – davor schützen können, daß er über die normierte Beschränkung seiner Baufreiheit hinaus nochmals durch eine nicht zulässige Nutzung eines anderen Grundeigentümers zusätzlich belastet wird (vgl. für die Zeit vor Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes VGH Baden-Württemberg, DVBl 1967, 385; ESVGH 12, 11; OVG Berlin, BRS 2, 198; OVG Bremen, DVBl 1961, 250; Hess. VGH, BRS 12, 191).
c) Die §§ 1, 2 BauRegVO 1936 sind aus heutigem Verständnis mithin als Teil eines objektiv normierten Austauschverhältnisses zu beurteilen. In ihm ist der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen (vgl. Breuer, DVBl 1983, 431 ≪437≫). Eine dies einbeziehende Auslegung berührt dabei weder den Inhalt der planerischen Festsetzungen und damit die Planungshoheit der Beklagten noch die legitimen Interessen anderer Grundstückseigentümer.
Das gilt auch für den erlassenen Baustufenplan einschließlich des § 10 BPVO. In aller Regel will sich ein nachgeordneter Norm- und Plangeber nur im Rahmen der ermächtigenden Rechtsgrundlagen bewegen. Anderenfalls ist die Norm nichtig. Diese Regel gilt auch hier. Damit wird dem Verordnungsgeber des Jahres 1955 nicht der Vorwurf gemacht, er habe bei seiner Normsetzung das erörterte Ausgleichsverhältnis mißachtet. Das in den Festsetzungen des Baustufenplans – ergänzt durch § 10 Abs. 4 BPVO – festgelegte planerische Konzept der städtebaulichen Ordnung und das darin zugleich mitgeregelte Austauschverhältnis bleiben inhaltlich unberührt. Der nachbarliche Drittschutz führt zu keiner Veränderung der Grundlagen und Maßstäbe für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Vorhaben. Er erlaubt nur, daß der Nachbar eine Verletzung objektiven Rechts geltend machen darf.
Eine derartige subjektivrechtliche Ergänzung der zum Erlaß von Baustufenplänen ermächtigenden Rechtsgrundlage entspricht der Entwicklung, die das öffentliche Baunachbarrecht in der Vergangenheit genommen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. August 1960 – BVerwG 1 C 42.59 – BVerwGE 11, 95; vgl. auch Steinberg, NJW 1984, 457 ≪458≫). Das Bundesverwaltungsgericht hat betont, daß z.B. die Rechtsprechung des ehemaligen Preußischen Oberverwaltungsgerichts, das die Zulässigkeit der baurechtlichen Nachbarklage verneinte, keinen zeitgerechten Maßstab für eine Lösung angemessenen Rechtsschutzes darstelle (BVerwG, Urteil vom 5. Oktober 1965 – BVerwG 4 C 3.65 – BVerwGE 22, 129 ≪131≫. Es hat dabei sowohl auf Art. 14 GG als auch auf Art. 19 Abs. 4 GG hingewiesen. Dem hat sich die übrige Rechtsprechung angeschlossen. Heute entspricht es allgemeiner Rechtsüberzeugung, daß das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, daß es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz ist Ergebnis einer richterrechtlichen Rechtsfortbildung, welche hierbei von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht. Diese Auslegung ist nicht darauf beschränkt, den Rechtsschutz gegenüber Abweichungen von Plänen, die auf vorkonstitutionellen Ermächtigungsgrundlagen beruhen, auf das verfassungsrechtlich unabdingbare Minimum zu beschränken. Vielmehr ist es aus Gründen der Rechtsgleichheit angemessen, ihn in das System des allgemeinen bauplanungsrechtlichen Nachbarschutzes einzuordnen.
Das bedeutet: Liegt bauplanerischen Festsetzungen – wie für Gebietsfestsetzungen typisch – eine Ausgleichsordnung zugrunde, kommt einer solchen Regelung nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten des an dem Austauschverhältnis beteiligten und damit genügend bestimmten Kreises von Grundstückseigentümern zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 – BVerwG 4 C 8.84 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71 = DVBl 1987, 476 = NVwZ 1987, 409). Daraus folgt unmittelbar, daß der einzelne Eigentümer die Wahrung des Gebietscharakters als eine ihm eingeräumte Rechtsposition auch klageweise verteidigen kann (Steinberg, NJW 1984, 457 ≪459 f.≫). Dies entspricht für Gebietsfestsetzungen seit langem der Rechtsprechung auch der Oberverwaltungsgerichte (vgl. VGH Baden-Württemberg, BRS 27 Nr. 31; NJW 1989, 2279; OVG Berlin, BRS 7, 125 ≪129≫; OVG Berlin, BRS 48 Nr. 167; OVG Berlin, DÖV 1988, 386; OVG Berlin, NVwZ-RR 1989, 116; OVG Bremen, BRS 49 Nr. 190; OVG Bremen, DVBl 1966, 278; OVG Münster, NVwZ 1986, 317; OVG Münster, BauR 1992, 60 ≪61≫; OVG Saarland, BauR 1992, 739; OVG Saarland, BRS 36 Nr. 198). Dies auch für nach § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 übergeleitete Pläne anzunehmen, ist – losgelöst von einer in früherer Zeit verständlichen “historischen” Auslegung – nur folgerichtig. Dabei ist – wie schon gesagt – die drittschützende Zweckrichtung nicht erst der Gebietsfestsetzung des jeweiligen Bebauungsplans zu entnehmen, sondern bereits in der zu Gebietsfestsetzungen der bezeichneten Art ermächtigenden Gesetzesnorm angelegt.
Ein anderes Ergebnis würde überdies im beklagten Land zu kaum verständlichen Folgen führen. In H… herrscht hinsichtlich des nachbarlichen Drittschutzes eine Unterschiedlichkeit, für die es keine tragfähigen Gründe gibt. Unterschiede in bezug auf den Inhalt des zugrundeliegenden “Austauschverhältnisses” sind nicht erkennbar. Ein Beispiel kann dies erläutern: Ein Eigentümer, dessen Grundstück in einem nach § 34 Abs. 2 BauGB zu beurteilenden “faktischen” Baugebiet liegt, besitzt kraft Bundesrechts nachbarlichen Gebietsschutz (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 – BVerwG 4 C 28.91 – BVerwGE 94, 151 ≪155≫). Hingegen soll nach Auffassung des Berufungsgerichts und der damit übereinstimmenden Verwaltungspraxis des beklagten Landes ein Eigentümer, dessen Grundstück in einem Gebiet nach dem Baustufenplan liegt, einen nachbarlichen Drittschutz nur dann erreichen können, wenn er in seinen Interessen unzumutbar beeinträchtigt wird. Der Sinn des § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 wird damit in sein Gegenteil verkehrt. Die Vorschrift strebt die Kontinuität im Planungsrecht an (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1971 – BVerwG 4 C 64.69 – Buchholz 406.11 § 173 BBauG Nr. 8). Die zugunsten städtebaulicher Entwicklung und zugunsten der Eigentümerbelange vom Bundesgesetzgeber gewollte Kontinuität soll einen Drittschutz nicht verhindern, der gerade auf die Beachtung der in den Baustufenplänen getroffenen planerischen Festsetzungen gerichtet ist. Damit steht sich derjenige Grundeigentümer hinsichtlich eines effektiven Rechtsschutzes “besser”, der auf die Unwirksamkeit derartiger Pläne setzt. Derartige Ungereimtheiten sind mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung, der – für Landesrecht – innerhalb eines Landes zu beachten ist und zudem der verfassungsrechtlichen Zielsetzung des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht, schwerlich vereinbar.
d) Der hier maßgebliche Baustufenplan ist – auch in seiner Bezugnahme auf § 10 Abs. 4 W BPVO – nicht anders auszulegen als die ihm zugrundeliegende Ermächtigungsnorm. Die Auslegung der Gebietsfestsetzungen des Baustufenplans durch das Berufungsgericht entspricht nicht der bundesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage. Damit wird mithin Bundesrecht verletzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 1977 – BVerwG 8 C 44.76 – BVerwGE 54, 54 ≪56≫).
2. Dem Revisionsgericht ist eine abschließende Entscheidung des Streitfalls nicht möglich. Die Voraussetzungen des § 144 Abs. 4 VwGO liegen nicht vor. Das Berufungsurteil erweist sich nicht aus anderen Gründen als richtig.
a) Das Berufungsgericht hat die Frage, ob die angegriffenen Baugenehmigungen mit den Festsetzungen des Baustufenplans über die Gebietsart vereinbar sind, offengelassen. Insoweit kommt es darauf an, ob die genehmigten Asylbewerberunterkünfte gemäß § 10 Abs. 4 BPVO im Wohngebiet zulässig sind, also insbesondere im Sinne von § 10 Abs. 4 W Satz 1 “den Wohnbedürfnissen dienen”. Diese Frage ist nach dem irrevisiblen Landesrecht vom Berufungsgericht zu entscheiden. Von der gemäß § 173 VwGO, § 565 Abs. 4 ZPO eröffneten Möglichkeit, irrevisibles Recht anzuwenden, macht der erkennende Senat keinen Gebrauch.
b) Ist die Plangemäßheit im vorstehenden Sinne zu verneinen, so kommt es darauf an, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen gegeben sind, um eine Ausnahme oder eine Befreiung erteilen zu können.
aa) Ob das Vorhaben des Beigeladenen im Wege einer Ausnahme zugelassen werden kann, hat das Berufungsgericht ebenfalls offengelassen. Zwar führt es aus, daß sich der Ausschluß bestimmter Anlagen gemäß § 10 Abs. 4 W Satz 3 BPVO nicht auf Anlagen für soziale Zwecke erstrecke. Unklar ist jedoch, ob damit gesagt werden soll, daß die streitigen Asylbewerberunterkünfte, wenn sie nicht bereits generell als Wohngebäude im Sinne des Baustufenplans zulässig sein sollten, zumindest im Wege einer Ausnahme zugelassen werden können. Gegen eine solche Interpretation des Berufungsurteils spricht vor allem, daß das Berufungsgericht sogar unentschieden gelassen hat, ob die Unterkünfte objektiv-rechtlich über eine Befreiung zugelassen werden dürften. Auch die Frage, ob eine Zulassung der Asylbewerberunterkünfte im Wege einer Ausnahme von den Festsetzungen des Baustufenplans überhaupt in Betracht kommt, ist nach irrevisiblem Landesrecht zu beantworten und deshalb vom Berufungsgericht zu klären.
Darüber hinaus läßt sich dem Berufungsurteil nicht entnehmen, aufgrund welcher Rechtsgrundlage eine Ausnahme erteilt werden könnte. Ist § 10 Abs. 4 W Satz 2 BPVO dahin zu verstehen, daß die Behörde als ermächtigt gilt, Ausnahmen nach pflichtgemäßem Ermessen zu erteilen, handelt es sich aus bundesrechtlicher Sicht um einen Fall des § 31 Abs. 1 BauGB. § 10 Abs. 4 W Satz 2 BPVO bestimmt dann zwar den Kreis der festgelegten Ausnahmetatbestände. Sie sind gemäß § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 anzuwenden. Die an die Behörde gerichtete Ermächtigung, die Ausnahme zu gewähren und damit im Einzelfall von den planerischen Festsetzungen abzuweichen, ist hingegen bundesrechtlich nur in § 31 Abs. 1 BBauG 1960 enthalten.
Daneben ist für eine Anwendung des § 10 Abs. 9 Satz 1 BPVO kein Raum. § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 hat diese Vorschrift, die nach Maßgabe der angegebenen Ermächtigungsgrundlage ursprünglich Bestandteil des Baustufenplans war, derogiert. § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 bestimmt die Kontinuität ausdrücklich nur für planerische Regelungen, die ihrer Art nach den in § 9 BBauG 1960 vorgesehenen Festsetzungen entsprechen. Das gilt auch für planerisch vorgesehene Ausnahmen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1971 – BVerwG 4 C 64.69 – Buchholz 406.11 § 173 BBauG Nr. 8).
Soweit der erkennende Senat in dem angeführten Urteil gemeint hat, § 10 Abs. 9 Satz 1 BPVO müsse gleichsam “im Lichte” des § 31 Abs. 1 BauGB verstanden werden, gibt er diese Auffassung aus Gründen der Rechtsklarheit auf. Dies fällt um so leichter, als das Berufungsgericht in seiner früheren Rechtsprechung ebenfalls angenommen hatte, § 10 Abs. 9 Satz 1 BPVO sei nicht mehr anwendbar (vgl. OVG Hamburg VerwRspr 18 S. 547 ≪549≫; vgl. auch Lechelt, Baurecht in Hamburg, Bd. II, 1994 S. 556 mit Fn. 558). § 173 Abs. 3 Satz 1 BBauG 1960 will zwar möglichst umfassend die Rechtskontinuität sichern. Aus diesem Grund soll der planerische Bestand erhalten bleiben. Dieser Zielsetzung wird es hinreichend gerecht, wenn die durch § 10 Abs. 4 W Satz 2 BPVO genannten Ausnahmemöglichkeiten aufrechterhalten bleiben. Dies ist planimmanenter Bestandteil der bodenrechtlich relevanten Festsetzungen. Weiteres bedarf es aber nicht. Die in § 10 Abs. 9 Satz 1 BPVO normierte Funktion ist – soweit es Ausnahmen im Sinne des § 10 Abs. 4 W Satz 2 BPVO betrifft – ohne eigenen planerischen Gehalt. Ist im Baustufenplan eine Ausnahme – ggf. über § 10 Abs. 4 W Satz 2 BPVO – nicht enthalten, kann von den planerischen Festsetzungen zugunsten des Bauherrn nur nach Maßgabe des § 31 Abs. 2 BauGB abgewichen werden.
bb) Ungeklärt ist schließlich, ob die Asylbewerberunterkünfte im Wege einer Befreiung von der Festsetzung der Gebietsart zugelassen werden dürfen; als Rechtsgrundlage hierfür kommt § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB in Verbindung mit § 4 Abs. 1a BauGB-MaßnG in Betracht. Auf diese Frage käme es an, wenn die Vorhaben des Beigeladenen weder plangemäß sein sollten noch über eine Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB zugelassen werden könnten. Das Berufungsgericht hat dies sinngemäß unterstellt. Es hat sich insoweit jedoch auf die Prüfung beschränkt, ob die beiden Unterkünfte mit dem Gebot der Würdigung nachbarlicher Interessen vereinbar seien; diese Frage hat es bejaht, weil eine Interessenabwägung ergebe, daß die Vorhaben gegenüber der Klägerin nicht rücksichtslos seien. Eine solche Prüfungsbeschränkung wäre korrekt, wenn die Festsetzung der Gebietsart im übergeleiteten Baustufenplan keinen Nachbarschutz vermitteln würde, wie das Berufungsgericht angenommen hat. Auf eine umfassende Prüfung sämtlicher Befreiungsvoraussetzungen kann hier jedoch nicht verzichtet werden, weil – wie ausgeführt – die Festsetzung eines Wohngebietes auch in übergeleiteten Bebauungsplänen nachbarschützend ist. Rechte des Nachbarn werden durch eine mit der Gebietsfestsetzung unvereinbare Zulassung von Vorhaben nur dann nicht verletzt, wenn für die Abweichung eine objektiv rechtmäßige Befreiung erteilt worden ist. Hierfür ist die Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem im Gebot der Würdigung nachbarlicher Interessen enthaltenen Rücksichtnahmegebot nur eine von mehreren Voraussetzungen.
Für eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Befreiung fehlt es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen. Zwar liegen gemäß § 4 Abs. 1a Satz 1 BauGB-MaßnG Gründe des Wohls der Allgemeinheit im Sinne von § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB schon bei dringendem Wohnbedarf, auch zur vorübergehenden Unterbringung und zum vorübergehenden Wohnen, vor. Ferner ist die Befreiung nach Satz 2 der Vorschrift bei vorübergehender Unterbringung und bei vorübergehendem Wohnen nicht auf Einzelfälle beschränkt. Das Berufungsgericht hat jedoch nicht festgestellt, ob für die beiden Unterkünfte ein dringender Wohnbedarf besteht. Darüber hinaus macht die Revision zutreffend geltend, daß § 4 Abs. 1a BauGB-MaßnG nicht auch das Tatbestandsmerkmal des “Erforderns” in § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB ersetzt (vgl. BVerwG, Beschluß vom 13. Februar 1996 – BVerwG 4 B 199.95 –). Insofern ist aufklärungsbedürftig, ob es im betroffenen Bereich erheblich besser geeignete Standorte für Asylbewerberunterkünfte gibt, wie die Klägerin behauptet. Allerdings muß eine Befreiung nicht daran scheitern, daß auch andere Möglichkeiten zur Unterbringung der Asylbewerber zur Verfügung stehen; es würde ausreichen, wenn es zur Deckung eines dringenden Unterbringungsbedarfs vernünftigerweise geboten ist, mit Hilfe der Befreiung das Vorhaben am vorgesehenen Standort zu verwirklichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 1978 – BVerwG 4 C 54.75 – BVerwGE 56, 71 ≪76≫).
c) Der Senat kann andererseits nicht schon selbst zu Gunsten der Klägerin entscheiden, weil die streitigen Baugenehmigungen gegen das Rücksichtnahmegebot verstießen, wie die Revision geltend macht. Denn die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen auch nicht aus, um eine Verletzung des in dem Gebot der Würdigung nachbarlicher Interessen enthaltenen Rücksichtnahmegebots zu bejahen.
Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. August 1983 – BVerwG 4 C 96.79 – BVerwGE 67, 334 ≪338 f.≫; Urteil vom 19. September 1986 – BVerwG 4 C 8.84 – DVBl 1987, 476 = ZfBR 1987, 47; Urteil vom 6. Oktober 1989 – BVerwG 4 C 14.87 – BVerwGE 82, 343) erfordert das in § 15 Abs. 1 BauNVO und in § 31 Abs. 2 BauGB enthaltene Rücksichtnahmegebot eine Interessenabwägung. Die Schutzwürdigkeit des betroffenen Nachbarn, sein Interesse an der Einhaltung der Festsetzungen des Bebauungsplans und damit an einer Verhinderung von Beeinträchtigungen und Nachteilen sowie die Intensität der Beeinträchtigung sind mit den Interessen des Bauherrn abzuwägen. Der Nachbar kann um so mehr an Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch eine an die Stelle der im Bebauungsplan festgesetzten Nutzung tretende andersartige Nutzung berührt werden kann. Umgekehrt braucht derjenige, der die Befreiung in Anspruch nehmen will, um so weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer die von ihm verfolgten Interessen sind. Unter welchen Voraussetzungen eine Befreiung Rechte des Nachbarn verletzt, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab. Maßgeblich kommt es darauf an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. grundlegend Urteil vom 25. Februar 1977 – BVerwG 4 C 22.75 – BVerwGE 52, 122).
In Anwendung dieser Grundsätze hat das Berufungsgericht eine Interessenabwägung vorgenommen und dabei den Interessen des beigeladenen Bauherrn einen Vorrang vor den Interessen der Klägerin zuerkannt. Der Beigeladene habe ein gewichtiges wirtschaftliches Interesse an der vorgesehenen Nutzung; es werde noch dadurch erhöht, daß er zum Teil vorhandene Bausubstanz verwerten könne. Demgegenüber trete das Interesse der Klägerin an der Beachtung der Gebietsfestsetzung zurück; diese entspreche im wesentlichen der eines allgemeinen Wohngebiets und schließe gewerbliche und handwerkliche Betriebe, Läden und Werbeanlagen, jedoch nicht Anlagen für soziale Zwecke aus. Die vorgesehene Nutzung finde dem äußeren Bild nach in Wohngebäuden statt und habe für die Klägerin nur solche Auswirkungen, wie sie bei einer plangemäßen “reinen Wohnnutzung” gleichermaßen entstehen könnten und von ihr nach dem Maßstab des § 15 Abs. 1 BauNVO hinzunehmen wären; zudem sei die Nutzung nur für einen begrenzen Zeitraum von fünf Jahren vorgesehen.
Diese im wesentlichen auf der Anwendung irrevisiblen Ortsrechts und auf einer der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogenen tatrichterlichen Würdigung beruhende Beurteilung ist nur deshalb zu beanstanden, weil das Berufungsgericht die nachbarlichen Interessen der Klägerin möglicherweise zu gering gewertet hat, indem es zu Unrecht davon ausgegangen ist, daß die Gebietsfestsetzung im Baustufenplan nicht nachbarschützend sei. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß es einen Verstoß gegen das Gebot der Würdigung nachbarlicher Interessen angenommen hätte, wenn es die drittschützende Wirkung der Gebietsfestsetzung berücksichtigt hätte. Der Senat kann die Wertung des Berufungsgerichts nicht durch seine eigene ersetzen.
Die gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts gerichteten Einwände der Revision greifen allerdings nicht durch:
Auf die von der Revision erörterte Frage, ob Unterkünfte für Asylbewerber dem “Wohnen” dienen oder Anlagen für soziale Zwecke im Sinne der Baunutzungsverordnung sind, kommt es schon deshalb nicht an, weil der Baustufenplan Anlagen für soziale Zwecke nicht ausschließt, wie das Berufungsgericht ausgeführt hat; hieran ist der Senat gemäß § 137 Abs. 1, § 173 VwGO, § 562 ZPO gebunden. Für die Frage, ob die Baugenehmigungen gegen das drittschützende Rücksichtnahmegebot verstoßen, kommt es ferner nicht auf die rechtliche Einordnung von Asylbewerberunterkünften, sondern auf die besonderen Umstände des jeweiligen Falles und hier insbesondere auf die Einwirkungen an, die von den genehmigten Vorhaben auf das Grundstück der Klägerin ausgehen. Hinsichtlich der geltend gemachten Lärmbelästigung hat das Berufungsgericht festgestellt, daß die von den Bewohnern des Grundstücks des Beigeladenen verursachten Geräusche nicht lauter oder aus anderen Gründen störender sind, als es Wohngeräusche sonst sind. Durch nichts belegt sei, daß die untergebrachten Asylbewerber aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse sowie ihrer sozialen Situation die Nachbarschaft stärker störten als dies bei einheimischen Familien der Fall sei. Die zu erwartenden Lebensäußerungen von Besuchern sowie die Geräusche durch das An- und Abfahren der – wenigen – Betreuer träten hinter den Geräuschen, die von den auf dem Grundstück lebenden Bewohnern ausgingen, zurück. Es fehlt deshalb an Lärmbeeinträchtigungen, die mit dem Charakter eines Wohngebiets nicht vereinbar sind.
Soweit sich die Revision hiergegen wendet, legt sie ihrem Vortrag einen Sachverhalt zugrunde, den das Berufungsgericht so nicht festgestellt hat. Der Senat muß jedoch gemäß § 137 Abs. 2 VwGO von den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen ausgehen, weil die Revision keine Verfahrensrügen erhoben hat. Ihr neuer – sogar unter Beweis gestellter – Vortrag ist im Revisionsverfahren unbeachtlich.
Soweit die Revision darüber hinaus auf die große Kinderzahl der Asylbewerber und ihre von der vorhandenen Wohnbevölkerung abweichenden Lebensgewohnheiten hinweist, verkennt sie, daß das allgemeine Bauplanungsrecht keinen “Milieuschutz” gewährleisten kann und soll. Derartige Wohnimmissionen sind auch in solchen Wohngebieten hinzunehmen, die durch eine andere homogene Wohnbevölkerung geprägt sind. So sind auch beispielsweise – entgegen der Rechtsauffassung der Revision – Kinderspielplätze keineswegs in Wohngebieten grundsätzlich unzulässig; sie können es nur dann im Einzelfall sein, wenn sie aufgrund besonderer Umstände an einem bestimmten Standort rücksichtslos wären (BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1991 – BVerwG 4 C 5.88 – Buchholz 406.12 § 3 BauNVO Nr. 7 = BRS 52 Nr. 47). Rechtlich nicht zu beanstanden ist ferner die Wertung des Berufungsgerichts, daß die Wohnimmissionen eines Doppelhauses mit 26 Bewohnern und eines weiteren Nebengebäudes mit 13 Personen nicht von selbst für die Nachbarschaft unzumutbar seien. Auch die größere Wohndichte auf den beiden (insgesamt über 5 000 qm großen) Nachbargrundstücken, die die Beklagte auf maximal 55 Personen beschränkt hat, führt nicht schon deshalb zu unzumutbaren Beeinträchtigungen der Nachbarschaft, weil hier weniger Menschen wohnen. Alle weiteren Fragen sind typische Probleme der Rechtsanwendung im Einzelfall; sie unterliegen der tatrichterlichen Würdigung durch die Instanzgerichte. Rechtliche Mängel der Beurteilung durch das Berufungsgericht werden mit der Revision nicht aufgezeigt.
Schließlich ist es unerheblich, ob das Grundstück der Klägerin infolge der zugelassenen Nutzung des Nachbargrundstücks eine Wertminderung erfahren hat. Die im Rahmen der Prüfung des Rücksichtnahmegebotes gebotene Interessenabwägung hat sich am Kriterium der Unzumutbarkeit auszurichten. Zu fragen ist, ob die zugelassene Nutzung zu einer – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen – unzumutbaren Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeiten des anderen Grundstücks führt. Da sich jede – auch eine legale – Nachbarbebauung auf den Wert der umliegenden Grundstücke auswirken kann, kommt einer Wertminderung allenfalls eine Indizwirkung für die Interessenabwägung zu. Ein Abwehranspruch kann jedoch nur gegeben sein, wenn die Wertminderung die Folge einer dem Betroffenen unzumutbaren Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeiten des Grundstücks ist (vgl. BVerwG, Beschluß vom 24. April 1992 – BVerwG 4 B 60.92 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 109, m.w.N.). Das ist hier nicht der Fall. Da insoweit mit dem drittschützenden Rücksichtnahmegebot auch eine den Inhalt des Eigentums bestimmende gesetzliche Regelung vorhanden ist, besteht ein Abwehranspruch unmittelbar aus Art. 14 GG ebenfalls nicht (BVerwG, Urteil vom 26. September 1991 – BVerwG 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69 ≪78≫).
3. Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob die Zwei-Wohnungs-Klausel und die Festsetzung der Mindestgrundstücksgröße im Baustufenplan wirksam seien. Es hat sich hierzu als berechtigt angesehen, weil auch diese Festsetzungen, sollten sie wirksam sein, keinen Nachbarschutz vermitteln könnten. Dieser Rechtsauffassung ist zwar nicht deshalb zu folgen, weil übergeleitete Bebauungspläne generell nicht nachbarschützend seien. Ob nicht die Gebietsart betreffende Festsetzungen übergeleiteter Bebauungspläne nachbarschützend sind, ist vielmehr – wie bei Bebauungsplänen, die auf der Grundlage des Bundesbaugesetzes oder des Baugesetzbuchs erlassen worden sind – jeweils durch Auslegung zu ermitteln. Hinsichtlich der Beschränkung auf zwei Wohnungen je Grundstück und der Mindestgrundstücksgröße sind jedoch keine Gesichtspunkte ersichtlich, die es schon kraft Bundesrechts als erforderlich erscheinen lassen, ihnen eine drittschützende Wirkung zwingend beizulegen.
4. Die Kostenentscheidung ist der Schlußentscheidung vorzubehalten. Gegenwärtig steht nicht fest, wer unterliegende Partei sein wird (vgl. § 154 Abs. 1 VwGO).
Unterschriften
Gaentzsch, Berkemann, Hien, Lemmel, Halama
Fundstellen
BVerwGE, 364 |
DÖV 1997, 32 |
BRS 1996, 407 |
DVBl. 1997, 61 |