Entscheidungsstichwort (Thema)
Örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers
Leitsatz (amtlich)
Haben die Eltern des Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger und verlieren beide Elternteile das Personensorgerecht, so richtet sich die örtliche Zuständigkeit nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, sondern nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.
Verfahrensgang
VG Minden (Urteil vom 14.03.2023; Aktenzeichen 6 K 861/20) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Minden vom 14. März 2023 im Ausspruch über die Zahlung von Prozesszinsen dahin geändert, dass die Beklagte Prozesszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus dem Betrag von 116 674,80 € ab dem 6. April 2020, aus dem weiteren Betrag von 179 106,64 € ab dem 12. September 2022 und aus dem weiteren Betrag von 34 228,69 € ab dem 27. Februar 2023 zu zahlen hat.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, ein hessischer Landkreis, begehrt von der beklagten nordrhein-westfälischen Stadt die Erstattung von Jugendhilfekosten in Höhe von etwa 330 000 €.
Rz. 2
Die Eltern des 2008 geborenen Kindes M. lebten seit 2012 getrennt. Das Kind wohnte im Zuständigkeitsbereich der Beklagten bei seinem Vater, dem das Familiengericht Ende Juni 2017 die elterliche Sorge entzog. Anfang Juli 2017 nahm die Beklagte das Kind in Obhut und erbrachte Jugendhilfeleistungen. Der Kläger übernahm den Hilfefall zum 1. September 2017 in seine Zuständigkeit, weil die nunmehr allein sorgeberechtigte Mutter seit 2014 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in seinem Zuständigkeitsbereich hatte. Nachdem das Familiengericht am 2. Mai 2018 auch der Mutter das Sorgerecht entzog, vertrat der Kläger gegenüber der Beklagten erfolglos die Auffassung, diese müsse die entstandenen Jugendhilfekosten erstatten. Sie sei für den Hilfefall wieder zuständig geworden, weil die elterliche Sorge ab dem 2. Mai 2018 keinem Elternteil zugestanden und das Kind vor Beginn der Jugendhilfeleistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt beim Vater gehabt habe, der im Zuständigkeitsbereich der Beklagten lebe.
Rz. 3
Der Kläger hat am 6. April 2020 Leistungs- und Feststellungsklage erhoben. Mit Urteil vom 14. März 2023 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren eingestellt, soweit der Kläger die Feststellungsklage zurückgenommen hat. Im Übrigen hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger die im Hilfefall im Zeitraum vom 2. Mai 2018 bis zum 28. Februar 2023 unter Anrechnung vereinnahmten Kindergeldes in Höhe von 12 137,54 € angefallenen Kosten in Höhe von 330 010,13 € zu erstatten und an ihn Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz teilweise ab Rechtshängigkeit, teilweise ab Fälligkeit der Hauptforderung zu zahlen. Der Kostenerstattungsanspruch ergebe sich aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Der Kläger habe die Jugendhilfeleistung nach dem Entzug des Sorgerechts der Mutter nach § 86c SGB VIII erbracht. Mit diesem Sorgerechtsentzug sei die Beklagte gemäß § 86 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 3 SGB VIII wieder zuständiger Jugendhilfeträger geworden, weil die Eltern vor Beginn und während der Hilfeleistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt hätten und das Kind vor Beginn der Hilfeleistung beim Vater im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gelebt habe. Die örtliche Zuständigkeit richte sich in einem solchen Fall nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII.
Rz. 4
Hiergegen macht die Beklagte mit ihrer Sprungrevision geltend, ein Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht, weil der Kläger in Anwendung von § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII zuständiger Jugendhilfeträger geblieben sei. Ferner rügt sie die Berechnung der Prozesszinsen.
Rz. 5
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die nach § 134 VwGO zulässige Sprungrevision hat ganz überwiegend keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger ein Kostenerstattungsanspruch gegen die Beklagte in der geltend gemachten Höhe gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 des Achten Buches Sozialgesetzbuch - Kinder- und Jugendhilfe - i. d. F. der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII - zusteht, weil sich in der vorliegenden Fallkonstellation die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII, sondern nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII richtet und die Beklagte daher der zuständige Jugendhilfeträger war (1.). Das angefochtene Urteil verstößt allerdings gegen die entsprechend anzuwendende Regelung des § 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB und damit gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit das Verwaltungsgericht die Beklagte auch zur Zahlung von Prozesszinsen nach Maßgabe der Fälligkeit der Hauptforderung verurteilt hat (2.), weshalb der Urteilstenor entsprechend abzuändern war.
Rz. 7
1. Der Kläger hat aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII einen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihm in dem Jugendhilfefall im Zeitraum vom 2. Mai 2018 bis zum 28. Februar 2023 entstanden sind. Danach sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Rz. 8
Der Kläger hat nach den von der Beklagten nicht angegriffenen und daher den Senat nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts als örtlicher Träger der Jugendhilfe in dem im Streit stehenden Zeitraum zugunsten des Kindes M. Hilfe zur Erziehung erbracht und dafür die Kosten getragen. Er erfüllt auch die weitere Voraussetzung des Erstattungsanspruchs aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, weil er diese Kosten für den Jugendhilfefall im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewandt hat. Gemäß § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bleibt der bisher zuständige örtliche Träger im Falle eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit so lange zur Gewährung der Leistung verpflichtet, bis der nunmehr zuständige örtliche Träger die Leistung fortsetzt. Zwischen den Beteiligten steht nicht im Streit, dass die Beklagte den Hilfefall im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in die eigene Zuständigkeit übernommen und demzufolge in dieser Zeit auch keine Jugendhilfeleistungen erbracht hat. Ihr Streit konzentriert sich vielmehr darauf, ob die Beklagte aufgrund eines Wechsels der örtlichen Zuständigkeit in diesem Zeitraum örtlich zuständig gewesen ist und der Kläger demgemäß die in Rede stehenden Leistungen in Erfüllung einer Verpflichtung nach § 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII aufgewendet hat. Das ist zu bejahen.
Rz. 9
a) Der Kläger war ursprünglich gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII örtlich zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Danach ist, wenn die Elternteile (bei Beginn der Leistung) verschiedene gewöhnliche Aufenthalte (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I) haben, der Träger örtlich zuständig, in dessen Bereich der (allein) personensorgeberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Zwar haben die nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII maßgeblichen Jugendhilfeleistungen entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht bereits mit der Inobhutnahme am 3. Juli 2017 eingesetzt, weil es sich bei dieser nicht um eine Leistung (§ 2 Abs. 2 SGB VIII), sondern um eine andere Aufgabe der Jugendhilfe (§ 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII) handelt (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. März 2010 - 5 C 12.09 - BVerwGE 136, 185 Rn. 21 ff. und vom 24. Juni 2021 - 5 C 10.19 - BVerwGE 173, 61 Rn. 16 zum Kostenerstattungsanspruch nach § 89b Abs. 1 SGB VIII). Nach den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts begannen die Jugendhilfeleistungen in Form der Heimerziehung jedoch ebenfalls im Juli 2017. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte. Der nicht (mehr) sorgeberechtigte Vater des Kindes hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten, die allein sorgeberechtigte Mutter hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Auf die Aufenthaltsverhältnisse des Kindes kommt es nach § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nicht an.
Rz. 10
b) Mit dem Entzug des Sorgerechts (auch) der Mutter am 2. Mai 2018 ist die Beklagte örtlich für den Jugendhilfefall zuständig geworden. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass sich die örtliche Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, wenn die Eltern des Kindes zu Beginn und während einer Jugendhilfeleistung ihren jeweiligen gewöhnlichen Aufenthalt in Bezirken verschiedener Jugendhilfeträger haben und beide Elternteile das Personensorgerecht verlieren, nicht nach § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII (aa), sondern nach § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII richtet (bb).
Rz. 11
aa) Eine fortbestehende Zuständigkeit des Klägers ergibt sich nicht aus § 86 Abs. 5 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII in der hier anwendbaren, seit dem 1. Januar 2014 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes vom 29. August 2013 (BGBl. I S. 3464). Danach bleibt die bisherige Zuständigkeit bestehen, "[s]olange in diesen Fällen die Personensorge [...] keinem Elternteil zusteht". Die Zuständigkeitsvorschrift betrifft zwar ebenso wie § 86 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 SGB VIII den Fall, dass die Personensorge keinem Elternteil zusteht. Sie ist aber nicht anwendbar, weil sie sich - wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat - ausschließlich auf den vorhergehenden Satz 1 und damit auf den - hier nicht gegebenen - Fall bezieht, dass die Eltern nach Beginn der Leistung erstmalig oder erneut verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen.
Rz. 12
Bereits der Wortlaut des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII deutet mit den durch das Gesetz vom 29. August 2013 eingefügten Worten "in diesen Fällen" mit erheblichem Gewicht darauf hin, dass nicht nur die erste Fallvariante (gemeinsames Sorgerecht der Eltern; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23), sondern auch die zweite Alternative (das Sorgerecht steht keinem Elternteil zu) den vorhergehenden Satz 1 mit sämtlichen Tatbestandsmerkmalen in Bezug nimmt.
Rz. 13
Dieses Wortlautverständnis wird von der Gesetzessystematik bestätigt. In binnensystematischer Hinsicht spricht bereits die Stellung des Satzes 2 innerhalb des Absatzes 5 dafür, dass er sich insgesamt und umfassend auf die Voraussetzungen des vorangegangenen Satzes 1 bezieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 24). Das Gleiche gilt für die Stellung des Absatzes 5 innerhalb der Gesamtsystematik des § 86 SGB VIII. § 86 Abs. 5 SGB VIII steht insgesamt in unmittelbarem Bezug zu § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt der Eltern bei Beginn oder während der Leistung) und kann nicht direkt einer Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 bis 4 SGB VIII (u. a. verschiedene gewöhnliche Aufenthalte der Eltern während des gesamten Leistungszeitraums) nachfolgen. Die in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII angesprochene "bisherige Zuständigkeit" ergibt sich zwingend aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23 Rn. 14, 15 m. w. N.).
Rz. 14
Auch der in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/13531 S. 8) zum Ausdruck kommende Sinn und Zweck des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII streitet für dieses Verständnis. Danach soll die räumliche Nähe zu den Eltern des Kindes oder Jugendlichen oder zum maßgeblichen Elternteil als grundsätzliche Voraussetzung einer wirksamen Unterstützung, die das dem § 86 SGB VIII zugrunde liegende Prinzip der dynamischen Zuständigkeit gewährleisten will, in ausdrücklicher Abkehr von einem vormaligen Normverständnis des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa Urteile vom 30. September 2009 - 5 C 18.08 - BVerwGE 135, 58 Rn. 22, vom 9. Dezember 2010 - 5 C 17.09 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Kinder- und Jugendhilfegesetz Nr. 12 Rn. 22 und vom 12. Mai 2011 - 5 C 4.10 - BVerwGE 139, 378 Rn. 17) auch dann maßgeblich sein, wenn die Personensorge beiden Elternteilen gemeinsam oder keinem Elternteil zusteht und die Eltern bereits vor oder bei Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte hatten. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der Fassung des Gesetzes vom 29. August 2013 soll dementsprechend ausdrücklich nur die Fälle erfassen, in denen die Elternteile, denen die Personensorge gemeinsam oder beiden nicht zusteht, nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen. Dies wiederum setzt voraus, dass sie vor der zuständigkeitsrelevanten Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts einen - erstmaligen oder erneuten - gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hatten (vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteile vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242 Rn. 19 und vom 21. September 2022 - 5 C 5.21 - Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII Nr. 23 Rn. 14 f.). Nach der Wertung des Gesetzgebers bietet der aktuelle gewöhnliche Aufenthalt der Eltern nur in diesen Fällen keinen ausreichenden Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des zuständigen Jugendhilfeträgers, weshalb nur dann die Rechtsfolge des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII, wonach es bei der bisherigen Zuständigkeit verbleibt, eingreifen soll.
Rz. 15
Die zur Fallgruppe, dass keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht, ergangene Rechtsprechung des Senats zur Auslegung des § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII in der bis Ende 2013 anwendbaren Fassung (zuletzt BVerwG, Urteil vom 14. November 2013 - 5 C 34.12 - BVerwGE 148, 242) kann daher nicht auf die aktuelle Fassung der Vorschrift übertragen werden (a. A. VGH München, Urteil vom 10. Februar 2022 - 12 BV 20.217 - JAmt 2023, 37). Für die vormalige Gesetzesfassung bleibt sie jedoch weiterhin maßgeblich. Dies ist zum einen aus Gründen der Rechtssicherheit geboten und ergibt sich zum anderen aus dem Umstand, dass sich das Änderungsgesetz vom 29. August 2013 keine Rückwirkung beigemessen hat, sondern erkennbar zukunftsgerichtet ist, weil es erst mit Wirkung zum 1. Januar 2014 in Kraft getreten ist.
Rz. 16
bb) Die örtliche Zuständigkeit wechselte mit dem Entzug des Sorgerechts der Mutter am 2. Mai 2018 gemäß § 86 Abs. 3 und Abs. 2 Satz 2 SGB VIII auf die Beklagte. Danach richtet sich, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und die Personensorge keinem Elternteil zusteht, die (örtliche) Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Hier hatten die Eltern nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts bei Beginn und während der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte und die Personensorge stand ab dem 2. Mai 2018 keinem Elternteil zu. Ferner hatte das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung zuletzt bei seinem Vater, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich der Beklagten hat.
Rz. 17
c) Die Beteiligten gehen in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass dem Kläger im Zeitraum vom 2. Mai 2018 bis zum 28. Februar 2023 für die im vorliegenden Hilfefall rechtmäßig erbrachten Jugendhilfeleistungen Kosten in Höhe von insgesamt 342 147,67 € entstanden sind, von denen nur das von dem Kläger vereinnahmte Kindergeld in Höhe von 12 137,54 € abzuziehen ist, sodass ein Betrag von 330 010,13 € verbleibt.
Rz. 18
2. Der Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen folgt aus der entsprechenden Anwendung von § 288 Abs. 1 Satz 2, § 291 BGB. Danach hat der Schuldner eine Geldschuld von dem Eintritt der Rechtshängigkeit an mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht dem Grunde nach Prozesszinsen zuerkannt. Sein Ausspruch verstößt allerdings insoweit gegen Bundesrecht, als er in entsprechender Anwendung von § 291 Satz 1 Halbs. 2 BGB Prozesszinsen nach Maßgabe der Fälligkeit der Hauptforderung zuspricht. Dies setzt, wie der Wortlaut der Vorschrift ("erst später fällig") belegt und wovon auch das Verwaltungsgericht ausgegangen ist, voraus, dass die Geldschuld zuvor rechtshängig geworden ist. Rechtshängig wird eine Geldforderung durch Geltendmachung eines bezifferten Geldbetrags im Rahmen einer Leistungsklage (BVerwG, Urteil vom 28. Juni 1995 - 11 C 22.94 - BVerwGE 99, 53 ≪54 f.≫). Die Erhebung einer Feststellungsklage, auf die sich das Verwaltungsgericht stützt, reicht hingegen regelmäßig nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 1984 - IVb ZR 51/83 - BGHZ 93, 183 ≪186≫; Seichter, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, § 291 Rn. 9, Stand April 2024). Ein in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts insoweit anerkannter Ausnahmefall (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 - 5 C 34.00 - BVerwGE 114, 61 ≪62 f.≫) liegt nicht vor. Demgemäß sind hier Prozesszinsen ab schriftsätzlicher Geltendmachung einer jeweils bezifferten Hauptforderung im Rahmen der erhobenen Leistungsklage am 6. April 2020 (121 016,34 €), am 12. September 2022 (weitere 185 745,64 €) und am 27. Februar 2023 (weitere 35 385,69 €) unter Anrechnung des für den jeweiligen Leistungszeitraum vereinnahmten Kindergeldes (2. Mai 2018 bis 29. Februar 2020: 4 341,54 €, 1. März 2020 bis 30. September 2022: 6 639 € und 1. Oktober 2022 bis 28. Februar 2023: 1 157 €) zuzusprechen.
Rz. 19
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 155 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 16466728 |
NVwZ-RR 2024, 5 |
DÖV 2024, 940 |
JZ 2024, 261 |
JZ 2024, 523 |
LKV 2024, 3 |
NZS 2024, 7 |
ZfSH/SGB 2024, 354 |
BayVBl. 2024, 3 |
KommJur 2024, 7 |
NZFam 2024, 5 |
NZFam 2024, 908 |