Leitsatz (amtlich)
1. Stehen zwei immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Anlagen in einer echten Konkurrenzsituation, befinden sich beide (potentiell) sowohl in der Rolle des Störers als auch des Gestörten und stimmt die Art der Störung überein, ist es regelmäßig sachgerecht und damit rechtlich geboten, die Frage des Vorrangs nach dem Prioritätsprinzip zu beantworten.
2. Das Prioritätsprinzip gilt auch im Verhältnis von immissionsschutzrechtlichem Vorbescheid und Genehmigung.
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 18.09.2018; Aktenzeichen 8 A 1886/16) |
VG Minden (Urteil vom 27.07.2016; Aktenzeichen 11 K 544/14) |
Tenor
Die Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. September 2018 - 8 A 1886/16 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beigeladene.
Tatbestand
Rz. 1
Die Kläger wenden sich gegen die teilweise Rücknahme eines Vorbescheides, der einer von ihnen geplanten Windenergieanlage hinsichtlich der Turbulenzintensität den Vorrang gegenüber einer benachbarten Anlage sichert.
Rz. 2
Die Kläger beantragten am 6. Mai 2010 einen immissionsschutzrechtlichen Vorbescheid für eine Windenergieanlage im Windpark W. Die Anlage sollte hinsichtlich ihrer planungsrechtlichen Zulässigkeit, der Vereinbarkeit mit militärischen Belangen und Belangen des Luftverkehrs beurteilt werden; dem Antrag beigefügt war jedenfalls eine Seite einer Stellungnahme zur Turbulenzbelastung. Am 15. März 2013 legten die Kläger eine Artenschutzprognose (Stufe I) und einen landschaftspflegerischen Begleitplan vor. Mit Schreiben vom 9. Mai 2013 erklärten sie, ihr Antrag solle auch im Hinblick auf die immissionsschutzrechtliche Zulässigkeit sowie unter Turbulenzintensitätsgesichtspunkten geprüft werden. Unter dem 17. Juli 2013 erteilte der Beklagte den Klägern einen Vorbescheid hinsichtlich der planungsrechtlichen Zulässigkeit (mit der Einschränkung: im Zeitraum vom 1. März bis 31. Juli eines Jahres nur von Sonnenuntergang bis Morgendämmerung), hinsichtlich der Turbulenzintensität und weiterer Belange. Die Beigeladene legte Widerspruch ein.
Rz. 3
Die Beigeladene beabsichtigte, in demselben Windpark eine Windenergieanlage zu errichten, etwa 200 m von dem Standort der geplanten Anlage der Kläger entfernt. Sie beantragte am 29. Juni 2010 eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung, legte am 14. September 2010 eine gutachtliche Stellungnahme zur Turbulenzbelastung und unter dem 12. Juni 2013 ein Artenschutzgutachten (Stufe II) vor. Mit immissionsschutzrechtlichem Bescheid vom 21. Januar 2014 genehmigte der Beklagte die Windenergieanlage der Beigeladenen. Die Anlage ist inzwischen errichtet. Über einen gegen die Genehmigung eingelegten Widerspruch der Kläger ist noch nicht entschieden.
Rz. 4
Der Beklagte erteilte der Rechtsnachfolgerin der Kläger unter dem 21. Januar 2014 eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung mit mehreren, zum Teil im Verfahren BVerwG 4 C 4.19 angefochtenen Nebenbestimmungen. Diese verlangen als Bedingung die Vorlage eines erweiterten Gutachtens zur Turbulenzintensität und behalten sich Auflagen für Betriebseinschränkungen vor, welche die Standsicherheit aller Anlagen im Einwirkbereich der Turbulenzen gewährleisten. Nach einer Befristung erlischt die Genehmigung, wenn nicht innerhalb von drei Jahren nach ihrer Bestandskraft mit dem Betrieb begonnen worden ist.
Rz. 5
Die Rechtsnachfolgerin der Kläger hat die Anlage bisher nicht errichtet. Mit Bescheid vom 2. November 2017 stellte der Beklagte das Erlöschen der Genehmigung fest. Dieser Feststellungsbescheid ist Gegenstand eines Klageverfahrens.
Rz. 6
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 21. Januar 2014 nahm der Beklagte den unter dem 17. Juli 2013 erteilten Vorbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit insoweit zurück, wie er die bauordnungsrechtliche Zulässigkeit im Hinblick auf die Turbulenzintensität feststellt. Unter Hinweis auf diese Teilrücknahme gab er dem Widerspruch der Beigeladenen mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2014 statt.
Rz. 7
Das Verwaltungsgericht hat den Teilrücknahmebescheid aufgehoben. Die dagegen gerichteten Berufungen hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Für die Klage bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis, weil die immissionsschutzrechtliche Genehmigung vom 21. Januar 2014 noch nicht erloschen sei. Die Klage sei begründet. Weil der Vorbescheid vom 17. Juli 2013 rechtmäßig sei, habe der Beklagte ihn nicht zurücknehmen dürfen. Denn der Vorbescheid habe dem Vorhaben der Kläger mit Blick auf die Turbulenzintensität zu Recht den Vorrang eingeräumt. Maßgeblich sei das Prioritätsprinzip, das auch im Verhältnis von Vorbescheid und Genehmigung Beachtung verlange. Dieses Prinzip begründe den Vorrang der Kläger, die früher als die Beigeladene prüffähige Unterlagen vorgelegt hätten.
Rz. 8
Dagegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision der Beigeladenen. Nach ihrer Auffassung darf das Prioritätsprinzip nicht absolut gelten. Der Vorbescheid könne den Vorrang jedenfalls nicht gegenüber einer Genehmigung sichern. Schließlich hätten die Kläger erst im Mai 2013 die Turbulenzintensität zum Gegenstand ihres Antrags gemacht, während der Genehmigungsantrag der Beigeladenen hinsichtlich der Turbulenzintensität schon früher prüffähig gewesen sei.
Rz. 9
Der Beklagte unterstützt die Rechtsauffassung der Beigeladenen. Die Kläger verteidigen das angegriffene Urteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 10
Die Revision bleibt erfolglos. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts steht mit revisiblem Recht (§ 137 Abs. 1 VwGO) im Einklang.
Rz. 11
1. Das Oberverwaltungsgericht hat zutreffend das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage angenommen. Der teilweise zurückgenommene Vorbescheid vom 17. Juli 2013 ist bisher weder unwirksam noch gegenstandslos geworden. Eine Unwirksamkeit nach § 9 Abs. 2 BImSchG scheidet aus, weil die Rechtsnachfolgerin der Kläger bereits am 1. August 2013 die immissionsschutzrechtliche Genehmigung beantragt hat. Der Vorbescheid ist auch nicht gegenstandslos geworden. Zwar wird ein immissionsschutzrechtlicher Vorbescheid gegenstandslos, wenn die für dasselbe Vorhaben erteilte immissionsschutzrechtliche Genehmigung nach § 18 BImSchG erloschen ist (Hansmann/Ohms, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand Februar 2020, § 18 BImSchG Rn. 11; Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 18 Rn. 2). Die Genehmigung ist indes nach dem einzig in Betracht kommenden § 18 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG noch nicht erloschen.
Rz. 12
Nach dieser Vorschrift erlischt die Genehmigung, wenn innerhalb einer von der Genehmigungsbehörde gesetzten angemessenen Frist nicht mit der Errichtung oder dem Betrieb der Anlage begonnen worden ist. Die in dem Bescheid geregelte Drei-Jahres-Frist beginnt erst mit der Bestandskraft des Bescheides. Die Bestandskraft im Sinne dieser Nebenbestimmung ist aber noch nicht eingetreten, wenn der Bescheid zwar nicht von Dritten, aber vom Genehmigungsinhaber angefochten wird und dieser sich gegen ihn erheblich belastende Nebenbestimmungen wendet. Dieses, mit Verfahrensrügen nicht angegriffene Auslegungsergebnis ist eine tatsächliche Feststellung der Vorinstanz, an die das Bundesverwaltungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO gebunden ist. Für eine eigene Auslegung des Senats ist kein Raum, weil das Tatsachengericht den Regelungsgehalt der Nebenbestimmung nach den zu §§ 133, 157 BGB entwickelten Regeln ermittelt und seine Auslegung begründet hat. Es hat sich auch nicht durch eine fehlerhafte Vorstellung des Bundesrechts den Blick für eine zutreffende Auslegung verstellt (vgl. BVerwG, Urteile vom 4. Dezember 2001 - 4 C 2.00 - BVerwGE 115, 274 ≪279 f.≫ und vom 3. August 2016 - 4 C 3.15 - BVerwGE 155, 390 Rn. 21). Es mag sein, dass nach dem Leitbild des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG eine Genehmigung erlöschen soll, wenn sie drei Jahre ungenutzt bleibt. Darauf kommt es indes nicht an. Denn das Oberverwaltungsgericht hat sich nicht zur Länge der Frist geäußert, sondern zu deren Beginn. Hiervon unabhängig leuchtet sein Auslegungsergebnis angesichts des Wortlauts der Nebenbestimmung und der wirtschaftlichen Interessenlage ohne Weiteres ein.
Rz. 13
2. Der Teilrücknahmebescheid vom 21. Januar 2014 war rechtswidrig und verletzte die Kläger in ihren Rechten. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW gestattet nur die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts. Der Vorbescheid vom 17. Juli 2013 war indes rechtmäßig. Dies sehen die Vorinstanzen richtig.
Rz. 14
a) Der Teilrücknahmebescheid nimmt den Vorbescheid zurück, soweit dieser die Zulässigkeit im Hinblick auf die Turbulenzintensität feststellt.
Rz. 15
Die Turbulenzintensität einer Windenergieanlage ist eine auch als Nachlaufeffekt bezeichnete Wirkung: Die Rotorblätter der Anlage entziehen dem Wind Bewegungsenergie, der im Übrigen ungehindert an ihr vorbeiströmt. Auf der windabgewandten Seite entstehen unterschiedliche Windgeschwindigkeiten, die infolge der Rotorbewegung einen Luftwirbel bilden. Auf eine windabgewandte Anlage in geringer Entfernung wirken damit wechselnde Lasten ein, die zu einem höheren Verschleiß bis hin zu einer Gefährdung der Standsicherheit führen können. Die Beeinträchtigung wird vermieden, wenn bei bestimmten Windrichtungen eine der Anlagen abgeschaltet wird. Dies kann die Anlage sein, die im Wind steht, aber auch die windabgewandte Anlage, die im Trudelbetrieb größere Lasten aufnehmen kann (vgl. Albrecht/Zschiegner, UPR 2019, 90 ≪91≫).
Rz. 16
Die Turbulenzintensität ist für die Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zu prüfen. Über sie kann daher nach § 9 Abs. 1 BImSchG im Vorbescheid entschieden werden. Die Genehmigung setzt nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG u.a. voraus, dass sichergestellt ist, dass die sich aus § 5 BImSchG ergebenden Pflichten erfüllt werden. Danach sind genehmigungsbedürftige Anlagen u.a. so zu errichten und zu betreiben, dass zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt insgesamt schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG). Turbulenzen sind Immissionen im Sinne von § 3 Abs. 2 BImSchG, weil sie auf sonstige Sachgüter einwirken und jedenfalls Umwelteinwirkungen sind, die Erschütterungen ähneln (OVG Koblenz, Urteil vom 26. Juni 2018 - 8 A 11691/17 - ZfBR 2018, 689 ≪690≫). Es handelt sich damit um schädliche Umwelteinwirkungen nach § 3 Abs. 1 BImSchG, wenn sie nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Die Turbulenzintensität kann Bedeutung auch nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG erlangen. Danach setzt die Erteilung der Genehmigung voraus, dass andere öffentlich-rechtliche Vorschriften der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Regelmäßig schützt das Bauordnungsrecht die Standsicherheit benachbarter Anlagen. So darf nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2000 (GV. NRW. 2000 S. 256) bzw. § 12 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW 2018 (GV. NRW. 2018 S. 421) eine bauliche Anlage die Standsicherheit anderer baulicher Anlagen und die Tragfähigkeit des Baugrundes der Nachbargrundstücke nicht gefährden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Dezember 2017 - 4 C 7.16 - Buchholz 406.25 § 67 BImSchG Nr. 10 Rn. 12). Schließlich steht einer nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB im Außenbereich privilegierten Anlage der Belang des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BauGB entgegen, wenn sie schädliche Umwelteinwirkungen hervorrufen kann.
Rz. 17
Der Vorbescheid vom 17. Juli 2013 ist dahin zu verstehen, dass im Hinblick auf die Turbulenzintensität die Genehmigung weder versagt noch - zum Schutz anderer Anlagen, etwa der Beigeladenen - mit Abschaltregelungen als Nebenbestimmung belegt werden kann. Darüber sind sich die Beteiligten ebenso einig wie darüber, dass die Rücknahme, abweichend von ihrem Wortlaut, nicht auf das Bauordnungsrecht beschränkt ist, sondern die Turbulenzintensität unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zum Gegenstand hat.
Rz. 18
b) Der Vorbescheid war hinsichtlich der Turbulenzintensität rechtmäßig. Der Beklagte hatte in diesem Bescheid zutreffend der Anlage der Kläger den Vorrang zuerkannt. Dies schließt eine Rücknahme aus.
Rz. 19
aa) Das Immissionsschutzrecht regelt nicht, welcher genehmigungspflichtigen Anlage Vorrang vor einer gleichartigen genehmigungspflichtigen Anlage einzuräumen ist, wenn - wie hier - beide Anlagen in einer echten Konkurrenzsituation stehen, sich beide (potentiell) sowohl in der Rolle des Störers als auch des Gestörten befinden und die Art der Störung übereinstimmt. Es ist regelmäßig sachgerecht und damit rechtlich geboten, diese Frage nach dem Prioritätsprinzip zu beantworten (ebenso OVG Koblenz, Beschlüsse vom 18. Juni 2018 - 8 B 10260/18 - UPR 2019, 111 Rn. 19 und vom 22. Februar 2019 - 8 B 10001/19 - NVwZ-RR 2019, 990 Rn. 8; VGH München, Beschluss vom 13. Mai 2014 - 22 CS 14.851 - BeckRS 2014, 52078 Rn. 13). Auch die Beteiligten ziehen die grundsätzliche Berechtigung dieses Prinzips nicht in Zweifel.
Rz. 20
Die Immissionsschutzbehörde muss auf einen Antrag hin tätig werden (vgl. § 22 Satz 2 Nr. 1 VwVfG), hat jedes Verwaltungsverfahren zügig durchzuführen (§ 10 Satz 2 VwVfG) und darf gleichliegende Verfahren nicht ohne sachlichen Grund unterschiedlich behandeln (Art. 3 Abs. 1 GG), so dass sie einen früher eingegangenen Antrag grundsätzlich auch früher zu bearbeiten hat (BVerwG, Urteil vom 15. Mai 2019 - 7 C 27.17 - BVerwGE 165, 340 Rn. 28). Diese Pflicht ist auch für die materiell-rechtliche Frage von Bedeutung, welcher Anlage der Vorrang zukommt. Sie ist ein Ordnungsprinzip (Rolshoven, NVwZ 2006, 516 ≪522≫), von dem die Behörde nur mit hinreichenden Gründen abweichen darf. Fehlen solche Gründe, gebührt dem früheren Vorhaben der Vorrang. Diese Sichtweise entspricht - soweit ersichtlich - der ganz herrschenden Praxis (zusammenfassend Sittig-Behm, in: Maslaton, Windenergieanlagen, 2. Aufl. 2018, Kapitel 2 Rn. 194 ff.). Es schafft für die Beteiligten Rechts- und Planungssicherheit und erweist sich Ansätzen überlegen, die eine Ermessensentscheidung für notwendig halten (in diese Richtung OVG Greifswald, Beschluss vom 28. März 2008 - 3 M 188/07 - BauR 2008, 1562 ≪1566≫; OVG Weimar, Beschluss vom 17. Juli 2012 - 1 EO 35/12 - ZNER 2012, 443 ≪444≫), für die aber weder eine Rechtsgrundlage noch inhaltliche Maßstäbe ersichtlich sind.
Rz. 21
Ob und mit welchen Maßgaben das Prioritätsprinzip zur Lösung anderer Konflikte sachgerecht ist, spielt keine Rolle. Dies gilt etwa für die Frage, nach welchen Maßstäben eine Summationsbetrachtung im Habitatschutzrecht durchzuführen ist (dazu BVerwG, Urteil vom 15. Mai 2019 - 7 C 27.17 - BVerwGE 165, 340 Rn. 21 f.), oder für die Frage, ob das Prioritätsprinzip in anderen Konstellationen geeignet ist, sachwidrige "Windhundrennen" zwischen Investoren auszulösen (vgl. BVerwG, Urteile vom 3. April 2008 - 4 CN 3.07 - BVerwGE 131, 86 Rn. 17 und vom 17. Oktober 2019 - 4 CN 8.18 - NVwZ 2020, 399 Rn. 34).
Rz. 22
bb) Das Prioritätsprinzip gilt auch im Verhältnis von immissionsschutzrechtlichem Vorbescheid und Genehmigung.
Rz. 23
Der Vorbescheid nimmt mit verbindlicher Wirkung einen Ausschnitt aus dem feststellenden Teil einer etwaigen späteren Anlagengenehmigung vorweg (BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 4 C 9.03 - BVerwGE 121, 182 ≪189 f.≫). Soweit der Vorbescheid über eine Genehmigungsvoraussetzung oder über den Standort der Anlage endgültig entscheidet, kommt ihm grundsätzlich die gleiche uneingeschränkte Bindungswirkung zu wie einer (Voll-)Genehmigung (Storost, in: Ule/Laubinger/Repkewitz, BImSchG, Stand Februar 2020, § 9 Rn. D 5). Er kann daher, wie geschehen, den Vorrang einer Anlage an einem bestimmten Standort hinsichtlich eines bestimmten Konflikts sichern. Ob er eine solche Entscheidung trifft, ist gegebenenfalls durch Auslegung zu bestimmen (vgl. OVG Koblenz, Beschluss vom 18. Juni 2018 - 8 B 10260/18 - UPR 2019, 111 Rn. 21). Mit der Erteilung des Vorbescheides zur Turbulenzintensität hat der Beklagte zum Ausdruck gebracht, dass dem Vorhaben der Kläger insoweit keine Genehmigungshindernisse entgegenstehen.
Rz. 24
Der Anwendung des Prioritätsprinzips lässt sich nicht entgegenhalten, der Vorbescheid sei schwächer als die Genehmigung, weil er zwar Genehmigungsvoraussetzungen feststelle, aber den Bau nicht freigebe und die Konflikte erst mit dem Bau aufträten (Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Aufl. 2019, Rn. 544 f.). Das Fehlen der Baufreigabe lässt die rechtliche Bindung durch den Vorbescheid unberührt. Er entscheidet stets Konflikte, die erst mit dem Bau tatsächlich auftreten. Versagte man ihm eine Sicherung des Vorrangs gegenüber einer Genehmigung, verfehlt er seine Funktion, dem Antragsteller Planungssicherheit zu vermitteln. Dieser hat ein berechtigtes Interesse zu erfahren, ob er bei künftigen Investitionsentscheidungen Verluste durch Abschaltverpflichtungen zu befürchten hat. Dass der Vorbescheid mit weniger Aufwand als eine Genehmigung zu erlangen sein mag, steht einer Rangsicherung nicht entgegen. Denn es steht jedem Vorhabenträger frei, zunächst nur einen Vorbescheid zu beantragen.
Rz. 25
cc) Das Oberverwaltungsgericht hat für den Vorrang den Zeitpunkt für maßgeblich gehalten, an dem ein prüffähiger Genehmigungsantrag vorliegt. Dies entspricht der herrschenden Auffassung (OVG Koblenz, Beschluss vom 22. Februar 2019 - 8 B 10001/19 - NVwZ-RR 2019, 990 Rn. 8; VGH München, Beschluss vom 13. Mai 2014 - 22 CS 14.851 - BeckRS 2014, 52078 Rn. 13; Gatz, Windenergieanlagen in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis, 3. Aufl. 2019, Rn. 541; Sittig-Behm, in: Maslaton, Windenergieanlagen, 2. Aufl. 2019, Kapitel 2 Rn. 207 m.w.N. in Fn. 623). Diese Auffassung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Dabei ist für den Vorbescheid nach § 23 Abs. 1 der 9. BImSchV auch die bestimmte Angabe notwendig, für welche Genehmigungsvoraussetzungen oder für welchen Standort der Vorbescheid beantragt wird.
Rz. 26
Prüffähige Unterlagen liegen dann vor, wenn die Unterlagen sich zu allen rechtlich relevanten Aspekten des Vorhabens verhalten und die Behörde in die Lage versetzen, den Antrag unter Berücksichtigung dieser Vorgaben näher zu prüfen. Nicht vollständig sind Unterlagen dann, wenn sie rechtlich relevante Fragen vollständig ausblenden. Für einen Vorbescheid bedarf es auch der Unterlagen, die eine vorläufige positive Gesamtbeurteilung ermöglichen (dazu Jarass, in: Jarass, BImSchG, 12. Aufl. 2017, § 9 Rn. 11; Storost, in: Ule/Laubinger/Repkewitz, BImSchG, Stand Februar 2020, § 9 Rn. B 7; Wirths, in: Führ, GK-BImSchG, 2. Aufl. 2019, § 9 Rn. 43; Peschau, in: Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, Stand Februar 2020, § 9 BImSchG Rn. 15 ff.; vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juli 1982 - 7 C 54.79 - Buchholz 451.171 AtG Nr. 11 S. 10; a.A. Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand Februar 2020, § 9 BImSchG Rn. 41 ff.). Die Unterlagen müssen allerdings nicht schon die Genehmigungsfähigkeit belegen. Es ist also nicht erforderlich, dass ein vorzulegendes Gutachten der Prüfung in jeder Hinsicht standhält und keine weiteren fachlichen Fragen aufwirft.
Rz. 27
Es erscheint dagegen nicht sachgerecht, mit dem Verwaltungsgericht die Vollständigkeit jeweils in Bezug auf einzelne Genehmigungsvoraussetzungen für maßgeblich zu halten. Für das Prioritätsprinzip streitet der Vorsprung des Antragstellers, der alles Erforderliche getan hat, um die Prüfung durch die Behörde zu ermöglichen. Diese trifft sowohl bei der Genehmigung als auch beim Vorbescheid eine einheitliche Entscheidung über das jeweilige Prüfprogramm. Eine Unterscheidung nach Einzelfragen wäre kaum praktikabel und im Übrigen geeignet, eine Pattsituation zu erzeugen, wenn bei einer echten Konkurrenz in Einzelfragen mal die eine, mal die andere Anlage einen Vorrang für sich beanspruchen könnte. Auch Regelungen in anderen Zusammenhängen halten jeweils die Vollständigkeit der Antragsunterlagen für maßgeblich (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 2 SeeAnlG; § 12 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 UVPG; § 4 Abs. 3 Satz 2 der 26. BImSchV). Die Gefahr eines Rechtsmissbrauchs durch die Beantragung rangsichernder Vorbescheide zwingt nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Schon wegen des Aufwands einer solchen Antragstellung und der zeitlichen Befristung nach § 9 Abs. 2 BImSchG ist der immissionsschutzrechtliche Vorbescheid nur für Antragsteller von Interesse, die ein Vorhaben wirklich beabsichtigen. Soweit es dennoch zu einem offenkundigen Rechtsmissbrauch kommen mag, kann die Rechtspraxis mit herkömmlichen Rechtsfiguren wie etwa fehlendem Sachbescheidungsinteresse oder einer Ausnahme vom Prioritätsprinzip reagieren.
Rz. 28
Ausgehend von seinem zutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt hat das Oberverwaltungsgericht den Genehmigungsantrag der Beigeladenen erst am 12. Juni 2013 für prüffähig gehalten, während die Kläger am 15. März 2013 prüffähige Unterlagen zum Artenschutz vorgelegt und ihren Antrag jedenfalls mit Schreiben vom 9. Mai 2013 auf die Turbulenzintensität erstreckt hätten. Später eingereichte Unterlagen hat die Vorinstanz zum Erreichen der Prüffähigkeit nicht für notwendig erachtet (vgl. UA S. 23). Auch die Ausklammerung bestimmter Zeiten aus dem artenschutzrechtlichen Prüfprogramm hat die Prüffähigkeit nicht entfallen lassen (UA S. 27 f.). Diese tatrichterliche Würdigung ist revisionsgerichtlicher Prüfung nach § 137 Abs. 2 VwGO entzogen.
Rz. 29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
BVerwGE 2021, 39 |
BauR 2020, 1761 |
DÖV 2020, 1042 |
JZ 2020, 566 |
REE 2021, 97 |
VR 2020, 432 |
ZfBR 2020, 774 |
ZNER 2020, 450 |
BBB 2020, 52 |
FuB 2020, 237 |