Entscheidungsstichwort (Thema)
Schächten. betäubungsloses Schlachten. Religionsgemeinschaft. zwingende Vorschriften einer Religionsgemeinschaft. Ausnahmegenehmigung für betäubungsloses Schlachten. Islam. Muslime und Schächtgebot
Leitsatz (amtlich)
1. Die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum Schächten nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. TierSchG setzt voraus, dass der Antragsteller einer durch gemeinsame Glaubensüberzeugungen verbundenen Gruppe von Menschen angehört, die das betäubungslose rituelle Schächten als für sich zwingend hält.
2. Die Zugehörigkeit zu einem alle Richtungen des Islam zusammenfassenden islamischen Regionalverband rechtfertigt die Erteilung der Ausnahmegenehmigung nicht.
Normenkette
GG Art. 4, 140; WRV Art. 136 Abs. 1; TierSchG §§ 1, 4a
Verfahrensgang
VG Darmstadt (Entscheidung vom 09.09.1999; Aktenzeichen 3 E 952/99 (3)) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 9. September 1999 insoweit aufgehoben, als es der Klage stattgegeben hat.
Insoweit wird die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Darmstadt zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I.
Der Kläger begehrt die Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet ist, ihm jeweils jährlich zum islamischen Opferfest eine Ausnahmegenehmigung zum Schlachten eines warmblütigen Tieres ohne vorherige Betäubung (Schächtung) zu erteilen.
Der Kläger, ein in Offenbach wohnender Muslim, ist Mitglied der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen (IRH). Dabei handelt es sich um einen im November 1997 gegründeten eingetragenen Verein, der nach seiner Satzung die Aufgabe hat, als Handlungsorgan der ihr angehörenden Muslime zu fungieren und für die religiösen Interessen ihrer Mitglieder eine gemeinsame und ständige Informations- und Gesprächsebene zu bilden; insbesondere obliegt dem Verein die Förderung der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an hessischen Schulen. Die IRH ist nicht auf eine bestimmte islamische Rechtsschule ausgerichtet; die Mitgliedschaft steht allen volljährigen, geschäftsfähigen und natürlichen Personen mit Wohnsitz im Lande Hessen offen, die sich zum Islam bekennen. Derzeit hat sie etwa 10 000 Mitglieder.
Zur Unterstützung in religiösen Fragen verfügt die IRH über einen Fiqh-Rat als internes Organ. Die von ihm erstellten Fatwas (Sachverständigen- bzw. Rechtsgutachten) haben nach der Satzung empfehlenden Charakter. Soweit es um Belange der Gemeinschaft geht, erhalten die Fatwas verbindliche Wirkung durch Beschluss der Organe der IRH; Fatwas im persönlichen Bereich Einzelner gelten als allgemeine Empfehlungen.
Im März 1998 erstellte der Fiqh-Rat eine Fatwa zur Zulässigkeit der vorherigen Betäubung eines zur Schlachtung beim islamischen Opferfest vorgesehenen Tieres. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Betäubung nach den Vorschriften des Koran unzulässig sei. Der Vorstand der IRH erklärte die Fatwa für verbindlich.
Unter Berufung auf seine Mitgliedschaft in der IRH beantragte der Kläger Mitte Februar 1999, ihm anlässlich des Ende März stattfindenden islamischen Opferfestes das betäubungslose Schlachten eines Schafes zu erlauben. Die Schächtung solle auf einem Biohof durch einen namentlich benannten Schächter durchgeführt werden. Durch Bescheid vom 23. Februar 1999 lehnte der Beklagte den Antrag ab mit der Begründung, die Voraussetzungen des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 des Tierschutzgesetzes (TierSchG) seien nicht erfüllt. Es gebe für Muslime keine zwingenden Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft, die die Betäubung eines warmblütigen Tieres vor der Schlachtung verböten.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch des Klägers wurde wegen Zeitablaufs nicht beschieden. Daraufhin hat der Kläger Klage auf Feststellung erhoben, dass die Versagung der beantragten Genehmigung rechtswidrig gewesen sei. Hilfsweise hat er die Feststellung begehrt, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihm in Zukunft auf Antrag eine Genehmigung nach § 4 a Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative TierSchG zu erteilen. Dazu hat er eine weitere Fatwa des Fiqh-Rates vorgelegt, wonach ein Muslim zwingend verpflichtet sei, zum Opferfest ein warmblütiges Tier zu schlachten. Diese im Mai 1999 erstellte Fatwa ist von der Mitgliederversammlung der IRH für verbindlich erklärt worden.
Der Beklagte ist dem Begehren des Klägers entgegengetreten. Er hat vorgetragen, der Nachweis zwingender Vorschriften einer Religionsgemeinschaft könne nicht durch eine in eigener Sache erstellte Fatwa geführt werden. Die Fatwa eines regionalen Fiqh-Rates stelle eine individuelle Glaubensauffassung dar und sei nicht geeignet, eine zwingende Vorschrift einer Religionsgemeinschaft zu begründen.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 9. September 1999 im Hauptantrag abgewiesen, weil im Zeitpunkt der Erledigung des Genehmigungsantrages nicht nachgewiesen gewesen sei, dass der Kläger nach den Vorschriften seiner Glaubensgemeinschaft beim Opferfest zum Schlachten eines Opfertieres verpflichtet sei. Die seinerzeit vorliegende Fatwa vom März 1998 habe sich nur auf das Betäubungsverbot bezogen, die Frage einer Verpflichtung zur Schlachtung eines Opfertieres hingegen nicht zum Gegenstand gehabt. Dem Hilfsantrag des Klägers hat das Verwaltungsgericht demgegenüber stattgegeben. Dazu hat es ausgeführt, der Kläger habe ein Rechtsschutzbedürfnis für die begehrte Feststellung, weil nur auf diesem Wege die sich jedes Jahr neu stellende Frage des Anspruchs des Klägers auf die Genehmigung zum betäubungslosen Schlachten geklärt werden könne. Die Klage sei auch begründet. Die IRH sei eine Religionsgemeinschaft im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 TierSchG. Dazu sei erforderlich, dass sich Anhörige desselben Glaubensbekenntnisses (oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse) mit übereinstimmenden Auffassungen in religiöser Hinsicht zusammenschlössen, um ihr gemeinsames Bekenntnis nach außen kund zu tun und ihre durch das religiöse Bekenntnis gestellten Aufgaben gemeinsam zu erfüllen. Entscheidend sei insoweit, dass die Religionsgemeinschaft sich nach außen eindeutig abgrenze und nach innen in der Lage sei, ihre Mitglieder zwingenden Vorschriften zu unterwerfen. Diese Voraussetzungen seien erfüllt. Die IRH habe eine eindeutig abgegrenzte Organisation. Sie nehme eine eigenständige Entscheidungskompetenz in Glaubensfragen gegenüber ihren Mitgliedern in Anspruch und grenze sich damit auch gegenüber den verschiedenen Rechtsschulen des Islam und dem Islam insgesamt ab. Da einem Mitglied bei groben Verstößen gegen Beschlüsse der Organe die Mitgliedschaft entzogen werden könne, habe die IRH auch die Möglichkeit der Durchsetzung ihrer religiösen Vorstellungen.
Durch Vorlage der von der IRH für verbindlich erklärten Fatwas habe der Kläger den Nachweis geführt, dass er zwingend gehalten sei, zum Opferfest ein warmblütiges Tier zu schächten. Eine Überprüfung, ob diese Vorschriften sich tatsächlich aus dem Koran ergäben, und ihre Beurteilung auf „richtig” oder „falsch” sei den staatlichen Gerichten verwehrt.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte mit Zustimmung des Klägers die vom Verwaltungsgericht zugelassene Sprungrevision eingelegt. Er erstrebt die vollständige Abweisung der Klage. Er rügt die Verletzung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG. Danach setze die Ausnahmegenehmigung voraus, dass Normen einer Religionsgemeinschaft, die nach dem staatlicher Beurteilung unterliegenden Selbstverständnis der Gemeinschaft als zwingend zu gelten hätten, das Schächten vorschrieben. Nicht maßgebend sei hingegen eine individuelle Sichtweise, die allein auf die subjektive – wenn auch als zwingend empfundene – religiöse Überzeugung der Mitglieder der Religionsgemeinschaft abstelle. Hiernach reiche es nicht aus, dass die IRH ihren Mitgliedern das Schächten eines Tieres zum islamischen Opferfest vorschreibe. Es müsse vielmehr festgestellt werden, ob im Islam insgesamt, jedenfalls aber in dessen anerkannt abgegrenzten Glaubensrichtungen wie der der Sunniten oder Schiiten zwingende Vorschriften in Bezug auf ein Schächtgebot bestünden. Eine andere Auslegung sei auch durch Art. 4 Abs. 2 GG nicht geboten. Zum einen stelle der Tierschutz eine grundrechtsimmanente Schranke der freien Religionsausübung dar. Zum anderen sei durch eine Vielzahl von Äußerungen kompetenter islamischer Institutionen belegt, dass der Islam ein zwingendes Verbot der Betäubung von Schlachttieren nicht kenne.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger habe einen Anspruch auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung zum betäubungslosen Schlachten eines warmblütigen Tieres anlässlich des islamischen Opferfestes, beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht. Da die vom Verwaltungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen eine abschließende Entscheidung über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch nicht zulassen, ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
1. Das angefochtene Urteil verletzt § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG. Danach darf die Genehmigung zu einer Ausnahme von dem in § 4 a Abs. 1 TierSchG ausgesprochenen Verbot des betäubungslosen Schlachtens nur insoweit erteilt werden, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich des Tierschutzgesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Der Kläger stützt sein Begehren auf die erste der beiden in dieser Vorschrift geregelten Alternativen. Er macht geltend, aus Glaubensgründen am islamischen Opferfest zur Opferung eines warmblütigen Tieres durch rituelles Schächten verpflichtet zu sein. Die vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen tragen jedoch nicht dessen Ansicht, der Kläger gehöre einer Religionsgemeinschaft an, die durch zwingende Vorschriften ihren Angehörigen das Schächten vorschreibe.
2. Die gesetzliche Regelung, die die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung von zwingenden Vorschriften einer Religionsgemeinschaft abhängig macht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
2.1 Allerdings stellt dieses Erfordernis eine Beschränkung der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG grundrechtlich geschützten freien Religionsausübung dar. Dieses Grundrecht schützt nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern ebenso die Freiheit des kultischen Handelns, des Werbens und der Propaganda (vgl. BVerfGE, Beschluss vom 16. Oktober 1968 – 1 BvR 241.66 – BVerfGE 24 S. 236, 245). Die rituelle Opferung eines Tieres aus Gründen des Glaubens stellt eine kultische Handlung in diesem Sinne dar.
Das Recht auf Glaubensfreiheit einschließlich der ungestörten Religionsausübung ist ein Individualgrundrecht. Es steht in enger Beziehung zur Menschenwürde als dem zentralen Wert und Schutzgut der Verfassung (Art. 1 GG). Es kommt dem Einzelnen daher nicht nur als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zugute; vielmehr gestattet Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch Außenseitern und Sektierern die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß ihren subjektiven Glaubensüberzeugungen (vgl. BVerfGE, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 BvR 75.71 – BVerfGE 33 S. 23, 29). Deshalb stellt es eine Einschränkung der individuellen Glaubensfreiheit dar, wenn der Gesetzgeber das betäubungslose Schlachten nur nach Maßgabe zwingender Vorschriften einer Religionsgemeinschaft zulässt.
2.2 Diese Einschränkung ist jedoch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dabei kann offen bleiben, ob sich dies schon aus dem Grundsatz ergibt, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit Einschränkungen unterliegt, wenn es in Wiederstreit zu anderen Schutzgütern der Verfassung tritt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. April 1972 a.a.O. S. 29). In einem solchen Fall ist es in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers, aufgrund einer sachgerechten Güterabwägung die verschiedenen verfassungsrechtlich geschützten Interessen zu einem gerechten Ausgleich zu bringen.
Die in § 4 a Abs. 1 TierSchG für den Regelfall verlangte Betäubung warmblütiger Tiere vor der Schlachtung dient dem Tierschutz. Das Gebot fügt sich ein in den in § 1 TierSchG benannten Zweck des Gesetzes, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen, und in das diese Zweckbestimmung ergänzende Verbot, einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen. Es ist allerdings streitig, ob der so definierte Tierschutz Verfassungsrang genießt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage offen gelassen (vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Juli 1999 – 2 BvF 3.90 – BVerfGE 101 S. 1, 44). Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat sie verneint; in Bezug auf die hier insbesondere in den Blick zu nehmende Bestimmung des Art. 20 a GG, die die natürlichen Lebensgrundlagen unter den Schutz des Staates stellt, hat er allerdings nur ausgeführt, die Regelung verleihe als Staatszielbestimmung dem Einzelnen keine einklagbaren Rechte (vgl. Urteil vom 18. Juni 1997 – BVerwG 6 C 5.96 – BVerwGE 105 S. 73, 81). Demgegenüber wird in der Literatur zunehmend die Auffassung vertreten, auch der Tierschutz werde von der in Art. 20 a GG statuierten Schutzverpflichtung des Staates erfasst (vgl. Kloepfer in Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand Oktober 1996, Art. 20 a Rn. 50; Scholz in Maunz/Dürig/Herzog, GG, Stand Oktober 1996, Art. 20 a Rn. 36, 37; einschränkend Jarass/Pieroth, GG, 5. Auflage Art. 20 a Rn. 3: Nur wild lebende Tiere). Diese Auffassung hat auch der Deutsche Bundestag mehrheitlich vertreten (vgl. Beschluss vom 30. Juni 1994, BT-Prot. 12. WP; 238. Sitzung S. 21038 zu BTDrucks 12/8211).
Diese Frage bedarf hier aber keiner abschließenden Klärung, weil die Verfassungmäßigkeit der gesetzlichen Regelung davon letztlich nicht abhängt.
2.3. Nach Auffassung des erkennenden Senats ergibt sich die Legitimation des Gesetzgebers für die in § 4 a TierSchG getroffene Regelung aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 WRV. Nach der zuletzt genannten Bestimmung, die durch Art. 140 GG zum Bestandteil des Grundgesetzes geworden ist, werden die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Damit wird die Ausübung der Religionsfreiheit, wie sie in Art. 4 Abs. 2 GG gewährleistet ist, ausdrücklich unter einen staatsbürgerlichen Pflichtenvorbehalt gestellt. Zu den staatsbürgerlichen Pflichten zählt zu allererst die Gesetzesbefolgungspflicht (vgl. Muckel in Berliner Kommentar zum Grundgesetz Art. 4 Rn. 47). Nach verbreiteter Auffassung in der Literatur stellt daher Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 WRV das Grundrecht der freien Religionsausübung unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze; dazu zählen jedoch solche Gesetze nicht, die speziell die Ausübung der Religionsfreiheit zum Gegenstand haben und daran besondere Rechte oder Pflichten knüpfen (vgl. Jarass/Pieroth a.a.O. Art. 136 WRV Nr. 2; Muckel a.a.O. m.w.N.; von Mangold/Klein/Starck, GG, 4. Auflage 1999 Art. 4 Rn. 80).
Dem schließt sich der erkennende Senat an. Angesichts des weiten und subjektiv geprägten Schutzbereichs des Grundrechts der Religionsfreiheit geht es nicht an, alle aus einer Glaubensüberzeugung gespeisten Verhaltensweisen generell von der Verpflichtung zur Einhaltung der allgemeinen Gesetze freizustellen, soweit nicht ein von der Verfassung selbst geschütztes anderes Rechtsgut in Mitleidenschaft gezogen wird. Dies zeigt gerade die hier in Rede stehende Problematik des Tierschutzes. Spricht man dem Tierschutz den Verfassungsrang ab, so könnten selbst offenkundig tierquälerische und grausame rituelle Handlungen nicht unterbunden werden, wenn der Betreffende in ihnen die kultische Verwirklichung seiner Glaubensüberzeugungen sieht.
Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht zwar erklärt, das vom Grundgesetz gewährleistete Recht der Glaubensfreiheit werde weder durch die allgemeine Rechtsordnung noch durch eine unbestimmte Güterabwägungsklausel relativiert; insbesondere folge aus Art. 136 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG keine Begrenzungsmöglichkeit des einfachen Gesetzgebers, weil diese Vorschrift nach Bedeutung und innerem Gewicht im Zusammenhang der grundgesetzlichen Ordnung von Art. 4 Abs. 1 GG überlagert werde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 BvR 75/71 – BVerfGE 33 S. 23, 29, 31). Sollte diese Entscheidung im Sinne eines generellen Zurücktretens einfachrechtlicher Regelungen gegenüber der Berufung auf das Grundrecht der freien Religionsausübung zu verstehen sein, könnte der Senat dem aus den vorgenannten Gründen nicht folgen. Schon der vom Bundesverfassungsgericht verwandte Begriff der „Überlagerung” lässt jedoch insoweit Zweifel aufkommen. Es kommt hinzu, dass die Entscheidung nicht zu Art. 136 Abs. 1 WRV, sondern zu Art. 136 Abs. 4 WRV ergangen ist. Darüber hinaus ist das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. Dezember 1983 (1 BvR 209 u.a./83 – BVerfGE 65 S. 1, 39) selbst davon ausgegangen, dass die in Art. 4 Abs. 1 GG verankerte negative Bekenntnisfreiheit durch den Vorbehalt des Art. 136 Abs. 3 Satz 2 WRV eingeschränkt wird, der es den Behörden gestattet, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, wenn davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert. Ferner hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder die grundsätzliche Anwendbarkeit der allgemeinen Gesetze bei Handlungen im Rahmen der Religionsausübung angenommen, ohne die Frage nach ihrer Rechtfertigung durch andere Schutzgüter der Verfassung aufzuwerfen (vgl. u.a. Beschluss vom 5. Februar 1991 – 2 BvR 263/86 – BVerfGE 83 S. 356 ff.).
2.4 Das bedeutet allerdings nicht, dass die Auslegung und Anwendung der Vorschriften der allgemeinen Gesetze eine etwaige Beschränkung des Grundrechts der Religionsfreiheit unberücksichtigt lassen könnte. Sie müssen vielmehr in einer Weise erfolgen, die dem hohen Wert des Rechts auf freie Religionsausübung Rechnung trägt und seiner Verwirklichung soweit wie möglich Raum schafft.
Mit diesem Postulat vereinbar erscheinen insbesondere solche auf die Religionsausübung einwirkenden Regelungen, die die Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit der angeführten Glaubensentscheidung gewährleisten sollen. Andererseits müssen die allgemeinen Gesetze zurückweichen, wenn der konkrete Konflikt zwischen einer nach allgemeinen Anschauungen bestehenden Rechtspflicht und einem Glaubensgebot den Betroffenen in eine seelische Bedrängnis bringt, die unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht zu verantworten ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1971 – 1 BvR 387/65 – BVerfGE 32 S. 98, 109).
2.5 Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzustellen, dass § 4 a TierSchG ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 136 Abs. 1 WRV ist. Das Verbot des betäubungslosen Schlachtens in § 4 a Abs. 1 TierSchG richtet sich an alle Rechtsunterworfenen ohne Rücksicht auf ihre Religion. Der Gesetzgeber hat zwar in § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG Ausnahmemöglichkeiten im Hinblick auf die Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften vorgesehen. Das entkleidet aber das zugrunde liegende Verbot nicht seines allgemeinen Charakters.
Dass der Gesetzgeber die Ausnahmegenehmigung des § 4 a Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative TierSchG an die gemeinsame Glaubensüberzeugung einer Religionsgemeinschaft geknüpft hat, ist sachgerecht und verhältnismäßig. Hätte er allein auf individuelle Glaubensüberzeugungen Einzelner abgestellt, wäre die Gefahr eines Missbrauchs kaum einzuschränken. Das Abstellen auf eine Glaubensgemeinschaft bietet eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung eine ernsthafte und verantwortete Glaubensentscheidung zugrunde liegt.
Auch das Merkmal der „zwingenden Vorschriften” erscheint als eine sachgerechte Begrenzung des Rechts auf Religionsfreiheit. Durch dieses Merkmal wird gewährleistet, dass die Erlaubnis nur in Anspruch genommen werden kann, um dem Betroffenen eine ansonsten bei Beachtung des Schächtungsverbots unausweisliche seelische Bedrängnis zu ersparen. Dem Tier sollen die durch das betäubungslose Schlachten entstehenden Schmerzen und Leiden nur zugefügt werden dürfen, wenn der Begünstigte andernfalls eine anders nicht zu umgehende seelische Beeinträchtigung erleiden würde. Als in diesem Sinne „zwingend” sind daher solche Glaubensvorschriften anzusehen, deren Nichtbeachtung von den betroffenen Gläubigen als für ihre religiösen Erwartungen abträglich empfunden werden müsste. Diese Voraussetzung ist z.B. nicht gegeben, wenn die betreffenden Bestimmungen ein bestimmtes Verhalten zwar für Länder mit islamischer Bevölkerungsmehrheit vorschreiben, hiervon aber absehen im Hinblick auf Diasporagebiete bzw. solche Länder, deren Rechtsordnung entgegensteht.
Allerdings verbietet das Grundrecht der Religionsfreiheit, die vorstehend angesprochenen Erlaubnisvoraussetzungen in einem engen oder gar formalistischen Sinne zu verstehen. Der Schutzzweck des Tierschutzgesetzes würde es nicht rechtfertigen, als Glaubensgemeinschaft nur eine rechtlich verfasste Gruppe gelten zu lassen. Es ist nicht erforderlich, dass die Gemeinschaft, auf die der Antragsteller sich bezieht, als Religionsgesellschaft im Sinne des Art. 137 Abs. 5 WRV die Voraussetzungen für die Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft erfüllt oder gemäß Art. 7 Abs. 3 GG berechtigt ist, an der Erteilung von Religionsunterricht mitzuwirken. Daraus folgt zugleich, dass unter den in § 4 a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG genannten zwingenden Vorschriften keine quasigesetzliche Normierung verstanden werden darf. Es reicht vielmehr eine von der betreffenden Glaubensgemeinschaft als unbedingt verbindlich angesehene Verhaltensregel aus, unabhängig davon, ob diese auf eine Geltungsanordnung der Gemeinschaft oder auf eine transzendentale Grundlage wie die Annahme einer göttlichen Offenbarung gestützt ist. Für die Erteilung der Erlaubnis ist daher erforderlich aber auch ausreichend, dass der Antragsteller einer durch gemeinsame Glaubensüberzeugung verbundenen Gruppe von Menschen angehört, die das betäubungslose rituelle Schächten für sich aus religiösen Gründen als zwingende Verhaltensregel ansieht. Entscheidend ist insoweit das belegbare ernsthafte Bewusstsein einer für alle Mitglieder aus ihrem Glaubensverständnis heraus unausweichlichen Bindung.
3. Die vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen rechtfertigen nicht die Annahme, die vorgenannten Voraussetzungen seien hier erfüllt. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung allein auf die Zugehörigkeit des Klägers zur IRH und auf die von dieser für verbindlich erklärten Fatwas des Fiqh-Rates gestützt. Die IRH ist aber keine Religionsgemeinschaft im Sinne des § 4 a TierSchG, die ihre Mitglieder zwingenden Vorschriften zur Notwendigkeit des Schächtens unterwerfen könnte. Es fehlt ihr das dafür erforderliche spezifische religiöse Profil.
Die Mitglieder der IRH sind zwar sämtlich Anhänger des Islams. Dieser besteht aber nicht nur aus den beiden großen Richtungen der Schiiten und Sunniten, sondern gliedert sich zusätzlich in eine Reihe divergierende Rechtsschulen und andere Gruppierungen. Es ist das erklärte Ziel der IRH, alle diese Richtungen zu erfassen, um ihre gemeinsamen Interessen zu koordinieren und nach außen hin zu vertreten. Die IRH repräsentiert nach ihrem eigenen Vorbringen „die Vielfalt der Muslime in Hessen” und deren religiösen Konsens. Sie versteht sich somit in glaubensmäßiger Hinsicht als bloßes Sammelbecken von Moslems unterschiedlicher Herkunft und Bekenntnisse in einer bestimmen Region. Diese Zielsetzung schließt es aus, Glaubenswahrheiten für verbindlich zu erklären, die innerhalb des Islams umstritten sind.
Wie das Verwaltungsgericht festgestellt hat, gibt es in Hinblick auf das Schächten von Opfertieren keine einheitliche Auffassung des Islam. Etwas anderes behauptet selbst der Kläger nicht. Damit steht fest, dass die IRH entgegen ihrem Selbstverständnis ein nicht vom gesamtislamischen Konsens getragenes Religionsgebot für verbindlich erklärt hat. Mit dieser in sich widersprüchlichen Vorgehensweise hat sie ihre Gestaltungsfreiheit überschritten und daher eine staatlicherseits zu respektierende zwingende Norm im Sinne von § 4 a Abs. 2 TierSchG nicht entstehen lassen. Wie der Senat in seinem Urteil vom 15. Juni 1995 (BVerwG 3 C 31.93 – BVerwGE 99, 1 ≪4≫) entschieden hat, unterliegt es im Streitfall der Beurteilung der Gerichte, ob eine Norm der betreffenden Religionsgemeinschaft vorliegt, die nach dem Selbstverständnis der Mitglieder als zwingend zu gelten hat. Dies ist im vorliegenden Fall aus den dargelegten Gründen zu verneinen.
4. Weitere Feststellungen über die etwaige Zugehörigkeit des Klägers zu einer anderen Religionsgemeinschaft im oben dargelegten Sinn hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Angesichts der divergierenden Auffassungen innerhalb des Islam und seiner Rechtsschulen über das Bestehen eines Schächtgebots und über dessen Reichweite ist die Möglichkeit einer Zugehörigkeit des Klägers zu einer solchen Gruppe aber nicht auszuschließen. Die Sache ist daher gemäß § 144 Abs. 3 VwGO an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen zur Feststellung, ob der Kläger einer islamischen Glaubensrichtung angehört, die für sich die zwingende Notwendigkeit des betäubungslosen rituellen Schächtens als anerkannte bindende Verhaltensregel betrachtet. Dabei bedarf es insbesondere der Klärung, ob eine solche Verpflichtung auch unter den Bedingungen einer Diasporasituation und eines grundsätzlichen gesetzlichen Verbots des betäubungslosen Schlachtens als unausweislich betrachtet wird. Insoweit trifft den Kläger eine Darlegungs- und Beweislast.
Sollte das Verwaltungsgericht aufgrund der nunmehr zu treffenden Feststellungen erneut zu der Überzeugung gelangen, dass der Anspruch des Klägers auf eine Ausnahmegenehmigung dem Grunde nach besteht, wird es im Urteil sicher zu stellen haben, dass der Beklagte durch geeignete Nebenbestimmungen etwa hinsichtlich des Ortes der Schlachtung und der Person des Schächters den Belangen des Tierschutzes soweit wie möglich Rechnung tragen wird.
Unterschriften
Prof. Dr. Driehaus, van Schewick, Dr. Borgs-Maciejewski, Kimmel, Dr. Brunn
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 23.11.2000 durch Oertel Justizsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
NJW 2001, 1225 |
BVerwGE, 227 |
NVwZ 2001, 570 |
DÖV 2001, 381 |
GewArch 2001, 236 |
NuR 2001, 515 |
ZevKR 2001, 344 |
DVBl. 2001, 485 |
NPA 2001 |
FSt 2001, 440 |