Leitsatz (amtlich)
Die Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X für die Geltendmachung eines jugendhilferechtlichen Kostenerstattungsanspruchs beginnt mit dem Ablauf des letzten Tages, an dem die jeweilige (Gesamt-)Leistung im Sinne dieser Vorschrift erbracht wurde (Festhalten an der Rechtsprechung des Senats in den Urteilen vom 19. August 2010 - 5 C 14.09 - BVerwGE 137, 368 und vom 17. Dezember 2015 - 5 C 9.15 -BVerwGE 154, 1).
Verfahrensgang
VG München (Urteil vom 21.10.2015; Aktenzeichen M 18 K 15.1693) |
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger begehrt von dem beklagten überörtlichen Träger der Jugendhilfe die Erstattung der Kosten für Hilfeleistungen an einen Jugendlichen bzw. jungen Volljährigen, die er als örtlicher Träger der Jugendhilfe in der Zeit vom 11. September 2011 bis zum 30. September 2012 erbracht hat.
Rz. 2
Der Kläger bewilligte dem am 2. Dezember 1993 geborenen Hilfeempfänger vom 11. September 2011 bis zum 1. Dezember 2011 stationäre Hilfe zur Erziehung und nach Eintritt der Volljährigkeit vom 2. Dezember 2011 bis zum 11. September 2013 Hilfe für junge Volljährige durch Übernahme der Kosten für die Unterbringung in einem Jugendhaus in M. Mit Schreiben vom 11. Oktober 2013 stellte er bei dem Beklagten einen Antrag auf Erstattung der für diese Jugendhilfeleistungen aufgewendeten Kosten gemäß § 89 SGB VIII. Der Beklagte erkannte mit Schreiben vom 14. Februar 2014 seine Kostenerstattungspflicht nur für die Zeit vom 1. Oktober 2012 bis zum 11. September 2013 an. Für die Zeit vom 11. September 2011 bis 30. September 2012 lehnte er eine Kostenerstattungszusage wegen Versäumung der Frist nach § 111 Satz 1 SGB X ab.
Rz. 3
Die daraufhin vom Kläger erhobene Klage auf Kostenerstattung hat das Verwaltungsgericht abgewiesen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 89 SGB VIII seien zwar gegeben, weil für die Zuständigkeit des Klägers nach § 86 Abs. 2 Satz 4 Halbs. 2 SGB VIII der tatsächliche Aufenthalt des Hilfeberechtigten maßgeblich gewesen sei, der in den letzten sechs Monaten vor Beginn der Leistung keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Der Erstattungsanspruch scheitere aber an der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X. Für den Ablauf des danach maßgeblichen "Zeitraums, für den die Leistung erbracht wurde", sei bei wiederkehrenden Leistungen der jeweilige Teilzeitraum erheblich. Die Ausschlussfrist beginne deshalb für jeden Teilzeitraum neu zu laufen. Die streitigen Teilzeiträume hätten zum Zeitpunkt der erstmaligen Geltendmachung des Erstattungsanspruchs beim Beklagten mehr als zwölf Monate zurückgelegen, so dass der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nach § 111 Satz 1 SGB X ausgeschlossen sei.
Rz. 4
Mit der Sprungrevision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
Rz. 5
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Sprungrevision des Klägers ist begründet. Die entscheidungstragende Annahme des Verwaltungsgerichts, es müsse für jeden Teilzeitraum geprüft werden, ob der Kostenerstattungsanspruch innerhalb der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Januar 2001 (BGBl. I S. 130) - SBG X - geltend gemacht worden sei, so dass für den Fristbeginn der letzte Tag des jeweiligen Teilzeitraums maßgeblich sei, verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Rz. 7
Bei Anwendung der insoweit gebotenen ganzheitlichen Betrachtung hat der Kläger den Anspruch auf Erstattung der vom 11. September 2011 bis zum 30. September 2012 im Rahmen der stationären Hilfe zur Erziehung und der Hilfe für junge Volljährige aufgewandten Kosten in Höhe von 44 815,48 € fristgerecht geltend gemacht.
Rz. 8
1. Das Erstattungsbegehren findet seine Rechtsgrundlage in § 89 Achtes Buch Sozialgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachungen vom 14. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3134) bzw. vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) - SGB VIII -. Danach steht dem örtlichen Träger der Jugendhilfe gegen den überörtlichen Träger, zu dessen Bereich er gehört, ein Anspruch auf Erstattung der aufgewendeten Kosten zu, wenn für seine Zuständigkeit nach den §§ 86, 86a oder 86b SGB VIII der tatsächliche Aufenthalt maßgeblich ist. Das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzungen steht zwischen den Beteiligten zutreffend nicht im Streit. Auch die Höhe der danach zu erstattenden Kosten ist zwischen ihnen nicht streitig. Des Weiteren haben die Beteiligten zu Recht nicht in Abrede gestellt, dass die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs nach § 89 SGB VIII der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X unterliegt. Zu entscheiden ist allein darüber, ob der Kläger den Erstattungsanspruch mit seinem Schreiben vom 11. Oktober 2013 auch für den Leistungszeitraum vom 11. September 2011 bis zum 30. September 2012 innerhalb der Frist des § 111 Satz 1 SGB X geltend gemacht hat. Das hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht verneint.
Rz. 9
Nach § 111 Satz 1 SGB X ist der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Das ist hier der Fall. Nach dem insofern maßgeblichen zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff des Kinder- und Jugendhilferechts handelt es sich bei der vom Kläger in der Zeit vom 11. September 2011 bis zum 11. September 2013 gewährten Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung und der anschließenden Hilfe für junge Volljährige um eine einheitliche Leistung im Sinne des § 111 Satz 1 SGB VIII (a). Beginn der Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X ist der Ablauf des letzten Tages, an dem diese Leistung erbracht wurde (b).
Rz. 10
a) Für jugendhilferechtliche Erstattungsansprüche ist die Leistung im Sinne von § 111 Satz 1 SGB X nach dem zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff des Kinder- und Jugendhilferechts zu bestimmen. Der Leistungsbegriff des § 111 Satz 1 SGB X ist kontextabhängig und bereichsspezifisch auszulegen. Dementsprechend ist bei den im Kinder- und Jugendhilferecht angesiedelten Erstattungsverhältnissen und so auch bei dem hier in Rede stehenden Erstattungsverhältnis nach § 89 SGB VIII für die inhaltliche Ausfüllung des in § 111 Satz 1 SGB X verwendeten Begriffs der Leistung auf den zuständigkeitsrechtlichen Leistungsbegriff des Kinder- und Jugendhilferechts zurückzugreifen (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 19. August 2010 - 5 C 14.09 - BVerwGE 137, 368 Rn. 17 ff. und vom 17. Dezember 2015 - 5 C 9.15 - BVerwGE 154, 1 Rn. 11 ff.). Danach bilden alle im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen eine einheitliche Leistung, sofern sie ohne beachtliche Unterbrechung gewährt worden sind (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteile vom 29. Januar 2004 - 5 C 9.03 - BVerwGE 120, 116 ≪119≫ und vom 15. Dezember 2016 - 5 C 35.15 - juris Rn. 19 m.w.N.). In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist auf der Grundlage der für den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts davon auszugehen, dass die vom Kläger ab dem 11. September 2011 gewährte stationäre Hilfe zur Erziehung und die ab dem 2. Dezember 2012 gewährte Hilfe für junge Volljährige eine (einheitliche) Jugendhilfeleistung im vorgenannten Sinne darstellen. In beiden Fällen wurde die Jugendhilfe durch Unterbringung des Hilfeempfängers in ein und demselben Jugendhaus erbracht. Der Kläger ging bei seiner Entscheidung, diese konkrete Maßnahme über den Eintritt der Volljährigkeit hinaus bis zum Auszug des Hilfeempfängers aus dem Jugendhaus und dessen Einzug in eine eigene Wohnung zu gewähren, erkennbar von einem qualitativ unveränderten jugendhilferechtlichen Bedarf aus. Der Beklagte ist dem nicht entgegengetreten.
Rz. 11
b) Die Ausschlussfrist des § 111 Satz 1 SGB X für die Geltendmachung der in der Zeit vom 11. September 2011 bis 11. September 2013 von dem Kläger erbrachten Leistung begann mit Ablauf des 11. September 2013.
Rz. 12
Dies entspricht der Rechtsprechung des Senats, nach der die Frist des § 111 Satz 1 SGB X mit dem Ablauf des letzten Tages beginnt, an dem die jeweilige (Gesamt)-Leistung im Sinne dieser Bestimmung erbracht wurde (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. August 2010 - 5 C 14.09 - BVerwGE 137, 368 Rn. 22 und vom 17. Dezember 2015 - 5 C 9.15 - BVerwGE 154, 1 Rn. 14 ff.). Dafür sprechen insbesondere systematische Gesichtspunkte. Der Senat hat in seinem Urteil vom 17. Dezember 2015 (- 5 C 9.15 - BVerwGE 154, 1 Rn. 15 ff.) insoweit ausgeführt:
"Dem in § 111 Satz 1 SGB X verwendeten Begriff der Leistung kommt eine doppelte Funktion zu. Er dient zum einen dazu, den gegenständlichen Anwendungsbereich der Norm näher zu umschreiben, da sich der geltend gemachte Erstattungsanspruch auf die Kosten einer 'Leistung' beziehen muss. Zum anderen wird durch ihn der Beginn der Ausschlussfrist ('nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde') markiert. Den Grundsätzen der systematischen Gesetzesauslegung entsprechend wird der Begriff der Leistung in § 111 Satz 1 SGB X bezüglich beider Wirkungsrichtungen einheitlich verwendet. Denn ein Begriff ist innerhalb derselben Norm grundsätzlich nicht inhaltlich unterschiedlich zu deuten. Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber einem Begriff innerhalb derselben Norm keine sich einander widersprechenden oder gegenseitig ausschließenden Bedeutungsinhalte beimisst. Etwas anderes kann nur ausnahmsweise beim Vorliegen entsprechender gegenteiliger Anhaltspunkte gelten (vgl. Bleckmann, JuS 2002, 942 ≪944≫ m.w.N.), an denen es in Bezug auf § 111 Satz 1 SGB X fehlt.
Nach Maßgabe des kontextabhängig und bereichsspezifisch auszulegenden Leistungsbegriffs des § 111 Satz 1 SGB X kann - wie aufgezeigt - unter jugendhilferechtlichen Bedarfsgesichtspunkten eine einzige Leistung auch aus verschiedenen (Einzel-)Leistungen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VIII bestehen. Liegen die Voraussetzungen einer solchen bedarfsorientierten Gesamtbetrachtung vor und ist deshalb mit Blick auf den Anwendungsbereich des § 111 Satz 1 SGB X von einer einzigen Leistung auszugehen, streitet aus systematischen Gründen im Interesse der Einheitlichkeit des Leistungsbegriffs ganz Überwiegendes dafür, auch für den Beginn der Frist des § 111 Satz 1 SGB X von diesem Verständnis auszugehen. Dies spricht deutlich dagegen, für den Fristlauf von einem zeitabschnittsweisen Leistungsbegriff auszugehen, also die (Gesamt-)Leistung im Sinne des § 111 Satz 1 SGB X in Teilleistungen zu stückeln, die mit einer im Einzelfall erfolgten abschnittsweisen Abrechnung korrespondieren, und für den Fristbeginn infolgedessen den Ablauf des letzten Tages der jeweiligen Teilleistung als maßgeblich anzusehen. Geboten ist vielmehr, auch für den Beginn der Ausschlussfrist die erstattungspflichtige Leistung in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen und dementsprechend auf den letzten Tag ihrer Gewährung abzustellen. [...]
Dem systematischen Argument kommt ein so hohes Gewicht zu, dass teleologische Erwägungen zurücktreten müssen, zumal der mit der zeitnahen Anmeldung des Erstattungsanspruchs verfolgte Schutz des erstattungspflichtigen Leistungsträgers durch das Abstellen auf das Ende der (Gesamt-)Leistung nicht ausgehöhlt wird. Die Ausschlussfrist soll - wie dargelegt - gewährleisten, dass mit der Geltendmachung von Erstattungsansprüchen nicht unbegrenzte Zeit gewartet wird. Vielmehr soll der erstattungspflichtige Leistungsträger möglichst bald nach der Leistungserbringung über die auf ihn zukommenden Erstattungsansprüche in Kenntnis gesetzt werden, so dass er sich darauf einstellen und gegebenenfalls Vorsorge treffen kann (vgl. BT-Drs. 9/95 S. 26). Wird Hilfe nur über einen kurzen Zeitraum gewährt, ist die rechtzeitige Information des erstattungspflichtigen Leistungsträgers auch bei einer Geltendmachung des Erstattungsanspruchs innerhalb eines Jahres nach dem Ende der (Gesamt-)Leistung in der Regel gewährleistet. Erstreckt sich die Hilfegewährung über einen längeren, möglicherweise mehrere Jahre umfassenden Zeitraum, liegt es mit Blick auf die regelmäßig nicht unerheblichen Kosten schon im Eigeninteresse des erstattungsberechtigten Leistungsträgers, seinen Anspruch frühzeitig, gegebenenfalls schon während der laufenden Hilfegewährung anzumelden, so dass der erstattungspflichtige Leistungsträger regelmäßig auch in diesen Fällen hinreichend geschützt ist. Zudem führen etwa erhebliche Leistungsunterbrechungen (vgl. § 86a Abs. 4 Satz 2 und 3 SGB VIII) oder die (weitere) Gewährung von Hilfen im Falle eines sich qualitativ ändernden jugendhilferechtlichen Bedarfs dazu, dass eine neue Leistung im zuständigkeitsrechtlichen Sinne vorliegt und mit der Beendigung der vorherigen Leistungsgewährung die Frist des § 111 Satz 1 SGB X in Lauf gesetzt wird."
Rz. 13
In Anwendung dieser Grundsätze, an denen der Senat nach nochmaliger Prüfung festhält, hat der Kläger den Erstattungsanspruch nach § 89 SGB VIII auch für die hier allein streitgegenständliche Zeit vom 11. September 2011 bis 30. September 2012 fristgerecht geltend gemacht. Nach den gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts endete die Jugendhilfemaßnahme am 11. September 2013, so dass der Erstattungsanspruch bis zum Ablauf des 11. September 2014 geltend gemacht werden musste. Der entsprechende Antrag des Klägers vom 11. Oktober 2013 ist dem Beklagten innerhalb dieser Frist zugegangen.
Rz. 14
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskostenfreiheit besteht nach § 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 10927004 |
FEVS 2018, 81 |
JZ 2017, 586 |
NDV-RD 2018, 44 |
GV/RP 2018, 333 |
Jugendhilfe 2017, 603 |
KomVerw/LSA 2018, 229 |
FSt 2018, 651 |
FuBW 2018, 84 |
FuHe 2018, 121 |
FuNds 2018, 156 |
JAmt 2017, 453 |
KomVerw/B 2018, 232 |
KomVerw/MV 2018, 224 |
KomVerw/S 2018, 232 |
KomVerw/T 2018, 231 |