Verfahrensgang
VG Dresden (Urteil vom 26.04.2006; Aktenzeichen 12 K 6/04) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 26. April 2006 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt als Erbin ihres verstorbenen Vaters, des Herrn H…, nach erfolgter Rückübertragung eines in D… belegenen Grundstücks an die Rechtsnachfolger der früheren jüdischen Eigentümerin die Gewährung einer Entschädigung auf der Grundlage des Vermögensgesetzes, welche die Beklagte ihr verweigert, weil in der Person des Rechtsvorgängers der Klägerin ein Ausschlussgrund im Sinne des § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG in der Alternative des “schwerwiegenden Missbrauchs der eigenen Stellung” vorliege.
Die seit dem 12. Juli 1923 als Eigentümerin im Grundbuch eingetragene Frau F…, eine Jüdin polnischer Staatsangehörigkeit, hat das Grundstück am 13. Dezember 1938 unter dem Druck der Gestapo zu einem Kaufpreis von 148 400 RM an den Vater der Klägerin verkauft und es diesem aufgelassen. Der Kaufpreis wurde in Anrechnung der in Höhe von 19 405 GM valutierenden Hypotheken dadurch berichtigt, dass der verbleibende Betrag von 128 995 RM vom Käufer durch Barzahlung auf ein Sperrkonto H…-F… bei der D…-Bank einzuzahlen war. Von diesem Sperrkonto war die gesamte Wertzuwachssteuer zu zahlen. Die Verkäuferin war über dieses Konto erst dann allein verfügungsberechtigt, wenn sie nach Vorliegen der erforderlichen behördlichen Genehmigung die Zahlung der (vom Käufer nicht übernommenen) Grundschulden in Höhe von zusammen 94 750 GM nachgewiesen hatte und etwa erforderliche Devisengenehmigungen sowie weitere behördliche Genehmigungen vorlagen. Neben den erwähnten Hypotheken übernahm der Käufer die im Grundbuch eingetragenen Renten in Höhe von 113,58 GM. Aus dem Kaufvertrag ergibt sich, dass der Einheitswert des Grundstücks ausweislich des von der Verkäuferin vorgelegten Steuerbescheides aus dem Jahr 1935 160 700 RM betragen habe. Im Auflassungsvertrag erklärte die Verkäuferin, “Nichtarierin” und polnische Staatsangehörige zu sein; über die Bestimmungen über den Einsatz jüdischen Vermögens vom 3. Dezember 1938 und über die Devisenverordnung sei sie belehrt worden. Der Vater der Klägerin wurde am 22. Juni 1939 als Eigentümer im Grundbuch eingetragen. Das Amtsgericht berechnete die Gerichtskosten für die Grundbucheintragung gemäß Mitteilung vom 27. Juni 1939 nach einem Wert von 160 700 RM. Im Einheitswertbogen III des Grundstücks ist der Einheitswert zum 1. Januar 1935 mit 123 300 RM, anschließend – ohne Datum – mit 160 700 RM angegeben. Nach dem Einheitswertbescheid vom 23. Januar 1939, auf dem die Berechnungsgrundlage nicht angegeben ist, wurde der Wert von 160 700 RM zum 1. Januar 1935 festgesetzt. Der Hauszinsabgeltungsbetrag in Höhe von 26 700 RM wurde vom Käufer übernommen.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 7. November 1994 hat das Amt zur Regelung offener Vermögensfragen der Beklagten das Grundstück den Rechtsnachfolgern der Frau F… zurückübertragen. Mit ebenfalls bestandskräftigem Bescheid vom 31. Juli 2001 hat es festgestellt, dass die Rückübertragungsberechtigten bzw. deren Rechtsnachfolger einen Betrag in Höhe von 973,09 DM gemäß § 7a VermG zu hinterlegen hätten und die Klägerin nach der Rückübertragung einen Anspruch gegen den Entschädigungsfonds auf Erstattung des gezahlten Kaufpreises in Höhe von 6 449,75 DM habe.
Der von der Klägerin mit Schreiben vom 2. November 2000 gemäß § 7a Abs. 2 i.V.m. § 7a Abs. 3b VermG beantragte Ergänzungsbescheid wurde vom Amt zur Regelung offener Vermögensfragen mit dem angefochtenen Bescheid vom 3. Dezember 2002 mit der Begründung abgelehnt, dass die Voraussetzungen von § 7a Abs. 3b VermG nicht vorgelegen hätten. Bei dem Rechtsvorgänger der Klägerin habe es sich nicht um einen nach dieser Vorschrift zu schützenden “loyalen Erwerber” gehandelt, denn der im Kaufvertrag vereinbarte Kaufpreis habe unterhalb des Einheitswertes gelegen und könne nicht als angemessene Gegenleistung angesehen werden.
Mit der nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2003) erhobenen Klage griff die Klägerin die Festsetzung des Einheitswertes auf 160 700 RM mit Blick auf die Belastungen, den Zustand und die Nutzung des Grundstücks als zu hoch an. Unter Berücksichtigung übernommener Belastungen habe der Vater der Klägerin bei einem Barkaufpreis von 147 000 RM insgesamt 166 405 RM aufgewendet, was die Annahme eines unredlichen Kaufs selbst dann ausschließe, wenn der Einheitswert 160 700 RM betragen haben sollte. Der Vater der Klägerin könne auch nicht als Person bezeichnet werden, die dem nationalsozialistischen System Vorschub geleistet oder ihre Stellung in diesem System in schwerwiegendem Maße zu ihrem Vorteil missbraucht hätte. Er sei, wie aus den Unterlagen zur Wahl des Vorstandes der Fleischerinnung D… des Jahres 1933 hervorgehe, deutlicher Gegner der NS-Bewegung gewesen, die ihn als unzuverlässig angesehen habe, und sei unmittelbar nach Ende der NS-Herrschaft folgerichtig zum Obermeister des Fleischerhandwerks in D… bestellt worden. Er habe keinen Zwang auf die Familie F… zum Verkauf des Grundstücks ausgeübt oder diesen Zwang ausgenutzt und keine Stellung innegehabt, die er in schwerwiegendem Maße zum eigenen Vorteil oder Nachteil anderer missbraucht habe.
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Entschädigung gemäß § 7a Abs. 3b VermG zu gewähren. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Entschädigung nach § 7a Abs. 3b VermG sei nicht durch die Unwürdigkeitsklausel des Satzes 2 dieser Bestimmung ausgeschlossen, denn ihr Rechtsvorgänger habe im Zusammenhang mit dem Abschluss des Kaufvertrages nicht in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht.
Ausweislich der Entstehungsgeschichte sei mit der Einführung des § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG bezweckt worden, “loyalen Erwerbern” von NS-Verfolgtenvermögen, d.h. solchen Erwerbern, bei denen Ausschließungsgründe nicht vorlägen, die sich also insbesondere nicht die Verfolgungslage des Veräußerers in der NS-Zeit zunutze gemacht hätten, die Möglichkeit zu geben, Entschädigung nach den Grundsätzen des Entschädigungsgesetzes zu beanspruchen. Daraus ergebe sich, dass der Erwerb von Vermögensgegenständen von einem NS-Verfolgten für sich genommen noch nicht zu einer missbräuchlichen Ausnutzung der Verfolgungslage führe. Ein derartiges Zunutzemachen oder Ausnutzen solle vielmehr erst dann vorliegen, wenn einer der in § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG genannten Tatbestände vorliege. Voraussetzung für den Anspruchsausschluss sei in objektiver Hinsicht, dass der Erwerber über eine nicht ganz unbedeutende rechtliche, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Stellung verfügt habe, die es ihm ermöglicht habe, Zeitpunkt und Bedingungen des Erwerbs einseitig zu seinen oder eines Dritten Gunsten und zu Lasten des Veräußerers zu beeinflussen und zu bestimmen. Hierzu reiche allein der Umstand, dass der Veräußerer verfolgungsbedingt verkauft habe, nicht aus. Ein Missbrauch liege vor, wenn der Erwerber die sich aus seiner Stellung ergebende rechtliche, soziale oder wirtschaftliche Machtstellung bewusst oder planmäßig fehlerhaft gebrauche, was jedenfalls dann der Fall sei, wenn dieser Gebrauch rechts- oder sittenwidrig sei, aber noch nicht, wenn Veräußerung und Erwerb zu im Wesentlichen noch als angemessen zu bezeichnenden Bedingungen erfolgt seien. Gemessen an diesen Voraussetzungen sei der Anspruch nicht ausgeschlossen. Der Rechtsvorgänger der Klägerin habe keine in der genannten Bestimmung vorausgesetzte “Stellung” innegehabt. Aber selbst wenn er die vorausgesetzte “Stellung” innegehabt haben sollte, läge ein schwerwiegender Missbrauch dieser Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer im Sinne der Bestimmung nicht vor, weil das einmalige Gebrauchmachen einer aus der Sicht des Erwerbers günstigen Kaufsituation im Unwertgehalt nicht mit den übrigen Tatbestandsalternativen des § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG gleichgesetzt werden könne. Zu den Hauptverantwortlichen für die zu revidierenden Unrechtsmaßnahmen, die durch das Gesetz von der Inanspruchnahme von Ausgleichsleistungen ausgeschlossen sein sollten, zähle jedenfalls nicht, wer – wie der Rechtsvorgänger der Klägerin – einmalig eine für ihn günstige Gelegenheit zum Erwerb eines Grundstücks genutzt und hierfür einen noch angemessenen Kaufpreis entrichtet habe. Insoweit gehe die Kammer davon aus, dass der im zeitlichen Zusammenhang mit dem Verkauf durch Bescheid vom 23. Januar 1939 festgesetzte Einheitswert, der den Beteiligten des Kaufvertrages bereits bekannt gewesen sei, dem Verkehrswert des Grundstücks entsprochen habe. Nach den in der Gesetzesbegründung in Bezug genommenen Regelungen des Reparationsschädengesetzes (§ 15 Abs. 2 Satz 4 RepG) sei eine Gegenleistung angemessen, wenn sie mindestens 90 % des gemeinen Wertes (Verkehrswertes) des betreffenden Wirtschaftsgutes erreiche. Da hier der Kaufpreis immerhin noch 92,35 % des als mit dem Verkehrswert identisch anzusehenden Einheitswertes erreiche, liege kein schwerwiegender Missbrauch einer Stellung vor.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 7a Abs. 3b VermG.
Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht macht geltend, § 7a Abs. 3b VermG solle sicherstellen, dass nur “loyale Erwerber”, die die Verfolgungslage des Veräußerers nicht ausgenutzt hätten, in den Genuss einer Entschädigung kämen. In Anwendung der zu § 15 Abs. 2 RepG entwickelten Grundsätze sei bei einem Kaufpreis über 90 % des Verkehrswertes in der Regel Loyalität des Erwerbers anzunehmen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat – im Ergebnis ohne Verstoß gegen Bundesrecht (§ 144 Abs. 4 VwGO) – das Vorliegen des Ausschlusstatbestandes nach § 7a Abs. 3b Satz 2 Alt. 2 VermG verneint.
Die Begründung des Verwaltungsgerichts stimmt im Ergebnis mit der des Senats in seinem Urteil vom heutigen Tage – BVerwG 5 C 22.06 – (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts bestimmt) überein. Darin hat der Senat zwar entgegen der rechtlichen Grundannahme des Verwaltungsgerichts entschieden, dass eine missbrauchsfähige Stellung im Sinne des § 7a Abs. 3b Satz 2 VermG keine besondere Stellung im nationalsozialistischen Unrechtssystem voraussetzt, sondern dass die Stellung von nicht selbst Verfolgten beim Erwerb von Eigentum verfolgter Personen genügt. Für einen “schwerwiegenden” Missbrauch reicht es danach jedoch – insoweit in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht – nicht aus, wenn der Erwerber einen noch als angemessen anzusehenden Kaufpreis gezahlt hat. Erforderlich ist vielmehr, soweit nicht andere Missbrauchsumstände hinzutreten, ein gravierendes Missverhältnis zum maßgeblichen Wert. Als Leitlinie hat der erkennende Senat in dessen Urteil eine Unterschreitung des damaligen Verkehrswertes um mehr als 25 vom Hundert angenommen. Ist der Verkehrswert eines verkauften Grundstücks nach Aktenlage nicht bekannt, ist für die Feststellung eines schwerwiegenden Missverhältnisses an festgestellte Einheitswerte anzuknüpfen.
In Anwendung dieser Maßstäbe, zu deren Begründung im Einzelnen auf das genannte Urteil Bezug genommen wird, ist – trotz der vom Verwaltungsgericht zu Unrecht verneinten “Stellung” des Rechtsvorgängers der Klägerin – der Ausschlusstatbestand nach § 7a Abs. 3b Alt. 2 VermG zu verneinen, da jedenfalls die vom erkennenden Senat als Leitlinie für ein gravierendes Missverhältnis angesetzte Unterschreitung des damaligen Verkehrswertes um mehr als 25 vom Hundert nicht vorliegt. Die Vorinstanz hat ihre Feststellung, der Kaufpreis habe immerhin noch 92,35 % des Einheitswertes erreicht, darauf gestützt, dass sie den Verkehrswert im Verkaufszeitpunkt mit dem durch Bescheid vom 23. Januar 1939 festgesetzten Einheitswert gleichgesetzt hat. Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob diese Gleichsetzung ohne Weiteres zulässig war oder der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellte Erfahrungssatz des Inhalts, dass bei Grundstücken der Einheitswert in der Regel die unterste Grenze des Verkehrswertes, nämlich 90 vom Hundert des gemeinen Wertes darstellt (vgl. Urteil vom 22. August 1985 – BVerwG 3 C 67.84 – Buchholz 427.7 § 15 RepG Nr. 14), nicht im Sinne einer Identität der beiden Werte, sondern einer entsprechenden Erhöhung des (angenommenen) Verkehrswertes im Verhältnis zum festgestellten Einheitswert zu verstehen sein könnte. Denn auch wenn man von einem entsprechend erhöhten Verkehrswert ausginge, ergäbe sich hier nicht die für einen schwerwiegenden Missbrauch erforderliche Differenz von mehr als 25 % zwischen Kaufpreis und Verkehrswert.
Die mit der Revision erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch, weil weder ersichtlich noch von der Beklagten vorgetragen ist, aufgrund welcher greifbarer Anhaltspunkte mit welchen Mitteln das Verwaltungsgericht hier in welcher Weise und mit welchem Ergebnis hätte weiter aufklären können oder sollen, ob der Rechtsvorgänger der Klägerin im Zusammenhang mit dem Ankauf des Grundstücks seine Stellung unabhängig von der Kaufpreisabrede missbraucht habe.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Unterschriften
Hund, Schmidt, Dr. Franke, Dr. Brunn, Prof. Dr. Berlit
Fundstellen