Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 31.05.2006; Aktenzeichen 3 LD 6/05) |
VG Lüneburg (Urteil vom 22.06.2005) |
Tenor
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2006 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der 1965 geborene Beklagte trat im August 1982 in den Dienst der Deutschen Bundespost und wurde 1992 zum Beamten auf Lebenszeit ernannt. Ende April 2004 wurde er im Range eines Posthauptschaffners (Besoldungsgruppe A 4) wegen dauernder Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Aus seiner 1999 geschiedenen Ehe sind zwei Söhne hervorgegangen, die bei ihm leben.
Seit Ende August 2001 war der Beklagte im Zustellstützpunkt C. in der Zentralen Anschriftenclearingstelle tätig. Zusammen mit dem Beklagten des Parallelverfahrens BVerwG 2 C 25.06, der dort seit 1998 eingesetzt war, hatte er die Aufgabe, die richtigen Anschriften der hier als unzustellbar eingelieferten Sendungen zu ermitteln. Falls dies nicht möglich war, waren voll bezahlte Briefsendungen an den Absender zurückzuschicken; andernfalls waren die Sendungen an eine weitere Zentrale Clearingstelle in M… weiterzuleiten, wo besonders vereidigte Postbeamte berechtigt waren, die Sendungen zu öffnen, um anhand ihres Inhalts den Adressaten oder Absender zu ermitteln. Der Beklagte war zum Öffnen der Sendungen nicht berechtigt.
Neben Briefsendungen lief beim Beklagten auch sogenannte Info-Post ein, die durch den Aufdruck “Entgelt bezahlt” gekennzeichnet war; in der Regel handelte es sich dabei um gewerbliche Werbe- und Warensendungen. Unzustellbare Info-Post war auf eine eventuelle Vorausverfügung hin zu überprüfen, durch die der Absender etwa bestimmt hatte, unzustellbare Sendungen an ihn zurückzusenden. Info-Post ohne Vorausverfügung war bestimmungsgemäß zu vernichten. Zu diesem Zweck durfte die Sendung geöffnet werden, um den Abfall nach Wertstoffen (z.B. Werbegeschenke wie Kugelschreiber, Parfümproben oder CDs) zu sortieren. Die Mitarbeiter der Dienststelle waren nicht berechtigt, den Inhalt an sich zu nehmen. Es wurde lediglich geduldet, schwarzschreibende Kugelschreiber zur Verwendung am Arbeitsplatz zu behalten.
Zu einem nicht näher festgestellten Zeitpunkt war der Beklagte dazu übergegangen, nicht nur Info-Post, sondern gelegentlich auch Briefsendungen zu öffnen, die nach Absender, Format oder Konsistenz pornographische Fotos als Inhalt erwarten ließen. Gelegentlich öffnete er auch Warensendungen und Info-Post, um den Inhalt zu behalten. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts öffnete der Beklagte unberechtigterweise Briefsendungen in einer Vielzahl von Fällen. Am 29. Oktober 2002 wurde ihm die Führung der Dienstgeschäfte untersagt, kurz darauf leitete die Klägerin ein Disziplinarverfahren gegen ihn ein. Am 11. Februar 2003 wurde er seines Dienstes vorläufig enthoben. Durch Urteil vom 18. Mai 2004 verurteilte das Amtsgericht … den Beklagten rechtskräftig wegen Verletzung des Postgeheimnisses in Tateinheit mit Urkundenunterdrückung und in Tateinheit mit Diebstahl geringwertiger Sachen in fünf Fällen sowie wegen Diebstahls geringwertiger Sachen in drei Fällen zu einer Geldstrafe. Der Wert der vom Beklagten entnommenen Sachen beläuft sich, soweit er zahlenmäßig festgestellt werden konnte, auf 23 €. Nicht festgestellt wurde der Wert eines Videofilms, eines Ledergürtels und eines Buches.
Die Klägerin hat am 25. Februar 2005 Disziplinarklage mit dem Antrag erhoben, dem Beklagten das Ruhegehalt abzuerkennen. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag entsprochen. Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben, im Wesentlichen aus folgenden Gründen:
Das Verwaltungsgericht habe dem Beklagten zu Recht das Ruhegehalt aberkannt. Wie er in beiden Instanzen eingeräumt habe, habe er in zahlreichen Fällen das Postgeheimnis verletzt und Urkunden unterdrückt sowie mehrmals den Inhalt von Postsendungen gestohlen. Dadurch habe er schuldhaft seine Pflichten zu uneigennütziger Amtsführung, achtungswürdigem Verhalten und zur Ausführung und Befolgung dienstlicher Anordnungen verletzt und dadurch ein Dienstvergehen begangen, das die Aberkennung des Ruhegehalts erforderlich mache. Als aktiver Beamter hätte er aus dem Dienst entfernt werden müssen. Von der Höchstmaßnahme könne bei innerdienstlich begangenen Zugriffsdelikten nur dann abgesehen werden, wenn einer der von der Rechtsprechung entwickelten, abschließend formulierten außergewöhnlichen Milderungsgründe vorliege, was hier weder vom Beklagten geltend gemacht noch sonst ersichtlich sei. Die Aberkennung des Ruhegehalts sei auch nicht unverhältnismäßig. Bei Zugriffsdelikten sei der durch das Gewicht des Dienstvergehens eingetretene Vertrauensschaden mangels Milderungsgründen so erheblich, dass bei aktiven Beamten die Entfernung aus dem Dienst geboten sei. Gegenüber Ruhestandsbeamten sei die Höchstmaßnahme geeignet und erforderlich, um den Zwecken der Disziplinarmaßnahme Geltung zu verschaffen. Sei das Vertrauensverhältnis zerstört, erweise sich die Aberkennung des Ruhegehalts nicht deshalb als unangemessen, weil die Klägerin es offenbar zugelassen habe, dass schwarzschreibende Kugelschreiber zur Verwendung am Arbeitsplatz der Info-Post entnommen wurden. Der Beklagte habe überwiegend auf sonstige Postsendungen zugegriffen. Er könne nicht geltend machen, die Klägerin habe ihm gewissermaßen den Weg zur Begehung der Straftaten aufgezeigt. Er habe vielmehr aus eigenem Willensentschluss seine Vertrauensposition missbraucht. Weder seine langjährige ordnungsgemäße Amtsführung noch die Einräumung der Straftaten nach deren Entdeckung noch die gesundheitliche Belastung des Beklagten durch das Disziplinarverfahren wögen den vollständigen Vertrauensverlust auf. Auch die strafrechtliche Verurteilung zu einer Geldstrafe führe angesichts der unterschiedlichen Zwecke der Verfahren zu keinem anderen Ergebnis. Dies gelte auch für die wirtschaftlichen Einbußen als Folge der Höchstmaßnahme.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Er beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2006 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 22. Juni 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die genannten Urteile aufzuheben und auf eine mildere Maßnahme zu erkennen.
Die Klägerin tritt der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 69 BDG, § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Dies führt zur Aufhebung und Zurückverweisung.
1. Die bei der Deutschen Post AG beschäftigten Bundesbeamten unterliegen hinsichtlich ihrer beruflichen Tätigkeit den Regeln über den beamtenrechtlichen Dienst und damit dem Disziplinarrecht (Urteil vom 20. August 1996 – BVerwG 1 D 80.95 – BVerwGE 103, 375 ≪377 f.≫).
2. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, nämlich § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG, weil das Berufungsgericht bei der Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme von einem unzutreffenden Maßstab und von unzureichenden Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist.
Gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ist die Disziplinarmaßnahme nach der Schwere des Dienstvergehens unter angemessener Berücksichtigung der Persönlichkeit des Beamten und des Umfangs der durch das Dienstvergehen herbeigeführten Vertrauensbeeinträchtigung zu bestimmen. Den Bedeutungsgehalt dieser gesetzlichen Begriffe hat der Senat in dem Urteil vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – (BVerwGE 124, 252 ≪258 ff.≫; vgl. auch Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 – zur Veröffentlichung vorgesehen) näher dargelegt. Danach ist maßgebendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG die Schwere des Dienstvergehens. Sie beurteilt sich zum einen nach Eigenart und Bedeutung der verletzten Dienstpflichten, Dauer und Häufigkeit der Pflichtenverstöße und den Umständen der Tatbegehung (objektive Handlungsmerkmale), zum anderen nach Form und Gewicht des Verschuldens und den Beweggründen des Beamten für sein pflichtwidriges Verhalten (subjektive Handlungsmerkmale) sowie nach den unmittelbaren Folgen für den dienstlichen Bereich und für Dritte, insbesondere nach der Höhe des entstandenen Schadens.
Das Bemessungskriterium “Persönlichkeitsbild des Beamten” gemäß § 13 Abs. 1 Satz 3 BDG erfasst dessen persönliche Verhältnisse und sein sonstiges dienstliches Verhalten vor, bei und nach der Tat. Es erfordert eine Prüfung, ob das festgestellte Dienstvergehen dem bisher gezeigten Persönlichkeitsbild des Beamten entspricht oder etwa als persönlichkeitsfremdes Verhalten in einer Notlage oder einer psychischen Ausnahmesituation davon abweicht. Einen Aspekt des Persönlichkeitsbildes stellt tätige Reue dar, wie sie durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils noch vor drohender Entdeckung zum Ausdruck kommt.
Das Bemessungskriterium “Umfang der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit” gemäß § 13 Abs. 1 Satz 4 BDG erfordert eine Würdigung des Fehlverhaltens des Beamten im Hinblick auf seinen allgemeinen Status, seinen Tätigkeitsbereich innerhalb der Verwaltung und seine konkret ausgeübte Funktion.
Aus den gesetzlichen Vorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG folgt die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte, über die erforderliche Disziplinarmaßnahme aufgrund einer auch prognostischen Gesamtwürdigung aller im Einzelfall belastenden und entlastenden Gesichtspunkte zu entscheiden. Dies entspricht dem Zweck der Disziplinarbefugnis als eines Mittels der Funktionssicherung des öffentlichen Dienstes. Danach ist Gegenstand der disziplinarrechtlichen Betrachtung und Wertung die Frage, welche Disziplinarmaßnahme in Ansehung der gesamten Persönlichkeit des Beamten geboten ist, um die Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und die Integrität des Berufsbeamtentums möglichst ungeschmälert aufrechtzuerhalten (Beschlüsse vom 6. Juli 1984 – BVerwG 1 DB 21.84 – BVerwGE 76, 176 ≪177 ff.≫ und vom 13. Oktober 2005 – BVerwG 2 B 19.05 – Buchholz 235.1 § 15 BDG Nr. 2; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 9. August 2006 – 2 BvR 1003/05 – DVBl 2006, 1372 ≪1373≫; Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003 – 2 BvR 1413/01 – NVwZ 2003, 1504).
Bei der Gesamtwürdigung haben die Verwaltungsgerichte zunächst die im Einzelfall bemessungsrelevanten Tatsachen zu ermitteln und mit dem ihnen zukommenden Gewicht in die Bewertung einzubeziehen. Insbesondere bei der Bestimmung der Schwere des Dienstvergehens dürfen nur solche belastenden Tatsachen berücksichtigt werden, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Demgegenüber sind entlastende Umstände nach dem Grundsatz “in dubio pro reo” schon dann beachtlich, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich ist.
Auf der Grundlage des so zusammengestellten Tatsachenmaterials haben die Verwaltungsgerichte eine Prognose über das voraussichtliche dienstliche Verhalten des Beamten zu treffen und das Ausmaß der von ihm herbeigeführten Ansehensbeeinträchtigung des Berufsbeamtentums einzuschätzen. Bei schweren Dienstvergehen stellt sich vorrangig die Frage, ob der Beamte nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist. Gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG ist ein aktiver Beamter aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen, wenn er das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat. Dies ist anzunehmen, wenn aufgrund der Gesamtwürdigung aller im Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden Gesichtspunkte der Schluss gezogen werden muss, der Beamte werde auch künftig in erheblicher Weise gegen Dienstpflichten verstoßen oder die durch sein Fehlverhalten herbeigeführte Schädigung des Ansehens des Berufsbeamtentums sei bei einer Fortsetzung des Beamtenverhältnisses nicht wieder gutzumachen. Unter diesen Voraussetzungen muss das Beamtenverhältnis im Interesse der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes und der Integrität des Berufsbeamtentums beendet werden. Hat ein Ruhestandsbeamter im aktiven Dienst ein schweres Dienstvergehen begangen, das die Entfernung aus dem Dienst nach sich gezogen hätte, so ist ihm das Ruhegehalt abzuerkennen (§ 13 Abs. 2 Satz 2 BDG). Durch diese Maßnahme wird das Ruhestandsbeamtenverhältnis beendet. Ihr liegen zum einen generalpräventive Erwägungen zugrunde: Es wären Rückwirkungen auf das Vertrauen in die Integrität des Berufsbeamtentums zu erwarten, wenn ein Ruhestandsbeamter, der wegen eines schweren Dienstvergehens als aktiver Beamter nicht mehr tragbar wäre, weiterhin sein Ruhegehalt beziehen könnte und berechtigt bliebe, die Amtsbezeichnung und die im Zusammenhang mit dem früheren Amte verliehenen Titel zu führen. Zum anderen gebietet der Grundsatz der Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, dass ein Beamter, der nach Begehung eines zur Auflösung des Beamtenverhältnisses führenden Dienstvergehens in den Ruhestand tritt, nicht besser gestellt wird als ein Beamter, der bis zum Abschluss des Disziplinarverfahrens im aktiven Dienst verbleibt (Urteil vom 23. November 2006 – BVerwG 1 D 1.06 – Rn. 28, ZBR 2007, 94 ≪95≫; Beschluss vom 13. Oktober 2005 – BVerwG 2 B 19.05 – a.a.O., m.w.N.).
Ergibt die prognostische Gesamtwürdigung, dass ein endgültiger Vertrauensverlust noch nicht eingetreten ist, haben die Verwaltungsgerichte diejenige Disziplinarmaßnahme zu verhängen, die erforderlich ist, um den Beamten zur Beachtung der Dienstpflichten anzuhalten und der Ansehensbeeinträchtigung entgegenzuwirken.
Als maßgebendes Bemessungskriterium ist die Schwere des Dienstvergehens gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 BDG richtungsweisend für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme. Dies bedeutet, dass das festgestellte Dienstvergehen zunächst nach seiner Schwere einer der im Katalog des § 5 BDG aufgeführten Disziplinarmaßnahmen zuzuordnen ist. Dabei können die vom Disziplinarsenat des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Fallgruppen herausgearbeiteten Regeleinstufungen von Bedeutung sein (vgl. zum innerdienstlichen Betrug Urteil vom 4. Mai 2006 – BVerwG 1 D 13.05 – juris Rn. 29; zum Fernbleiben vom Dienst Urteil vom 12. Oktober 2006 – BVerwG 1 D 2.05 – juris Rn. 51; zur Vorteilsannahme Urteil vom 23. November 2006 – BVerwG 1 D 1.06 – a.a.O.). Davon ausgehend kommt es für die Bestimmung der Disziplinarmaßnahme darauf an, ob Erkenntnisse zum Persönlichkeitsbild und zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung im Einzelfall derart ins Gewicht fallen, dass eine andere als die durch die Schwere des Dienstvergehens indizierte Disziplinarmaßnahme geboten ist.
Nach dem Urteil des Senats vom 20. Oktober 2005 (a.a.O. ≪260 ff.≫) gelten die Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG auch für die Fallgruppe der Zugriffsdelikte, d.h. für die Veruntreuung dienstlich anvertrauter Gelder und Güter. Aufgrund der Schwere dieser Dienstvergehen ist hier die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bzw. die Aberkennung des Ruhegehalts grundsätzlich Richtschnur für die Maßnahmebestimmung, wenn die veruntreuten Beträge oder Werte insgesamt die Schwelle der Geringwertigkeit deutlich übersteigen. Diese Indizwirkung entfällt jedoch, wenn sich im Einzelfall aufgrund des Persönlichkeitsbildes des Beamten Entlastungsgründe von solchem Gewicht ergeben, dass die prognostische Gesamtwürdigung den Schluss rechtfertigt, der Beamte habe das Vertrauensverhältnis noch nicht endgültig zerstört.
Als durchgreifende Entlastungsgründe kommen vor allem die Milderungsgründe in Betracht, die in der Rechtsprechung des Disziplinarsenats des Bundesverwaltungsgerichts zu den Zugriffsdelikten entwickelt worden sind. Diese Milderungsgründe erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose geben. Zum einen tragen sie existenziellen wirtschaftlichen Notlagen sowie körperlichen oder psychischen Ausnahmesituationen Rechnung, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet und daher nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Zum anderen erfassen sie ein tätiges Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils vor drohender Entdeckung.
Unter der Geltung der Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG ist es jedoch nicht mehr möglich, diese Milderungsgründe als abschließenden Kanon der bei Zugriffsdelikten allein beachtlichen Entlastungsgründe anzusehen (vgl. Urteile vom 20. Oktober 2005 – BVerwG 2 C 12.04 – a.a.O. S. 262 und vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 –). Vielmehr gelten auch hier die dargestellten Anforderungen an die prognostische Gesamtwürdigung. Demnach dürfen entlastende Gesichtspunkte bei Zugriffsdelikten nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil sie für das Vorliegen eines solchen Milderungsgrundes ohne Bedeutung sind oder nicht ausreichen, um dessen Voraussetzungen – im Zusammenwirken mit anderen Umständen – zu erfüllen. Die Milderungsgründe bieten jedoch Vergleichsmaßstäbe für die Bewertung, welches Gewicht entlastenden Gesichtspunkten in der Summe zukommen muss, um eine Fortsetzung des Beamtenverhältnisses in Betracht ziehen zu können. Generell gilt, dass deren Gewicht umso größer sein muss, je schwerer das Zugriffsdelikt auf Grund der Höhe des Schadens, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von “Begleitdelikten” und anderer belastender Gesichtspunkte im Einzelfall wiegt.
3. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die sich ihrerseits auf die nicht angegriffenen und daher gemäß § 57 BDG bindenden Feststellungen des Strafgerichts in seinem Urteil vom 18. Mai 2004 stützen, hat der Beklagte in drei Fällen Briefsendungen, in einem Falle ein Päckchen und in einem weiteren Falle eine Buchsendung geöffnet, den Inhalt (ein Buch, einen Ledergürtel, vier pornographische Aufnahmen, ein Aktfoto sowie zwei sonstige Fotos) an sich genommen und dadurch das Postgeheimnis verletzt (§ 206 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB). Zugleich hat er in diesen Fällen Urkunden unterdrückt bzw. Sachen gestohlen, die das Amtsgericht in fünf Fällen als geringwertig angesehen hat. Weiterhin hat er in drei Fällen geringwertige Sachen gestohlen. In diesen zuletzt genannten Fällen hat das Amtsgericht zugunsten des Beklagten angenommen, dass es sich um “Info-Post” gehandelt hatte, die der Beklagte öffnen durfte, ohne sich allerdings ihren Inhalt zuzueignen.
Soweit das Berufungsgericht in diesen vorsätzlichen Dienstpflichtverletzungen Zugriffshandlungen gesehen hat, ist seine Rechtsauffassung, die Aberkennung des Ruhegehalts sei bereits deshalb geboten, weil kein anerkannter Milderungsgrund gegeben sei, nicht mit den gesetzlichen Bemessungsvorgaben gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG vereinbar. Das Berufungsurteil wird insoweit den dargestellten Anforderungen an die prognostische Gesamtwürdigung nicht gerecht. Es hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, das Vorliegen “anerkannter Milderungsgründe” zu prüfen und zu verneinen. Alle vom Beklagten geltend gemachten Milderungsgründe hat es lediglich daraufhin untersucht, ob sie geeignet seien, die Verhängung der Höchstmaßnahme als unverhältnismäßig anzusehen.
Auf dieser unzutreffenden Rechtsauffassung beruht das angefochtene Urteil.
4. Mangels ausreichender Feststellungen ist der Senat nicht in der Lage, selbst über die angemessene Maßnahme zu entscheiden. Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, (§ 70 Abs. 2 BDG, § 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO).
Das Revisionsgericht hat bei der Anwendung des revisiblen Rechts auf den festgestellten Sachverhalt (§ 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG) grundsätzlich dieselben Befugnisse und Entscheidungsmöglichkeiten, die das Berufungsgericht im Falle einer Zurückverweisung hätte (Urteil vom 6. Juli 1994 – BVerwG 11 C 12.93 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 271). Das Bundesdisziplinargesetz enthält insoweit keine Einschränkungen, während gemäß § 82 Abs. 3 Satz 2 DRiG das Revisionsurteil des Dienstgerichts des Bundes in Richterdisziplinarsachen nur auf Zurückweisung der Revision oder Aufhebung des angefochtenen Urteils lauten kann. Vielmehr gilt die Regelung des § 60 Abs. 2 Satz 2 BDG, die den Verwaltungsgerichten die Befugnis zur Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme überträgt, gemäß § 70 Abs. 1, § 65 Abs. 1 Satz 1 BDG auch für das Revisionsverfahren (vgl. Weiß, GKÖD, Disziplinarrecht, M… § 70 Rn. 27, 28; Mayer, in: Köhler/Ratz, BDG, 3. Aufl., § 70 Rn. 2).
Der Senat kann von dieser Befugnis jedoch nur Gebrauch machen, wenn er aufgrund der gemäß § 137 Abs. 2 VwGO, § 69 BDG bindenden tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils eine gesetzeskonforme, d.h. den Anforderungen gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG genügende Bemessungsentscheidung treffen kann. Er kann weder Tatsachen berücksichtigen, die nicht festgestellt sind, noch die Richtigkeit der festgestellten Tatsachen nachprüfen.
Daher kann der Senat über die Disziplinarklage nur dann abschließend entscheiden, wenn das Berufungsurteil alle wesentlichen bemessungsrelevanten Gesichtspunkte enthält. Ansonsten muss es gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO, § 70 Abs. 2 BDG aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden (vgl. Urteil vom 3. Mai 2007 – BVerwG 2 C 9.06 –).
5. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils reichen nicht für die Maßnahmebemessung gemäß § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4, Abs. 2 Satz 1 BDG aus. Zwar hat das Berufungsgericht das äußere Tatgeschehen und den Wert der vom Beklagten angeeigneten fremden Gegenstände festgestellt, indem es sich ohne eigene Beweiserhebung die Feststellungen des Strafrichters zu Eigen gemacht hat (§ 65 Abs 1, § 57 BDG). Somit steht fest, dass der Beklagte sich nicht nur an sogenannter “Info-Post”, die er öffnen durfte und erforderlichenfalls sogar öffnen musste, um den zu vernichtenden Inhalt stoffmäßig richtig zu sortieren, sondern in fünf Fällen auch an Sendungen vergriffen hat, die er nicht öffnen durfte. Fest steht ferner, dass er den Inhalt dieser Sendungen an sich genommen hat, wobei es sich um pornographische Aufnahmen, ein Aktfoto und sonstige Fotos, einen Ledergürtel und ein Buch gehandelt hat. Soweit es sich festgestelltermaßen oder möglicherweise um Info-Post gehandelt hat, hat der Beklagte diesen Sendungen einen Video-Film, eine Musik-CD und einen Schlüsselanhänger entnommen. Der feststellbare Wert aller entnommenen Sachen belief sich auf insgesamt 23 €. Insoweit sind die Ermittlungen des Berufungsgerichts vollständig.
Über den Zeitraum, innerhalb dessen der Beklagte die ihm zur Last gelegten Taten begangen hat, hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. Dem Berufungsurteil ist hierzu lediglich zu entnehmen, dass der Beklagte seit Ende August 2001 im Zustellstützpunkt C. in der Zentralen Anschriftenclearingstelle tätig war und dass ihm am 29. Oktober 2002 die Führung der Dienstgeschäfte untersagt wurde. Damit steht zumindest fest, dass der Beklagte innerhalb eines Zeitraums von 14 Monaten die Dienstvergehen begangen haben muss. Festgestellt hat das Berufungsgericht ferner, dass der Beklagte seit seiner Einstellung 1982 bis zum Ende seiner Tätigkeit 2002, also etwa 20 Jahre lang, seinen Dienst unbeanstandet verrichtet hat.
Als entlastenden Umstand hat das Berufungsgericht den vom Beklagten erhobenen Einwand geprüft und verworfen, die Klägerin selbst habe für eine Lockerung des Rechtsgefühls gesorgt, indem sie die Verwendung schwarzschreibender Kugelschreiber geduldet habe. Zum einen betraf diese Duldung nur “Info-Post”, die der Beklagte öffnen durfte; zum anderen war die Verwendung nur für den Dienstgebrauch gestattet, eine Zueignung durch Bedienstete der Post also nicht zugelassen.
Den Feststellungen des Berufungsgerichts ist schließlich zu entnehmen, dass der Beklagte im Umfang der abgeurteilten Taten ein Geständnis abgelegt hat, nachdem die Ermittlungen gegen ihn auf der Grundlage einer anonymen Anzeige in Gang gekommen waren und zu einer Wohnungsdurchsuchung geführt hatten. Zu den gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die der Beklagte nach der Entdeckung der Tat erlitten hat und die Ende April 2004 zu seiner Versetzung in den Ruhestand geführt haben, hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen.
6. Das Schwergewicht des dem Beklagten zur Last fallenden Dienstvergehens liegt nicht allein oder vorwiegend in den Briefberaubungen (Zugriffsdelikt), sondern mindestens gleichgewichtig in der darin mitenthaltenen Verletzung des Postgeheimnisses. Hiervon ist zwar nicht, wie das Berufungsgericht ohne zureichende Differenzierung angenommen hat, “in einer Vielzahl von Fällen”, wohl aber in den fünf Fällen auszugehen, in denen der Beklagte nach den bindenden und auch von ihm nicht bestrittenen Feststellungen des Strafgerichts Brief-, Päckchen- und Buchsendungen geöffnet hat. Die Verletzung des Postgeheimnisses stellt als solche bereits ein schweres Dienstvergehen dar, da von einem Postbeamten erwartet werden muss, dass er dieses grundrechtlich (Art. 10 Abs. 1 GG) und einfachrechtlich (§ 39 PostG und § 206 StGB) geschützte Rechtsgut achtet und mit besonderer Sorgfalt respektiert. Auf den Inhalt der geöffneten Sendungen – auch, soweit der Beklagte ihn sich angeeignet hat – kommt es in diesem Zusammenhang weniger an, zumal es eher vom Zufall abhing, ob es sich dabei um wertvolles Gut handelte oder um geringwertige oder gar wertlose Gegenstände. Es kann den Beklagten daher nicht entscheidend entlasten, dass er sich aus den Sendungen Waren angeeignet hat, deren materieller Wert gering war und vom Strafgericht unter dem Gesichtspunkt der Zueignung lediglich als Diebstahl geringwertiger Sachen eingestuft worden ist.
Das dem Beklagten zur Last fallende Dienstvergehen wiegt schwer. Er hat ohne Not und ohne erkennbare psychische Fehlsteuerung Dienstanweisungen verletzt, das Postgeheimnis gebrochen, Urkunden unterdrückt und den Inhalt der Sendungen gestohlen. Auch wenn es sich dabei überwiegend um Gegenstände von geringem Wert handelte, wiegt das Delikt schwer, weil von einem Postbeamten erwartet werden muss, dass er sich nicht am Inhalt der Post anvertrauter Sendungen vergreift.
7. Bei der nach § 13 Abs. 1 und 2 BDG erforderlichen Gesamtwürdigung ist aber auch zu berücksichtigen, in welcher psychischen Situation sich der Beklagte befand, als er die ihm zur Last gelegten Taten beging. Er war hier an der Seite seines dienst- und lebensälteren Kollegen tätig, der bereits mehrere Jahre in der Zentralen Clearingstelle eingesetzt war, und damit dessen Einfluss ausgesetzt. Nach den Umständen dieses Falles erscheint es durchaus möglich, dass der Beklagte lediglich Mitläufer bei einer Handlungsweise war, die sein nach den Feststellungen des Strafgerichts quasi eine Gruppenleiterfunktion ausübender Kollege bereits seit längerer Zeit praktiziert hatte. Nach den vom Berufungsgericht übernommenen Feststellungen des Amtsgerichts “war bekannt, dass” dieser Kollege “auf Kritik äußerst unbeherrscht reagieren konnte”. Die Akten enthalten Hinweise, dass dieser Kollege möglicherweise die treibende Kraft bei den Straftaten war und durch seine Unbeherrschtheit und Dominanz den Beklagten in eine Rolle hineingedrängt hat, in der dieser Schwierigkeiten gehabt haben mag, sich der Teilnahme an den Dienstvergehen seines Quasi-Vorgesetzten zu widersetzen. Ob sich derartige Feststellungen treffen lassen und ob sie gegebenenfalls neben der Geringwertigkeit der geraubten Sachen bei der Feststellung der Schwere des Dienstvergehens mildernd ins Gewicht fallen – eine mögliche Entlastung im Hinblick auf die Verletzung des Postgeheimnisses könnte die Briefberaubungen wegen deren Geringwertigkeit in milderem Licht erscheinen lassen –, ist Sache des Tatrichters und nicht des Revisionsgerichts.
Die erneute Verhandlung wird dem Berufungsgericht Gelegenheit geben, die näheren Umstände der dem Beklagten zur Last gelegten Dienstvergehen aufzuklären. Auf der Grundlage dieser weiteren Feststellungen wird das Berufungsgericht sodann darüber zu entscheiden haben, welches Gewicht den Milderungsgründen nicht nur je einzeln, sondern auch in ihrer Gesamtheit zukommt. Sollte danach das Gewicht des Dienstvergehens geringfügig unterhalb der Schwelle liegen, die einen völligen Vertrauensverlust zur Folge haben muss, wäre zu erwägen, ob eine unterhalb der Aberkennung des Ruhegehalts liegende Maßnahme tat- und schuldangemessen wäre, die wegen der strafrechtlichen Verurteilung des Beklagten nicht mehr verhängt werden darf (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 BDG).
Unterschriften
Albers, Dr. Kugele, Dr. Müller, Groepper, Dr. Heitz
Fundstellen