Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtswidriges Verbot des NPD-Wahlplakats "Migration tötet"
Leitsatz (amtlich)
1. Aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben sich spezifische Anforderungen nicht nur an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern bereits an die ihr vorgelagerte tatrichterliche Interpretation umstrittener Äußerungen.
2. Maßgeblich bei der Ermittlung des Inhalts einer Meinungsäußerung ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat (im Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476, 1980/91 u. a. - BVerfGE 93, 266 ≪295≫).
3. Bei mehrdeutigen Äußerungen haben Behörden und Gerichte sanktionsrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen, bevor sie ihrer Entscheidung eine zur Anwendung des Straftatbestands der Volksverhetzung führende Deutung zugrunde legen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 - 2 BvR 2179/09 - NJW 2009, 3503).
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 22.06.2021; Aktenzeichen 5 A 1386/20) |
VG Düsseldorf (Urteil vom 29.04.2020; Aktenzeichen 20 K 3926/19) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 29. April 2020 und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2021 geändert.
Es wird festgestellt, dass die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019 rechtswidrig gewesen ist.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in allen Instanzen.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, ein Kreisverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), begehrt die Feststellung, dass die von der beklagten Stadt erlassene Verfügung rechtswidrig gewesen ist, Wahlplakate der NPD zur Europawahl 2019 zu entfernen oder unkenntlich zu machen.
Rz. 2
Die Beklagte erteilte dem Kläger am 24. April 2019 eine bis zum 26. Mai 2019 befristete Sondernutzungserlaubnis, um 250 Wahlplakate anlässlich der am 26. Mai 2019 stattfindenden Wahl zum Europäischen Parlament im öffentlichen Straßenraum aufzuhängen. Eines dieser Plakate im Querformat zeigte in seinem rechten Drittel das Emblem der Partei in weißer und roter Farbe sowie darunter den in Weiß gedruckten Schriftzug "Widerstand - jetzt -". Auf dem linken Teil wurden auf schwarzgrauem Hintergrund die Ortsnamen verschiedener deutscher Städte und Gemeinden genannt, die jeweils durch ein Kreuz voneinander getrennt waren. Im Vordergrund befand sich unter der in Rot gedruckten Überschrift "Stoppt die Invasion:" der in Weiß gehaltene und durch seine Größe deutlich hervortretende Slogan "Migration tötet!".
Rz. 3
Ohne vorherige Anhörung forderte die Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 16. Mai 2019 auf, alle Wahlplakate mit dem Slogan "Stoppt die Invasion: Migration tötet!" in M. bis zum 17. Mai 2019, 12:00 Uhr zu entfernen oder unkenntlich zu machen. Zudem drohte sie die Durchführung im Wege der Ersatzvornahme an und ordnete die sofortige Vollziehung an. Das Plakat verletze das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. Denn ihm sei die eindeutige Aussage zu entnehmen, dass sämtliche Migranten als Straftäter eine akute Bedrohung für Leib und Leben der deutschen Bevölkerung darstellten. Diese Verunglimpfung erfülle den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Von einer Anhörung sei gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW abgesehen worden.
Rz. 4
Das Verwaltungsgericht hat die auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag umgestellte Anfechtungsklage abgewiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen (NWVBl. 2022, 171). Die infolge der Erledigung des Verwaltungsakts statthafte und wegen der Wiederholungsgefahr zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage sei unbegründet.
Rz. 5
Allerdings habe nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW eine Anhörungspflicht bestanden. Zwar habe dem Grunde nach aus der ex-ante-Sicht der Beklagten Gefahr im Verzug vorgelegen, da sie davon habe ausgehen dürfen, dass die Gestaltung der Wahlplakate den Straftatbestand der Volksverhetzung erfülle. Unter Zugrundelegung dieser Einschätzung sei eine weitere Verzögerung nicht hinnehmbar gewesen. Der Anhörungsverzicht erweise sich aber als ermessensfehlerhaft, da die Beklagte rechtsirrig von einem Fall der Verwaltungsvollstreckung (§ 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW) ausgegangen sei. Auch sei das durch § 28 Abs. 2 VwVfG NRW eröffnete Verfahrensermessen nicht auf Null reduziert gewesen, da man eine Frist zur Stellungnahme bis zum nächsten Morgen setzen und sodann die Ordnungsverfügung mit einer noch kürzeren Frist hätte versehen können. Die Verletzung der Anhörungspflicht sei im Erledigungszeitpunkt auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW geheilt worden. Der Anhörungsmangel führe jedoch nach § 46 VwVfG NRW nicht zum Erfolg der Klage, weil aus dem ex-ante-Blickwinkel eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen habe. Wegen des Angriffs auf die Menschenwürde der betroffenen Personengruppe sei eine Ordnungsbehörde gehalten, die notwendigen ordnungsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Rechtsgutverletzung wirksam zu beenden.
Rz. 6
Die auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützte Ordnungsverfügung sei wegen der von dem Wahlplakat ausgehenden konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit materiell rechtmäßig gewesen. Vorliegend erfüllten Gestaltung und Inhalt des Wahlplakats den Straftatbestand der Volksverhetzung. Zwar sei mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bei der Subsumtion einer Meinungsäußerung unter eine Strafnorm der objektive Sinn nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums zu ermitteln. Bei mehrdeutigen Äußerungen seien zudem andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen. Das Wahlplakat sei jedoch (nur) einer Auslegung zugänglich, die den Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfülle, weil die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Migranten in böswilliger Weise verächtlich gemacht würden. Ihm sei keine Begrenzung auf die Gruppe der seit Herbst 2015 eingereisten oder "krimineller" Migranten zu entnehmen. Der sich durch seine Gestaltung in den Vordergrund drängende Slogan "Migration tötet" lasse keine Einschränkung erkennen, sondern diene ausschließlich der Verdeutlichung der vom Kläger gesehenen Gefahr.
Rz. 7
Auch ein böswilliges Verächtlichmachen liege vor, da das Lebensrecht der Betroffenen aus verwerflichen Beweggründen bestritten oder sie als unterwertig behandelt werden sollten. Der Begriff der Invasion deute auf einen feindlichen Einfall in ein fremdes Hoheitsgebiet hin. Dies werde durch die Verknüpfung mit dem Begriff der Migration verstärkt, welchem zudem tödliche Wirkung zugeschrieben werde. Zur Illustration würden dabei Orte aufgezählt, an denen in das Gebiet der Bundesrepublik eingereiste Ausländer Straftaten gegen das Leben zum Nachteil deutscher Staatsbürger begangen haben sollten. Es dränge sich die Aussage auf, dass Ausländer generell die Tötung Deutscher beabsichtigten und mit der zahlenmäßigen Zunahme der Migranten auch die Gefahr für Deutsche ansteige, Opfer zu werden. Eine strafrechtlich irrelevante Auslegung des Plakats scheide aus.
Rz. 8
Zwar sei die hohe Zahl der in das Bundesgebiet einreisenden Ausländer insbesondere im Jahr 2015 und die Begehung eines Teils der beschriebenen Tötungsdelikte durch Asylbewerber Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Diskussionen gewesen. Das Wahlplakat könne aber nicht mehr als (überspitzter und polemischer) Beitrag zu dieser Debatte im Sinne einer Kritik an der Migrationspolitik verstanden werden, sondern generalisiere die geschehenen Taten erkennbar in Bezug auf die Gruppe aller Migranten.
Rz. 9
Über diese selbstständig tragenden Erwägungen hinaus sei in dem hier vorliegenden Fall auch das Parteiprogramm der NPD in seinem Kern zu berücksichtigen. Dies führe erst recht zu der Annahme, dass jede nicht strafrechtlich relevante Deutung des Wahlplakats als fernliegend habe ausscheiden müssen. Ein Angriff auf die Menschenwürde zur Begründung eines volksverhetzenden Gehalts einer Wahlwerbung könne im Einzelfall unter Rückgriff auf das Programm einer Partei bzw. ihre innere Haltung abgeleitet werden, wenn jedenfalls der dauerhafte Kern des Parteiprogramms dem Wahlbürger so präsent sei, dass er die Aussage auch unter Berücksichtigung dieses Wissens auslegen und verstehen müsse. Soweit das Bundesverfassungsgericht einen solchen Rückgriff generell nicht für möglich erachtet habe, folge der Senat dem nicht.
Rz. 10
Das Wahlplakat sei auch geeignet, den öffentlichen Frieden zu gefährden. Durch die Gestaltung und den Inhalt werde jedenfalls bei "Nichtmigranten" das Vertrauen in die Sicherheit von Leib und Leben erschüttert, da sie befürchten müssten, ebenfalls Opfer eines von Migranten ausgehenden Angriffs zu werden. Das Wahlplakat sei auch in evidenter und schwerwiegender Weise volksverhetzend. Deshalb bedürfe es keiner Entscheidung, ob die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Weigerung einer (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkanstalt, einen Wahlwerbespot auszustrahlen, auf Ordnungsverfügungen zum Entfernen von Plakaten zu übertragen sei.
Rz. 11
Die von der Beklagten getroffene Störerauswahl weise keine Rechtsfehler auf. Selbst wenn man davon ausgehe, dass die Wahlplakate nicht im Eigentum des Klägers als Kreisverband gestanden hätten, sei er als Inhaber der tatsächlichen Gewalt über die Wahlwerbeplakate anzusehen. Seine Inanspruchnahme habe eine effektive Gefahrenabwehr erwarten lassen.
Rz. 12
Das Berufungsgericht hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, die der Sache insbesondere mit Blick auf die unterschiedliche Rechtsprechung der Verwaltungs- und auch der Strafgerichte zu der Frage zukomme, ob das verwendete Wahlplakat den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfülle.
Rz. 13
Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er rügt insbesondere die materielle Rechtswidrigkeit der Beseitigungsverfügung, da die mehrdeutige Aussage des Wahlplakats sich zwanglos auch in nicht strafbarer Weise interpretieren lasse. Das belegten zahllose Entscheidungen anderer Gerichte und Staatsanwaltschaften. Der Bescheid sei zudem wegen der fehlenden Anhörung formell rechtswidrig. Hier habe auch aus der ex-ante-Sicht keine Gefahr im Verzug vorgelegen, denn jedenfalls sei eine mündliche oder gar telefonische Anhörung möglich gewesen.
Rz. 14
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung der Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2021 und des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 29. April 2020 festzustellen, dass die Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019 rechtswidrig war,
hilfsweise, das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2021 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Oberverwaltungsgerichts zurückzuverweisen.
Rz. 15
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Rz. 16
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und führt aus, dass straflose Deutungsvarianten des Plakatinhaltes als fernliegend zurückzuweisen seien. Auch wäre die Behördenentscheidung ohne den eventuellen Anhörungsmangel nicht anders ausgefallen. Zudem habe sich das gesamte Verfahren ausschließlich mit Rechts- und nicht mit Tatfragen beschäftigt, so dass es keiner Anhörung bedurft hätte.
Entscheidungsgründe
Rz. 17
Die Revision des Klägers hat Erfolg, denn seine Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig und begründet. Das Berufungsgericht hat bei der inhaltlichen Erfassung des Wahlplakats, die es seiner Annahme zugrunde gelegt hat, die Anbringung im öffentlichen Straßenraum erfülle den Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB, die gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO revisiblen, in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG wurzelnden Grundsätze zur Auslegung von Meinungsäußerungen verletzt. Das darauf beruhende Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Rz. 18
1. Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig. Denn der Senat ist an die Zulassungsentscheidung der Vorinstanz gemäß § 132 Abs. 3 VwGO gebunden, obwohl das Berufungsgericht nicht die Klärungsbedürftigkeit einer abstrakten Rechtsfrage zu einer revisiblen Rechtsnorm, sondern die Beurteilung der strafrechtlichen Relevanz des konkreten Wahlplakats zum Anlass für die Zulassung nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO genommen hat.
Rz. 19
2. Die zulässige Revision des Klägers hat Erfolg, da sich die Fortsetzungsfeststellungsklage als zulässig (a) und begründet (b) erweist.
Rz. 20
a) Der vom Kläger zuletzt gestellte Fortsetzungsfeststellungsantrag ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft. Denn die mit der Anfechtungsklage angegriffene Verfügung der Beklagten hatte sich nach Klageerhebung mit Ablauf der Sondernutzungserlaubnis am 26. Mai 2019 erledigt. Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts, das mit dessen drohender Wiederholung begründet wird, setzt die konkrete oder hinreichend bestimmte Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 25. November 1986 - 1 C 10.86 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 162; Beschluss vom 23. November 2022 - 6 B 22.22 - NVwZ-RR 2023, 342 Rn. 13 m. w. N.). Das ist vorliegend der Fall, da der Kläger das Wahlplakat auch bei künftigen Wahlkämpfen verwenden will.
Rz. 21
b) Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, denn die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019 war materiell rechtswidrig. Sie konnte nicht auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützt werden, da kein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit vorlag. Der Inhalt des Wahlplakats hat unter Berücksichtigung der aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleitenden Auslegungsgrundsätze zur Erfassung von Meinungsäußerungen nicht den objektiven Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllt.
Rz. 22
aa) Als zutreffend erweist sich das Prüfprogramm des Berufungsgerichts. Die Begründetheit eines Fortsetzungsfeststellungsantrags nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO setzt voraus, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig war, der Kläger dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt wurde und der Verwaltungsakt deshalb - wenn er sich nicht erledigt hätte - vom Verwaltungsgericht hätte aufgehoben werden müssen. Zu Recht hat das Berufungsgericht die Rechtswidrigkeit und subjektive Rechtsverletzung nicht für den Erfolg der Fortsetzungsfeststellungsklage als hinreichend angesehen, sondern zusätzlich verlangt, dass der Verwaltungsakt im Falle fehlender Erledigung gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO vom Gericht hätte aufgehoben werden müssen. Denn § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO gibt nicht mehr Rechtsschutz, als der Kläger im Falle mangelnder Erledigung des angegriffenen Verwaltungsakts hätte beanspruchen können (BVerwG, Urteil vom 3. März 1987 - 1 C 15.85 - BVerwGE 77, 70 ≪73≫).
Rz. 23
bb) Das Oberverwaltungsgericht hat die Ordnungsverfügung auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützt. Nach dieser Vorschrift können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Die Vorinstanz hat § 14 Abs. 1 OBG NRW dahingehend ausgelegt, dass das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit u. a. die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung umfasst und demzufolge bei Erfüllung des Straftatbestands der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB verletzt ist. Diese Auslegung der irrevisiblen landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage hat der Senat gemäß § 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO hinzunehmen. Er ist insoweit auf die Prüfung beschränkt, ob das Auslegungsergebnis revisibles Recht verletzt. Das ist nicht der Fall, da weder das Verständnis des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit noch der konkrete Gefahrenbegriff einen Verstoß gegen Bundes(verfassungs)recht erkennen lässt.
Rz. 24
cc) Das Berufungsurteil unterliegt jedoch hinsichtlich der Auslegung des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB und dessen Anwendung auf den vorliegenden Fall voller revisionsgerichtlicher Überprüfung. Denn durch den Blankettbegriff der öffentlichen Sicherheit hat der Landesgesetzgeber Straftatbestände des Strafgesetzbuchs in Bezug genommen, die ihrerseits gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zum revisiblen Bundesrecht gehören.
Rz. 25
Zwar werden Vorschriften oder Begriffe des Bundesrechts durch Verweisungen des Landesgesetzgebers in der Mehrzahl der Fälle nicht zum revisiblen Recht, sondern gelten nur kraft landesgesetzlicher Anordnung. Denn typischerweise erlangt Bundesrecht durch Rezeption in den Sachbereichen, die der Gesetzgebungskompetenz der Länder unterliegen, nur durch den Anwendungsbefehl des Landesgesetzgebers Geltung (BVerwG, Urteile vom 4. November 1976 - 5 C 73.74 - BVerwGE 51, 268 ≪271 ff.≫ und vom 24. September 1992 - 3 C 64.89 - BVerwGE 91, 77 ≪80≫; Beschlüsse vom 24. März 1986 - 7 B 35.86 - NVwZ 1986, 739 und vom 2. Juli 2009 - 7 B 9.09 - NVwZ 2009, 1037 Rn. 6). Unmittelbar anwendbar auf den zu entscheidenden Fall sind die bundesrechtlichen Regelungen in diesen Fällen nicht eo ipso, sondern werden es erst durch die insoweit konstitutive Verweisung des Landesgesetzgebers. Setzt indes der Landesgesetzgeber - wie hier - einen Straftatbestand des Strafgesetzbuchs als geltend voraus und knüpft an ihn lediglich eine eigene ordnungsrechtliche Rechtsfolgenregelung, wird der bundesrechtliche Straftatbestand weiterhin aufgrund des Normsetzungsbefehls des Bundes angewendet, da sich sein sachlicher Anwendungsbereich durch die Verweisung nicht ändert. Ob die Voraussetzungen des Straftatbestands erfüllt sind, ist deshalb eine revisible Vorfrage für die Anwendung der landesrechtlichen Norm (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Februar 2013 - 7 C 4.12 - NVwZ-RR 2013, 462 Rn. 14, 16; Neumann/Korbmacher, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 137 Rn. 75; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 137 Rn. 21). Auch wenn sich das Berufungsgericht zu der Frage, ob § 14 Abs. 1 OBG NRW den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB als Bundes- oder Landesrecht rezipiert, nicht explizit geäußert hat, spricht die von ihm angeführte Begründung der Revisionszulassung dafür, dass es ebenfalls von einer Rezeption als Bundesrecht ausgeht.
Rz. 26
dd) Das Berufungsgericht hat den Inhalt des Wahlplakats dahingehend gewürdigt, dass durch die Anbringung im öffentlichen Straßenraum der Straftatbestand der Volksverhetzung (§ 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB) erfüllt sei. Damit hat es die vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG entwickelten revisiblen Auslegungsgrundsätze für die Erfassung des Inhalts von Meinungsäußerungen verletzt.
Rz. 27
(1) Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Auf dieses Grundrecht können sich auch Parteien gemäß Art. 21 GG im Kontext der Sichtwerbung durch Wahlplakate berufen (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 - 2 BvR 2179/09 - NJW 2009, 3503 Rn. 3). Textliche und bildliche Aussagen auf Wahlplakaten stellen - ungeachtet ihres möglichen ehrverletzenden Gehalts - ein vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasstes Werturteil dar; auf diese persönliche Stellungnahme bezieht sich der Grundrechtsschutz. Er besteht deswegen unabhängig davon, ob die Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476, 1980/91 u. a. - BVerfGE 93, 266 ≪289≫; Urteil vom 22. Februar 2011 - 1 BvR 699/06 - BVerfGE 128, 226 ≪264 f.≫). Über den Inhalt einer Äußerung hinaus erstreckt sich der Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch auf ihre Form, so dass auch polemische oder verletzend formulierte Äußerungen in den Schutzbereich des Grundrechts fallen (BVerfG, Beschlüsse vom 13. Mai 1980 - 1 BvR 103/77 - BVerfGE 54, 129 ≪138 f.≫ und vom 22. Juni 1982 - 1 BvR 1376/79 - BVerfGE 61, 1 ≪7 f.≫). Insbesondere in der öffentlichen Auseinandersetzung, zumal im politischen Meinungskampf, vermittelt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG das Recht, auch in überspitzter und polemischer Form Kritik zu äußern. Dass eine Aussage scharf und übersteigert formuliert ist, entzieht sie deshalb nicht dem Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 - 2 BvR 2179/09 - NJW 2009, 3503 Rn. 3).
Rz. 28
(2) Eine inhaltliche Begrenzung von Meinungsäußerungen kommt im Rahmen der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG in Betracht. Im vorliegenden Fall hat das Oberverwaltungsgericht das Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit mit der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB begründet. Bei diesem Straftatbestand handelt es sich um ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, das dem Schutz der Menschlichkeit dient und seinen verfassungsrechtlichen Rückhalt letztlich in Art. 1 Abs. 1 GG findet (BVerfG, Beschluss vom 24. September 2009 - 2 BvR 2179/09 - NJW 2009, 3503 Rn. 5). Behörden und Gerichte haben jedoch bei der Auslegung und Anwendung des § 130 StGB die aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beachten, damit die wertsetzende Bedeutung des Grundrechts auch auf der Ebene der Normanwendung im konkreten Fall zur Geltung kommt (BVerfG, Beschlüsse vom 13. Februar 1996 - 1 BvR 262/91 - BVerfGE 94, 1 ≪8≫ und vom 6. September 2000 - 1 BvR 1056/95 - NJW 2001, 61 ≪62≫). Weder das vom Berufungsgericht angeführte Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vom 7. März 1966 (BGBl. 1969 II S. 961) noch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urteil vom 20. April 2010 - 18788/09 - NJW-RR 2011, 984) gibt Anlass, diese Maßstäbe zu modifizieren.
Rz. 29
(3) Als Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung einer in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallenden Äußerung muss ihr Sinn zutreffend erfasst worden sein (BVerfG, Beschluss vom 13. Februar 1996 - 1 BvR 262/91 - BVerfGE 94, 1 ≪9≫). Da schon auf der Deutungsebene Vorentscheidungen über die rechtliche Zulässigkeit einer Äußerung fallen, ergeben sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur spezifische Anforderungen an die Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze, sondern bereits an die ihr vorgelagerte Interpretation umstrittener Äußerungen (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476, 1980/91 u. a. - BVerfGE 93, 266 ≪295≫). Ziel der Deutung ist die Ermittlung des objektiven Sinns einer Äußerung. Maßgeblich ist daher weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat (BVerfG, Beschlüsse vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476, 1980/91 u. a. - BVerfGE 93, 266 ≪295≫; vom 25. März 2008 - 1 BvR 1753/03 - NJW 2008, 2907 ≪2908≫ sowie vom 24. September 2009 - 2 BvR 2179/09 - NJW 2009, 3503 Rn. 7). Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest, denn der objektive Sinn wird auch vom Kontext und den Begleitumständen einer Äußerung bestimmt, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476, 1980/91 u. a. - BVerfGE 93, 266 ≪295≫). Die Notwendigkeit der Berücksichtigung begleitender Umstände ergibt sich in besonderer Weise dann, wenn die betreffende Formulierung ersichtlich ein Anliegen in nur schlagwortartiger Form zusammenfasst (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2007 - 1 BvR 3041/07 - BVerfGK 13, 1 Rn. 16).
Rz. 30
Bei mehrdeutigen Äußerungen haben Behörden und Gerichte sanktionsrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen, bevor sie ihrer Entscheidung eine zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung zugrunde legen (BVerfG, Beschlüsse vom 19. April 1990 - 1 BvR 40, 42/86 - BVerfGE 82, 43 ≪52≫; vom 9. Oktober 1991 - 1 BvR 1555/88 - BVerfGE 85, 1 ≪14≫; vom 13. Februar 1996 - 1 BvR 262/91 - BVerfGE 94, 1 ≪9≫ und vom 25. Oktober 2005 - 1 BvR 1696/98 - BVerfGE 114, 339 ≪349≫). Dabei brauchen sie nicht auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände der Äußerung gestützte Alternativen einzugehen oder gar abstrakte Deutungsmöglichkeiten zu entwickeln, die in den konkreten Umständen keinerlei Anhaltspunkte finden (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 1995 - 1 BvR 1476, 1980/91 u. a. - BVerfGE 93, 266 ≪295 f.≫). Bleibt die Äußerung mehrdeutig, weil sich nicht strafbare Deutungsmöglichkeiten nicht als fernliegend ausschließen lassen, ist diejenige Variante zugrunde zu legen, die noch von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt ist. Insoweit ist bei der Auslegung von Äußerungen, die einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leisten, mit Blick auf das Gewicht des Grundrechts der Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und die grundsätzliche Vermutung für die Freiheit der Rede in der liberalen Demokratie nicht engherzig zu verfahren (BVerwG, Urteil vom 30. November 2022 - 6 C 12.20 - NVwZ 2023, 602 Rn. 61).
Rz. 31
(4) Zwar hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung diese Auslegungsgrundsätze maßstäblich zugrunde gelegt (UA S. 27 - 29), ist ihnen aber in der Anwendung bei der Ermittlung der Aussage des Wahlplakats (UA S. 29 - 32) nicht gerecht geworden. Auch wenn die Bestimmung des Inhalts von (Meinungs-)Äußerungen revisionsrechtlich zur Tatsachenfeststellung i. S. d. § 137 Abs. 2 VwGO zu zählen ist und demzufolge der freien Beweiswürdigung des Tatrichters gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO obliegt (BVerwG, Urteile vom 21. Juli 2010 - 6 C 22.09 - BVerwGE 137, 275 Rn. 32 ff. und vom 14. Dezember 2020 - 6 C 11.18 - BVerwGE 171, 59 Rn. 35 m. w. N.), muss sie sich im Rahmen der revisionsgerichtlichen Überprüfung an den vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleiteten Auslegungsgrundsätzen messen lassen, deren Verletzung der Kläger zudem explizit gerügt hat. Insoweit gilt hier nichts anderes als bei der Überprüfung der Auslegung von Willenserklärungen anhand der gesetzlichen Auslegungsregeln, bei denen das Revisionsgericht im Falle eines Verstoßes zur eigenen Auslegung der Erklärung befugt ist (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 19. Februar 1982 - 8 C 27.81 - BVerwGE 65, 61 ≪69≫; vom 19. Januar 1990 - 4 C 21.89 - BVerwGE 84, 257 ≪264 f.≫ und vom 11. Januar 2011 - 1 C 1.10 - BVerwGE 138, 371 Rn. 15; Eichberger/Buchheister, in: Schoch/Schneider, VwGO, Stand: August 2022, § 137 Rn. 153 ff. m. w. N.).
Rz. 32
Das Oberverwaltungsgericht hat bei seiner Interpretation der Aussagen auf dem Plakat die Augen davor verschlossen, dass diese im Kontext eines Wahlkampfes standen, in dem konkurrierende Politikentwürfe typischerweise nur verkürzt und zugespitzt einander gegenübergestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2019 - 1 BvQ 45/19 - juris Rn. 14). Zwar hat es bei der Nachzeichnung des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG das Recht der politischen Parteien zu überspitzten und polemischen Äußerungen im politischen Meinungskampf erwähnt (UA S. 26), ist darauf aber bei seiner konkreten Würdigung des Wahlplakats nicht näher eingegangen. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung eines Wahlkampfes als Begleitumstand ergibt sich in besonderer Weise dann, wenn die betreffende Äußerung - wie hier auf einem Wahlplakat - ersichtlich ein Anliegen in nur schlagwortartiger Form zusammenfasst (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2007 - 1 BvR 3041/07 - BVerfGK 13, 1 Rn. 16).
Rz. 33
Des Weiteren hat es bei dem Slogan "Migration tötet" von dem entpersonalisierten Begriff der Migration unmittelbar darauf geschlossen, dass nur alle in Deutschland lebenden Migranten als Personen angesprochen sein könnten. Zwar hat es gesehen, dass diese Aussage auf den Vorgang der Migration als solchen und nicht auf Personen abstellt (UA S. 31 unten). Die sich daran unmittelbar anschließende Würdigung "Nicht einmal der Kläger trägt jedoch vor,... dass unbefangene Betrachter dem Plakat die Aussage entnehmen könnten, der Migrationsvorgang als solcher sei gefährlich." trägt jedoch nicht den von der Vorinstanz offenbar als naheliegend oder gar zwingend angesehenen Gegenschluss, dann könne nur die Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten gemeint sein. Die Annahme, das Wahlplakat könne nicht mehr als (überspitzter und polemischer) Beitrag zu der Debatte im Sinne einer Kritik an der Migrationspolitik verstanden werden (UA S. 32), bleibt eine bloße, nicht weiter argumentativ unterfütterte Behauptung. Auf andere Deutungsvarianten wie einer nicht den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllenden Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung, die insbesondere in dem - dem Berufungsgericht bekannten - Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2019 (- 1 BvQ 45/19 - juris Rn. 14), dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Weimar vom 22. Oktober 2019 (- 3 EO 715/19 - ThürVBl. 2021, 247 Rn. 7) sowie den vom Kläger vorgelegten Beschlüssen von Strafgerichten (AG Garmisch-Partenkirchen, Beschluss vom 13. August 2019 - 2 Ds 12 Js 22133/19 -; Landgericht München II, Beschluss vom 19. September 2019 - 1 Qs 23/19 -; LG Potsdam, Beschluss vom 20. Dezember 2019 - 23 QS 56/19 - ≪juris≫) aufscheint, ist die Vorinstanz nicht näher eingegangen. Sie hat diese vielmehr komplett ausgeblendet.
Rz. 34
Die Ortsnamen auf dem Plakat als tatsächliche Anknüpfungspunkte für körperliche Übergriffe von Migranten auf Deutsche hat das Oberverwaltungsgericht generalisierend verstanden (UA S. 31 und 32). Mit einer objektiv ebenfalls möglichen limitierenden Lesart, die die genannten Tatorte gerade nicht auf alle Migranten als (potentielle) Täter beziehen würde, hat es sich überhaupt nicht auseinandergesetzt. Auch die Deutung des Wortes "Invasion" im Berufungsurteil, nach der sich die Aussage aufdränge, Ausländer beabsichtigten allgemein die Tötung Deutscher (UA S. 31), lässt wiederum eine mögliche Interpretation als - freilich überspitzte - Kritik an der deutschen Migrationspolitik außer Acht.
Rz. 35
In der gebotenen Gesamtbetrachtung seiner Beweiswürdigung drängt sich der Eindruck auf, das Berufungsgericht habe bei der Auslegung der Aussagen des Wahlplakats aus den Augen verloren, dass der Deutung einer Äußerung - wie oben ausgeführt - nicht die subjektive Absicht des sich Äußernden, sondern der Sinn zugrunde zu legen ist, den sie objektiv nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Es hat strafrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten, die das Bundesverfassungsgericht und andere Gerichte aufgezeigt haben, nicht mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen ausgeschlossen. Der durch den Wortlaut und die Umstände der Äußerung in objektiver Lesart eröffneten Bandbreite von Deutungsvarianten, für die sich konkrete Anhaltspunkte finden, hat es sich verschlossen. Da sich aber die Äußerung auf dem Wahlplakat objektiv als mehrdeutig erweist, weil nichtstrafbare Deutungsmöglichkeiten nicht als fernliegend ausgeschlossen werden können, hätte das Berufungsgericht seiner rechtlichen Beurteilung nicht die Variante zugrunde legen dürfen, die den Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt. Auf dieser Verletzung revisibler, in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG wurzelnder Auslegungsregeln beruht das Berufungsurteil, das sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO).
Rz. 36
Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass der vom Berufungsgericht selbständig tragend zur Auslegung des Wahlplakats für möglich erachtete Rückgriff auf das Parteiprogramm der NPD (UA S. 32 - 34) ebenfalls rechtsfehlerhaft ist. Denn maßgeblich für das Verständnis eines Wahlplakats ist allein dessen Äußerung selbst (anders VG Gießen, Urteil vom 9. August 2019 - 4 K 2279/19.GI - juris Rn. 39 ff.) und nicht die dahinterstehende parteiliche Programmatik (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 15. Mai 2019 - 1 BvQ 43/19 - NVwZ 2019, 963 Rn. 12 und vom 7. Juli 2020 - 1 BvR 479/20 - NJW 2021, 297 Rn. 15). Denn dieses Wissen kann dem Rezipienten nicht als präsent unterstellt werden. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts gilt auch dann nichts Abweichendes, wenn es sich - wie hier - um eine Partei handelt, hinsichtlich derer das Bundesverfassungsgericht selbst die Verfassungswidrigkeit durch Urteil festgestellt hat. Denn das Bundesverfassungsgericht hat auch in Bezug auf die NPD ausdrücklich ausgeschlossen, die parteiliche Programmatik zur Bestimmung des Bedeutungsinhalts (eines Wahlwerbespots) heranzuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2019 - 1 BvQ 43/19 - NVwZ 2019, 963 Rn. 12).
Rz. 37
Auf den vom Kläger darüber hinaus gerügten Anhörungsmangel kommt es wegen der materiellen Rechtswidrigkeit des Bescheids der Beklagten vom 16. Mai 2019 nicht mehr an. Auf die begründete Revision kann der Senat gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO in der Sache selbst entscheiden, da keine weiteren tatsächlichen Feststellungen mehr zu treffen sind.
Rz. 38
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 15737006 |
BVerwGE 2024, 246 |
NVwZ 2023, 1167 |
AfP 2023, 332 |
DÖV 2023, 728 |
JA 2023, 964 |
JZ 2023, 572 |
JZ 2023, 872 |
JuS 2024, 183 |
VR 2023, 319 |
FSt 2024, 107 |
GRZ 2023, 80 |
NWVBl. 2023, 359 |