Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Flugverbot auf der Grundlage des Bundesnaturschutzgesetzes
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Naturschutzbehörde ist nicht befugt, Flugbeschränkungen für Luftfahrzeuge im Wege einer Naturschutzgebietsverordnung anzuordnen. Der Bund hat mit dem Regelungskonzept des Luftverkehrsgesetzes abschließend von seiner ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG Gebrauch gemacht.
2. Die verfassungsrechtliche Sperrwirkung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG gilt auch im Anwendungsbereich der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie.
Normenkette
GG Art. 73 Abs. 1 Nr. 6, Art. 74 Abs. 1 Nr. 29; BNatSchG §§ 22-23, 32; LuftVO § 17 Abs. 1; EUV 923/2012; EWGRL 43/92 Art. 6-7; EGRL 147/2009 Art. 4
Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Urteil vom 19.10.2021; Aktenzeichen 4 KN 292/16) |
Tenor
Auf die Revisionen der Antragstellerinnen wird das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2021 geändert.
§ 4 Abs. 4 Nr. 7 der Verordnung über das Naturschutzgebiet "Totes Moor" in den Städten Neustadt am Rübenberge und Wunstorf, Region Hannover, ist insgesamt unwirksam, soweit er sich auf bemannte Luftfahrzeuge bezieht.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.
Tatbestand
Rz. 1
Die Antragstellerinnen wenden sich gegen eine Naturschutzgebietsverordnung, soweit diese den Flugverkehr mit bemannten Luftfahrzeugen einschränkt.
Rz. 2
Im Mai 2016 beschloss die Regionsversammlung der Antragsgegnerin die Verordnung über das Naturschutzgebiet "Totes Moor" in den Städten Neustadt am Rübenberge und Wunstorf, Region Hannover (im Folgenden: Verordnung). Das Naturschutzgebiet ist ca. 3 200 ha groß und umfasst ca. 10,5 % der Wasserfläche des Steinhuder Meeres und einen größeren Landbereich östlich und nordöstlich des Steinhuder Meeres. Zum Schutzgebiet gehört auch das sogenannte "Tote Moor", bei dem es sich mit einer Größe von ca. 2 300 ha um das größte Hochmoor in der Region Hannover handelt. Die gesamte Wasserfläche des Steinhuder Meeres und Teile der Landfläche des Naturschutzgebiets gehören zum FFH-Gebiet 094 "Steinhuder Meer (mit Randbereichen)" und zum Europäischen Vogelschutzgebiet V42 "Steinhuder Meer". § 4 Abs. 4 Nr. 7 der Verordnung enthält das Verbot, im Naturschutzgebiet und außerhalb in einer Zone von 500 m Breite um das Naturschutzgebiet herum unbemannte Luftfahrzeuge zu betreiben sowie mit bemannten Luftfahrzeugen zu starten, eine Mindestflughöhe von 600 m zu unterschreiten oder zu landen.
Rz. 3
Die Antragstellerin zu 1 bietet gewerbliche Ballonfahrten an. Sie nutzt hierfür Startplätze im Umland des Steinhuder Meeres bei Hannover. Die Antragstellerin zu 2 ist die Geschäftsführerin der Antragstellerin zu 1.
Rz. 4
Auf den Normenkontrollantrag der Antragstellerinnen hat das Oberverwaltungsgericht die Unwirksamkeit von § 4 Abs. 4 Nr. 7 der Verordnung festgestellt, soweit es darin "und außerhalb in einer Zone von 500 m Breite um das NSG herum" heißt, und soweit für den Luftraum, der über dem Naturschutzgebiet, aber nicht über dem Europäischen Vogelschutzgebiet V42 "Steinhuder Meer" liegt, eine Mindestflughöhe von mehr als 150 m über dem Boden oder Wasser festgesetzt wird. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt:
Rz. 5
Das Flugverbot sei unwirksam, soweit es auf eine Zone von 500 m Breite außerhalb des Naturschutzgebiets ausgeweitet worden sei. Insoweit habe es an der durch das niedersächsische Naturschutzrecht zwingend vorgeschriebenen zeichnerischen Darstellung der Verbotszone in den zur Naturschutzgebietsverordnung gehörenden Karten gefehlt. Für den Teil des Naturschutzgebiets, der nicht zugleich Europäisches Vogelschutzgebiet V42 "Steinhuder Meer" sei, sei das Flugverbot unwirksam, soweit es für den Luftraum oberhalb einer Flughöhe von 150 m über dem Boden oder Wasser gelte. Für diesen Bereich des Luftraums bestehe eine Sperrwirkung, die sich auf der Grundlage des gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG geschaffenen Luftverkehrsrechts des Bundes und aus der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 923/2012 ergebe. Daneben bleibe aber Raum für Regelungen durch die Naturschutzbehörde für den Luftraum bis zu einer Flughöhe von 150 m über dem Boden. Diese Regelungsbefugnis betreffe lediglich einen Randbereich des Flugverkehrs. Insoweit bestehe eine Doppelzuständigkeit des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur und der für den Erlass einer Schutzgebietsverordnung zuständigen Naturschutzbehörde. § 4 Abs. 4 Nr. 7 der Verordnung sei auch rechtmäßig, soweit das Verbot zur Abwehr von wesentlichen Beeinträchtigungen oder Störungen, die auf ein Natura 2000-Gebiet einwirkten, erforderlich sei. Insbesondere sei dies zum Schutz von störempfindlichen Vogelarten, die in einem Europäischen Vogelschutzgebiet wertbestimmend seien, geboten.
Rz. 6
Die Antragstellerinnen haben die vom Oberverwaltungsgericht zugelassene Revision eingelegt und machen geltend: Die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts zu der Regelungsbefugnis der Naturschutzbehörde, Flugbeschränkungen anzuordnen, verstoße gegen Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG. Die Anordnung von Mindestflughöhen unterfalle dem Luftrecht, für das der Bund zuständig sei. Ermächtigungsgrundlage sei § 17 LuftVO, der die Anordnung dem Bundesministerium zuweise. Die Vorgaben des Natur- und Vogelschutzes seien in diesem Rahmen zu berücksichtigen. Den Interessenkonflikt von Naturschutz und freiem Flugverkehr habe der europäische Gesetzgeber mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 923/2012 im Wege eines schonenden Ausgleichs abschließend geregelt.
Rz. 7
Die Antragstellerinnen beantragen,
unter Abänderung des Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2021 § 4 Abs. 4 Nr. 7 der Naturschutzgebietsverordnung "Totes Moor" - NSG-HA 154 insgesamt für unwirksam zu erklären, soweit sich diese Norm auf bemannte Luftfahrzeuge bezieht.
Rz. 8
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Rz. 9
Sie tritt den Ausführungen der Revision entgegen.
Entscheidungsgründe
Rz. 10
Die zulässige Revision der Antragstellerinnen ist begründet. Das angegriffene Urteil verletzt revisibles Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es beruht auf dieser Verletzung und stellt sich auch nicht als im Ergebnis richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Senat kann selbst entscheiden, weil weitere Ermittlungen nicht erforderlich sind (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Rz. 11
Sowohl Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG und das auf diesem Kompetenztitel beruhende Luftverkehrsrecht des Bundes als auch das Luftverkehrsrecht der Europäischen Union stehen einer auf das Bundesnaturschutzgesetz gestützten Regelung über Flugbeschränkungen für bemannte Luftfahrzeuge entgegen (1.). Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts gilt dies auch im Anwendungsbereich der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie (2.) und für den Luftraum bis 150 m über dem Boden oder Wasser (3.).
Rz. 12
1. Eine Naturschutzbehörde ist nicht befugt, Gebiete mit Flugbeschränkungen für Luftfahrzeuge im Wege einer Naturschutzgebietsverordnung anzuordnen. Eine diesbezügliche Sperrwirkung folgt aus dem Regelungskonzept des Luftverkehrsgesetzes. Hierdurch hat der Bund abschließend von seiner ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG für das Luftverkehrsrecht Gebrauch gemacht.
Rz. 13
Nach Art. 70 Abs. 1 GG haben die Länder das Recht zur Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz nicht dem Bund Gesetzgebungsbefugnisse zuweist. Eine solche Zuweisung von Gesetzgebungskompetenzen an den Bund findet sich vor allem in den Vorschriften über die ausschließliche (Art. 73 und Art. 105 Abs. 1 GG) und die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 74 und Art. 105 Abs. 2 GG). Das Grundgesetz enthält - von der Ausnahme des Art. 109 Abs. 4 GG abgesehen - eine vollständige Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten entweder auf den Bund oder die Länder. Doppelzuständigkeiten sind den Kompetenznormen fremd und wären mit ihrer Abgrenzungsfunktion unvereinbar. Mit Hilfe der in den Art. 73 und Art. 74 GG enthaltenen Kataloge grenzt das Grundgesetz die Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern durchweg alternativ voneinander ab. Weist die Materie eines Gesetzes Bezug zu verschiedenen Sachgebieten auf, die teils dem Bund, teils den Ländern zugewiesen sind, besteht die Notwendigkeit, sie dem einen oder anderen Kompetenzbereich zuzuordnen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. Dezember 2021 - 2 BvL 2/15 - BVerfGE 160, 1 Rn. 51 m. w. N. und vom 27. September 2022 - 1 BvR 2661/21 - NVwZ 2022, 1890 Rn. 22; stRspr). Für die kompetenzrechtliche Überprüfung einer Vorschrift sind zunächst die in Betracht kommenden Kompetenztitel des Grundgesetzes auszulegen. Sodann ist zu prüfen, welchem dieser Titel die angegriffene Vorschrift zuzuordnen ist (BVerfG, Beschluss vom 27. September 2022 - 1 BvR 2661/21 - NVwZ 2022, 1890 Rn. 23).
Rz. 14
Der Bund hat nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG die ausschließliche Gesetzgebung über den Luftverkehr. Der Begriff "Luftverkehr" ist weit zu verstehen. Dazu gehört die Gesamtheit der Flugbewegungen von Luftfahrzeugen im Luftraum, deren Aufstiege und Landungen sowie die dafür benötigten Anlagen (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2017 - 6 C 44.16 - BVerwGE 160, 157 Rn. 16; Seiler, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Stand August 2022, Art. 73 Rn. 25). Die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit erfasst daher auch die Regelung von Flugbeschränkungen und schließt es aus, dass solche auf ein Gesetz gestützt werden, das seine Grundlage in einem anderen Gesetzgebungskompetenztitel als Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG findet. Die Sperrwirkung gilt ebenso für Rechtsverordnungen, die den formellen Gesetzesbegriff des Art. 70 Abs. 1 GG nicht erfüllen. Bei Rechtsverordnungen muss das für deren Gültigkeit gemäß Art. 80 Abs. 1 GG erforderliche ermächtigende Parlamentsgesetz kompetenziell auf Art. 70 ff. GG gestützt werden können. Gelingt dies, so schließt die Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich in den Grenzen des Art. 80 Abs. 1 GG die partielle Übertragung der Normsetzungsbefugnis auf den exekutivischen Verordnungsgeber ein (Uhle, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand November 2021, Art. 70 Rn. 42; Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand Oktober 2018, Art. 70 Rn. 95).
Rz. 15
Die Antragsgegnerin ist nicht befugt, Beschränkungen des Luftverkehrs auf der Grundlage des Bundesnaturschutzgesetzes, das auf dem Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG beruht, anzuordnen. Die Verbote in § 4 Abs. 4 Nr. 7 der Verordnung über das Naturschutzgebiet "Totes Moor" in den Städten Neustadt am Rübenberge und Wunstorf, Region Hannover (im Folgenden: Verordnung) sollen der Störwirkung durch Luftfahrzeuge begegnen und den Schutz von Natur und Landschaft gemäß § 22 Abs. 1 und § 23 BNatSchG - die Vorschriften des Bundesnaturschutzgesetzes, auf die der Verordnungsgeber die Naturschutzverordnung gestützt hat - gewährleisten. Ihrem objektiven Regelungsgegenstand nach betreffen sie die Nutzung des Luftraums durch Luftfahrzeuge und damit den Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG zuzuordnenden Sachbereich, den der Bundesgesetzgeber durch Erlass des Luftverkehrsgesetzes geregelt hat (vgl. insbesondere § 1 Abs. 1, § 29 Abs. 1, § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 8, 9 LuftVG). Nur auf dieser Grundlage sind die entsprechenden Maßnahmen zur Gestaltung des Luftraums, wozu auch die Einrichtung von Flugbeschränkungsgebieten oder eine Flugverbotszone zählt, zulässig (vgl. Boggia/Hercher, NVwZ 2022, 941 ≪942≫). Dass das Grundgesetz die Gesetzgebungskompetenz für den Naturschutz gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG als konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit dem Bund zuweist, löst die Sperrwirkung nicht auf. Allein der mit der Beschränkung des Luftverkehrs verfolgte Zweck, die Natur zu schützen, genügt nicht, um die Regelungen der Verordnung dem Gesetzgebungstitel in Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG zuzuordnen. Maßgeblich ist insofern nicht der Zweck der Vorschrift, sondern die Frage, welchen sachlichen Regelungsgegenstand die einschlägige Norm besitzt. Soweit Maßnahmen originär und unmittelbar den Luftverkehr betreffen, bleibt es bei der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Maßgabe der Art. 71 und 73 GG und deren Ausfüllung durch das Luftverkehrsgesetz. Die Luftverkehrsverwaltung wird zudem gemäß Art. 87 d Abs. 1 Satz 1 GG in bundeseigener Verwaltung geführt. Diese grundsätzliche Sperrwirkung hat das Oberverwaltungsgericht nicht verkannt.
Rz. 16
Zutreffend ist auch seine Auffassung, dass das Europäische Luftrecht mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 923/2012 der Kommission vom 26. September 2012 zur Festlegung gemeinsamer Luftverkehrsregeln und Betriebsvorschriften für Dienste und Verfahren der Flugsicherung (ABl. L 281 S. 1) Regelungen enthält, die der Schaffung von Flugbeschränkungsgebieten in einer Naturschutzgebietsverordnung entgegenstehen.
Rz. 17
In den Erwägungsgründen 4 und 6 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 923/2012 kommt deutlich zum Ausdruck, dass ein einheitlicher europäischer Luftraum geschaffen werden soll. Durch SERA.3145 im Anhang der Durchführungsverordnung wird ein Verbot für Luftfahrzeuge normiert, in Luftsperrgebiete oder Flugbeschränkungsgebiete einzufliegen, für die entsprechende Angaben ordnungsgemäß veröffentlicht wurden. Anknüpfend hieran regelt § 43 LuftVO auch, dass Festlegungen nach § 17 Abs. 1 LuftVO durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in den Nachrichten für Luftfahrer veröffentlicht werden. Aus dem Zusammenspiel dieser Normen folgt, dass für den Luftraum über der Bundesrepublik Deutschland nur eine vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, das für die Festlegung dieser Gebiete zuständig ist, veranlasste Publikation in den Nachrichten für Luftfahrer als ordnungsgemäße Veröffentlichung im Sinne von SERA.3145 angesehen werden kann. Diesen Anforderungen würde die Veröffentlichung von Flugbeschränkungen aufgrund einer Naturschutzgebietsverordnung in einem örtlichen Verkündungsblatt nicht genügen. Mit Recht weist das Oberverwaltungsgericht darauf hin, dass der unionsrechtlich bezweckten Vereinheitlichung des Luftraums, bei dem für die Akteure Rechtssicherheit und Berechenbarkeit notwendig sind, eine nur lokale und für den Luftverkehr atypische Publikation widersprechen würde.
Rz. 18
Auf der Grundlage von § 17 LuftVO kann ausreichender Schutz naturschutzrechtlicher Belange gesichert werden. Danach legt das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur die Luftsperrgebiete und Gebiete mit Flugbeschränkungen fest, wenn dies zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, insbesondere für die Sicherheit des Luftverkehrs, erforderlich ist. Es kommt nicht darauf an, ob konkrete Gefahren für die Avifauna des Naturschutzgebiets bestehen. Um die Ziele der unionsrechtlichen Vorschriften der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (FFH-Richtlinie) (ABl. L 206 S. 7) und der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (Vogelschutz-Richtlinie) (ABl. L 20 S. 7) bei Anwendung des § 17 LuftVO zu erreichen, kann eine erweiternde unionsrechtliche Auslegung geboten sein. Soweit in dem Schreiben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 16. August 2016 die Auffassung vertreten wird, es sei nicht Aufgabe des Bundesministeriums, naturschutzrechtliche Verbote und die Absicherung eines Natura 2000-Gebiets sicherzustellen, folgt ihr der Senat nicht.
Rz. 19
2. Bundesrechtswidrig ist die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, die Sperrwirkung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG und des darauf beruhenden Luftverkehrsrechts sei im Anwendungsbereich der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie aufgehoben. Dass Art. 6 und 7 der FFH-Richtlinie und Art. 4 der Vogelschutz-Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichten, ein Europäisches Vogelschutzgebiet mit einem rechtlichen Schutzstatus auszustatten, der gewährleistet, dass dort die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie erhebliche Störungen derselben vermieden werden (EuGH, Urteile vom 27. Februar 2003 - C-415/01 [ECLI:EU:C:2003:118] - Rn. 16 f. und vom 14. Oktober 2010 - C-535/07 [ECLI:EU:C:2010:602] - Rn. 58; BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2014 - 9 A 4.13 - BVerwGE 149, 31 Rn. 40), begründet nicht die Befugnis, Flugbeschränkungen für bemannte Luftfahrzeuge über dem Boden oder Wasser nach dem Bundesnaturschutzgesetz zu erlassen. Die gebotene Bestimmtheit der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung schließt es aus, dass verschiedene Behörden zur verbindlichen Regelung einer solchen Frage nebeneinander zuständig sind.
Rz. 20
Auch der vom Oberverwaltungsgericht angeführte Anwendungsvorrang des Unionsrechts gebietet kein anderes Ergebnis. Nicht die vorrangige Anwendung materieller unionsrechtlicher Bestimmungen steht in Rede, sondern die Frage, welcher Normgeber nach den Maßgaben des nationalen Rechts für die Luftverkehrsbeschränkungen zuständig ist. Dass beide Unionsrichtlinien "Flugzeuge", "Luftfahrzeuge" sowie die "Luftfahrt" erwähnen (Anhang VI Buchst. b der FFH-Richtlinie und Art. 9 Abs. 1 Buchst. a, 2. Spiegelstrich und Anhang IV Buchst. b der Vogelschutz-Richtlinie), hat keine Folgen für die Sperrwirkung von Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG. Spezifische Regelungen im Hinblick auf die nationale Zuständigkeit für den Luftverkehr enthalten diese Vorschriften nicht. Auch aus § 32 BNatSchG, der dem Auftrag der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie zum Aufbau und Schutz des zusammenhängenden europäischen ökologischen Netzes "Natura 2000" nachkommt und durch geeignete Gebote und Verbote sowie Pflege- und Entwicklungsmaßnahmen gemäß Absatz 3 Satz 3 sicherstellen soll, dass den Anforderungen des Art. 6 der FFH-Richtlinie entsprochen wird, folgt keine Kompetenz zum Erlass von Flugbeschränkungen in einer Naturschutzgebietsverordnung. Die Pflichten des Art. 6 Abs. 2 der FFH-Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten die geeigneten Maßnahmen treffen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, zu vermeiden, sofern solche Störungen sich im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinie erheblich auswirken könnten (vgl. Lüttgau/Kockler, in: Giesberts/Reinhardt, BeckOK Umweltrecht, Stand April 2020, § 32 BNatSchG Rn. 10), kann sowohl der Bund als auch ein Land erfüllen. Eine unionsrechtliche Vorgabe besteht insoweit nicht. Die Regelung der für die Erreichung unionsrechtlicher Ziele zuständigen Stellen ist vielmehr den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vorbehalten. Die Kompetenz- und Aufgabenverteilung bei der Umsetzung der Richtlinien folgt daher den verfassungsrechtlichen Vorgaben (vgl. Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, 2. Aufl. 2017, § 31 Rn. a).
Rz. 21
Einer von der Antragsgegnerin angeregten Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung des Rangverhältnisses beider Rechtssysteme (Schutz von Natura 2000-Gebieten gemäß der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie im Verhältnis zum europäischen Luftverkehrsrecht) bedarf es daher nicht. In Rede steht allein die Frage der nationalen Zuständigkeit für den Erlass von naturschutzrechtlichen Vorschriften.
Rz. 22
3. Die vom Oberverwaltungsgericht bejahte Doppelzuständigkeit der unteren Naturschutzbehörde und des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur für den Luftraum bis zu einer Flughöhe von 150 m, widerspricht ebenfalls verfassungsrechtlichen Vorgaben. Mit Recht weist die Revision darauf hin, dass die Kompetenzordnung und das Rechtsstaatsprinzip die Zuweisung von Kompetenzen jeweils an nur eine Behörde verlangen und diese auch keine Ausnahmen in vermeintlichen Randbereichen erlauben.
Rz. 23
Die Bestimmtheit der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung schließt es aus, dass verschiedene Behörden zur verbindlichen Regelung einer Frage nebeneinander zuständig sind. Einander widersprechende Regelungen eines Einzelfalls mit dem Anspruch der Verbindlichkeit könnten sonst nämlich nur durch die Bindung der anderen Behörde an die Entscheidung der erstbefassten Behörde vermieden werden; das würde einen vom Gesetz nicht gewollten Zufallsfaktor in die Zuständigkeitsordnung hineintragen (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 1986 - 4 C 31.84 - BVerwGE 74, 315 ≪325 f.≫). Das Rechtsstaatsprinzip gebietet vielmehr, Kompetenzen nur einer Behörde einzuräumen und Doppelbeauftragungen zu vermeiden (OVG Münster, Urteil vom 13. September 1995 - 13 A 3687/94 - NVwZ-RR 1996, 185 ≪186≫).
Rz. 24
Soweit das Oberverwaltungsgericht Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für seine Auffassung einer zulässigen Doppelzuständigkeit anführt (BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1985 - 4 C 36.82 - Buchholz 442.40 § 29 LuftVG Nr. 1 sowie Beschlüsse vom 4. Juni 1986 - 4 B 94.86 - Buchholz 442.40 § 29 LuftVG Nr. 4 und vom 29. Juli 1986 - 4 B 73.86 - NVwZ 1987, 493), betreffen diese Entscheidungen die Genehmigung eines Modellflugplatzes (4 C 36.82), eine Aufstiegserlaubnis zum Betrieb von Flugmodellen (4 B 73.86) und die Untersagung des Betriebs von Segelflugmodellen durch eine Naturschutzbehörde (4 B 94.86). Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesen Entscheidungen nicht die Befugnis von Naturschutzbehörden, luftverkehrsbezogene Maßnahmen nach dem Bundesnaturschutzgesetz zu erlassen, bejaht. Vielmehr hat es die Frage, ob eine Naturschutzbehörde auf dem Gebiet des Luftrechts tätig werden dürfe, ausdrücklich verneint (BVerwG, Beschluss vom 4. Juni 1986 - 4 B 94.86 - Buchholz 442.40 § 29 LuftVG Nr. 4). Ob die zuständige Behörde im Hinblick auf die bundesrechtlichen Vorschriften des Luftrechts gehindert war, ihre landesrechtliche Zuständigkeit auszuüben, ist vielmehr davon abhängig zu machen (Art. 71 i. V. m. Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), ob das Bundesrecht für sich eine abschließende Regelung in Anspruch nimmt. Allerdings hat die Luftfahrtbehörde im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die Vorschriften des Naturschutzrechts zu beachten (BVerwG, Urteil vom 10. Mai 1985 - 4 C 36.82 - Buchholz 442.40 § 29 LuftVG Nr. 1 S. 3 und Beschluss vom 4. Juni 1986 - 4 B 94.86 - Buchholz 442.40 § 29 LuftVG Nr. 4 S. 12).
Rz. 25
Soweit es in dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juli 1986 (4 B 73.86) heißt, es sei im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung nicht ausgeschlossen, dass das der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes zugeordnete Recht (hier: die Gesetzgebung über den Luftverkehr nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG) die Beachtung naturschutzrechtlicher Belange zulasse, welche durch das Landesrecht konkretisiert seien (Rn. 9), lässt sich auch dieser Entscheidung nichts Abweichendes entnehmen. Die Luftfahrtbehörde hatte im Zuge der Bescheidung des Antrags auf Flugplatzgenehmigung gemäß § 6 Abs. 2 LuftVG geprüft, ob die geplante Maßnahme die Erfordernisse des Naturschutzes und der Landschaftspflege angemessen berücksichtigt. Hierzu gehörte auch die Prüfung, ob das geplante Vorhaben in konkreter Weise gegen den Schutzzweck einer Landschaftsschutzverordnung verstieß. Dieser Fall unterscheidet sich daher von dem vorliegenden, in dem die streitgegenständliche Naturschutzgebietsverordnung selbst im Wege einer konkret gefassten Bestimmung für Luftfahrzeuge ein Verbot der Unterschreitung einer Mindestflughöhe sowie ein Start- und Landeverbot regelt und somit eine den Luftverkehr betreffende spezifische Anordnung enthält. Damit hat sich die Antragsgegnerin die Befugnisse der Luftfahrtbehörde angemaßt.
Rz. 26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 15724364 |
BVerwGE 2023, 340 |
NVwZ 2023, 8 |
NuR 2023, 408 |
VR 2023, 287 |
ZLW 2023, 116 |
DVBl. 2023, 1409 |
DVBl. 2023, 3 |
UPR 2023, 310 |
FSt 2023, 821 |
Immissionsschutz 2023, 101 |
NdsVBl. 2023, 391 |