Leitsatz (amtlich)
Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, die ein Auszubildender für sich selbst erhält, stellen Einkommen im Sinne des BAföG dar, das dem allgemeinen Einkommensfreibetrag unterfällt.
Verfahrensgang
VG Gera (Urteil vom 19.02.2019; Aktenzeichen 6 K 1211/18 Ge) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Gera vom 19. Februar 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
Rz. 1
Die Beteiligten streiten um die Anrechnung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz auf die Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.
Rz. 2
Der Kläger besuchte eine höhere Berufsfachschulklasse und erhielt im Bewilligungszeitraum Juli 2017 bis Juni 2018 Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Nachdem der Gesetzgeber ab 1. Juli 2017 die Berechtigung zum Bezug von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz von der Vollendung des 12. Lebensjahres auf die Vollendung des 18. Lebensjahres heraufgesetzt hatte, erhielt der Kläger von Juli 2017 bis zu seinem 18. Geburtstag im Oktober 2017 auch Unterhaltsvorschussleistungen in Höhe von insgesamt 660 €. Die Beklagte sah diese Leistungen als Ausbildungsbeihilfe an, die auf die gesamte 2017/2018 gewährte Ausbildungsförderung ohne Berücksichtigung eines Freibetrages anzurechnen sei. Dementsprechend setzte sie mit Bescheid vom 30. April 2018 die Ausbildungsförderung für den Kläger herab und forderte ihn zur Erstattung überzahlter Ausbildungsförderung auf.
Rz. 3
Auf die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit der Begründung auf, dass es sich bei den Unterhaltsvorschussleistungen ausbildungsförderungsrechtlich um sonstige Einnahmen unterhalb des maßgebenden allgemeinen Einkommensfreibetrags handele.
Rz. 4
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision. Sie macht geltend, dass es sich bei den dem Kläger gewährten Unterhaltsvorschussleistungen um Ausbildungsbeihilfen handele, die ohne Berücksichtigung eines Freibetrages auf die Ausbildungsförderung anzurechnen seien.
Rz. 5
Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Sprungrevision der Beklagten ist nicht begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts steht mit Bundesrecht im Einklang (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Rz. 7
1. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Bescheid der Beklagten vom 30. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Thüringer Landesverwaltungsamtes vom 4. Juni 2018 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwischen den Beteiligten steht dabei allein im Streit, ob der Kläger deshalb zu Unrecht Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1952; 2012 I S. 197), für den hier relevanten Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 71 des Gesetzes vom 29. März 2017 (BGBl. I S. 626), erhalten hat und die Leistungen insoweit zurückerstatten muss, weil er für den Zeitraum Juli bis Oktober 2017 ebenfalls Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) in der Fassung des Art. 23 des Gesetzes vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3122) erhalten hat, die er sich im Rahmen der Ausbildungsförderung als eigenes Einkommen anrechnen lassen muss. Dies hat das Verwaltungsgericht zutreffend verneint.
Rz. 8
Als Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheides kommt allein § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Halbs. 1 BAföG in Betracht. Danach ist, wenn die Voraussetzungen für die Leistung von Ausbildungsförderung an keinem Tage des Kalendermonats vorgelegen haben, für den sie gezahlt worden ist, - außer in den Fällen der §§ 44 bis 50 SGB X - der Bewilligungsbescheid insoweit aufzuheben und der Förderungsbetrag in entsprechendem Umfang zu erstatten, als der Auszubildende Einkommen im Sinne des § 21 BAföG erzielt hat, das bei der Bewilligung der Ausbildungsförderung nicht berücksichtigt worden ist. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Die dem Kläger gewährten Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz sind zwar Einkommen im Sinne des § 21 BAföG (a). Sie unterfallen aber der Freibetragsregelung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG und sind deshalb bei der Bewilligung von Ausbildungsförderung nach Maßgabe dieser Vorschrift zu berücksichtigen; dieser eindeutige gesetzliche Befund kann nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung korrigiert werden (b).
Rz. 9
a) Die dem Auszubildenden selbst gewährten Unterhaltsvorschussleistungen sind Einkommen im Sinne der hier allein in Betracht kommenden Regelung des § 21 Abs. 3 Satz 1 BAföG. Danach gelten die dort bezeichneten Einnahmen in Höhe der tatsächlich geleisteten Beträge als Einkommen im Sinne des BAföG. Die Unterhaltsvorschussleistungen stellen zwar keine Ausbildungsbeihilfen oder gleichartige Leistungen im Sinne von § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG dar (aa). Sie zählen aber zu den sonstigen Einnahmen nach § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BAföG (bb).
Rz. 10
aa) Unterhaltsvorschussleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, die der Auszubildende für sich selbst erhält, sind keine Ausbildungsbeihilfen oder gleichartige Leistungen im Sinne des § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG. Der Begriff der Ausbildungsbeihilfen und gleichartigen Leistungen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (BVerwG, Urteil vom 21. September 1989 - 5 C 10.87 - BVerwGE 82, 323 ≪327 f.≫). Hieran ist festzuhalten. Diese Leistungen haben die allgemeine Zweckrichtung der Ausbildungsförderung, sie werden eigens zum Zwecke der Durchführung einer Ausbildung gewährt (vgl. OVG Münster, Urteil vom 18. Februar 1988 - 16 A 2230/85 - FamRZ 1988, 109 ≪110≫). Unterhaltsvorschussleistungen werden demgegenüber unabhängig von der Durchführung einer Ausbildung gewährt, um den alleinerziehenden Elternteil wirtschaftlich zu entlasten und den (Mindest-)Unterhalt des Minderjährigen sicherzustellen (BT-Drs. 8/1952 S. 6). Sie dienen der Behebung oder zumindest Milderung einer gegenwärtigen Notlage, die nach der Wertung des Gesetzes durch das Alleinerziehen durch einen Elternteil und ausbleibende oder nur unzureichende Unterhaltszahlungen des barunterhaltspflichtigen anderen Elternteils gekennzeichnet ist (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2017 - 5 C 36.16 - BVerwGE 161, 130 Rn. 19). Diese Zweckbestimmung hat sich durch die Ausweitung der Leistungsberechtigung auf die Gruppe der 12- bis 17-Jährigen durch das Gesetz vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3122) für den vorliegenden Zusammenhang nicht geändert. Denn die zusätzlich in § 1 Abs. 1a UVG genannten Leistungsvoraussetzungen knüpfen nicht an die Durchführung einer Ausbildung an.
Rz. 11
Gegenteiliges folgt auch nicht aus dem Erlass des Bundesministeriums für Bildung und Forschung vom 20. September 2017, wonach Unterhaltsvorschussleistungen an den Auszubildenden selbst Ausbildungsbeihilfen im Sinne von § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BAföG seien. Diese rechtliche Einordnung widerspricht eindeutig den gesetzlichen Vorgaben und bindet überdies als sog. norminterpretierende Verwaltungsvorschrift die Gerichte nicht (vgl. zur Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum BAföG: BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2010 - 5 C 3.09 - Buchholz 436.36 § 27 BAföG Nr. 6 Rn. 38).
Rz. 12
bb) Unterhaltsvorschussleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz, die der Auszubildende für sich selbst erhält, zählen aber zu den sonstigen Einnahmen im Sinne von § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BAföG. Danach gelten als Einkommen des Auszubildenden mit Ausnahme der Unterhaltszahlungen seiner Eltern und seines Ehegatten oder Lebenspartners seine sonstigen Einnahmen, die zur Deckung des Lebensbedarfs bestimmt sind, soweit sie das Bundesministerium für Bildung und Forschung in einer Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates bezeichnet hat. Für den Auszubildenden selbst gewährte Unterhaltsvorschussleistungen dienen, ohne selber Unterhaltsleistungen der Eltern zu sein, der Deckung seines Lebensbedarfs.
Rz. 13
Zudem werden sie von § 1 Nr. 7 der auf der Grundlage von § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BAföG erlassenen BAföG-Einkommensverordnung (BAföG-EinkommensV) vom 5. April 1988 (BGBl. I S. 505), für den hier relevanten Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 6 Abs. 3 des Gesetzes vom 23. Mai 2017 (BGBl. I S. 1228), erfasst. Als Einnahmen, die zur Deckung des Lebensbedarfs bestimmt sind, gelten danach auch Leistungen der sozialen Sicherung "nach dem Unterhaltsvorschussgesetz Unterhaltsleistung (§§ 1 ff.)". Nach dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut erfasst die Verweisung alle Unterhaltsvorschussleistungen einschließlich derjenigen an den Auszubildenden selbst. Insbesondere fehlt in § 1 Nr. 7 BAföG-EinkommensV eine Formulierung, die den Anwendungsbereich der Vorschrift auf die Geschwisterkinder und eigenen Kinder des Auszubildenden beschränkt, die bei Inkrafttreten der Vorschrift im Jahre 1988 allein Leistungsberechtigte nach dem Unterhaltsvorschussgesetz sein konnten. Die Norm enthält vielmehr eine dynamische Verweisung auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz in seiner jeweils geltenden Fassung. Dies ergibt bereits der systematische Vergleich mit § 1 Nr. 8, 9, 11 und 12 sowie § 2 Nr. 3 BAföG-EinkommensV. Diese Vorschriften verweisen jeweils auf ein Gesetz in einer ganz bestimmten Fassung und bringen durch dieses Vollzitat eine statische Verweisung hierauf zum Ausdruck, während § 1 Nr. 7 BAföG-EinkommensV (wie auch zahlreiche andere Ziffern in § 1 BAföG-EinkommensV) ein solches Vollzitat gerade nicht aufweist. Sinn und Zweck der Verweisung, wie sie in der Begründung des Verordnungsentwurfs (BR-Drs. 69/88 S. 9 f.) zum Ausdruck kommen, sprechen ebenfalls für eine dynamische Verweisung. Die Begründung zu § 1 Nr. 7 BAföG-EinkommensV bezieht sich zwar (allein) auf Geschwisterkinder des Auszubildenden, die durch die ihnen gewährten Unterhaltsvorschussleistungen als in diesem Umfang versorgt anzusehen seien, weshalb sich der ausbildungsförderungsrechtlich anzuerkennende elterliche Freibetrag entsprechend verringere. Dieser Gedanke gilt jedoch unabhängig vom Alter der Geschwisterkinder. Demgemäß sind nach der Heraufsetzung des Bezugsalters für Unterhaltsvorschussleistungen auf die Vollendung des 12. Lebensjahres ab Januar 1993 durch das Gesetz vom 20. Dezember 1991 (BGBl. I S. 2322) und dessen weitere Heraufsetzung auf die Vollendung des 18. Lebensjahres ab Juli 2017 durch das Gesetz vom 14. August 2017 (BGBl. I S. 3122) auch Unterhaltsvorschussleistungen an ältere Geschwisterkinder und eigene Kinder des Auszubildenden (selbstverständlich) weiter ausbildungsförderungsrechtlich als Einkommen zu berücksichtigen. Denn auch deren Lebensbedarf ist insoweit als gedeckt anzusehen. Dieselbe Überlegung greift auch, wenn Auszubildende für sich selbst Unterhaltsvorschussleistungen erhalten.
Rz. 14
b) Die dem Auszubildenden selbst gewährten Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz sind aber nach Maßgabe des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG nicht auf die ihm gewährte Ausbildungsförderung anzurechnen. Danach bleiben vom Einkommen des Auszubildenden für ihn selbst 290 Euro monatlich anrechnungsfrei. Bei den Unterhaltsvorschussleistungen an den Auszubildenden selbst, die - wie dargelegt - zum sonstigen Einkommen des Auszubildenden im Sinne des § 21 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BAföG zählen, handelt es sich um Einkommen im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 BAföG. Derartige Leistungen können vom Einkommensbegriff dieser Vorschrift nicht im Wege der (einschränkenden) Auslegung ausgenommen werden. Denn dieser Begriff verweist nach Wortlaut und Systematik ohne Ausnahmen auf das Einkommen nach § 21 BAföG. Sollte das Urteil des Senats vom 9. Dezember 2014 - 5 C 3.14 - (Buchholz 436.36 § 36 BAföG Nr. 18 Rn. 19) dahin zu verstehen sein, dass die Freibetragsregelung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BAföG nur hinsichtlich solcher Einnahmen greift, die dem Auszubildenden einen Anreiz vermitteln, die Sozialleistungen im Wege der Selbsthilfe aufzustocken, hält der Senat hieran nicht fest.
Rz. 15
Vorstehendes Ergebnis ist nicht im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu korrigieren. Deren Voraussetzungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2019 - 5 C 1.18 - NVwZ-RR 2019, 653 Rn. 14) liegen nicht vor. Es lässt sich weder eindeutig feststellen, dass die Nichtanrechnung von Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz bis zur Höhe des Einkommensfreibetrages dem gesetzgeberischen Plan des BAföG zuwiderläuft, noch in welcher Weise einer etwaigen Planwidrigkeit Rechnung zu tragen wäre, zumal eine nur teilweise Anrechnung wie bei Waisenrente und -geld (§ 23 Abs. 4 Nr. 1 BAföG) durch den Gesetzgeber nicht auszuschließen ist.
Rz. 16
Da der Kläger nicht über anderes anzurechnendes Einkommen verfügte und die ihm gewährten Unterhaltsvorschussleistungen mit 198 € monatlich unterhalb des Einkommensfreibetrags von 290 € monatlich lagen, waren diese bei der Bewilligung von Ausbildungsförderung nicht anzurechnen.
Rz. 17
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 Halbs. 1 VwGO.
Fundstellen
Haufe-Index 13884769 |
BVerwGE 2021, 15 |
FamRZ 2020, 1230 |
DÖV 2020, 843 |
JZ 2020, 424 |
BayVBl. 2020, 4 |
DVBl. 2020, 3 |
FF 2020, 176 |
FamRB 2020, 130 |
FamRB 2020, 342 |
KomVerw/LSA 2021, 332 |
FuBW 2021, 383 |
FuHe 2021, 345 |
FuNds 2021, 342 |
KomVerw/MV 2021, 327 |
KomVerw/S 2021, 328 |
KomVerw/T 2021, 322 |
NZFam 2020, 6 |