Entscheidungsstichwort (Thema)

Erschlossensein eines Hinterliegergrundstücks. Beseitigung einer bisherigen Trennmauer zwischen Anlieger- und Hinterliegergrundstück. Errichtung einer einheitlichen Grenzmauer um beide Grundstücke. Anlegung eines Plattenwegs und einer Rasenfläche über das Anliegergrundstück zum Wohnhaus auf dem Hinterliegergrundstück. einheitliche Nutzung. Eigentumsidentität

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Hinterliegergrundstück, das durch ein im Eigentum derselben Person stehendes, selbständig bebaubares Anliegergrundstück von der abzurechnenden Anbaustraße getrennt wird, wird durch diese Straße erschlossen, wenn – etwa infolge einer einheitlichen Nutzung beider Grundstücke – nach der schutzwürdigen Erwartung der übrigen Beitragspflichtigen mit einer Inanspruchnahme der Anbaustraße (auch) durch das Hinterliegergrundstück zu rechnen ist (wie Urteil vom 15. Januar 1988 – BVerwG 8 C 111.86 – BVerwGE 79, 1 ff.).

Die Beseitigung einer bisherigen Trennmauer zwischen dem Hinterlieger- und dem Anliegergrundstück und die Errichtung einer das gesamte Doppelgrundstück umfassenden Mauer mit einer Toreinfahrt zur Anbaustraße können nach den Umständen des Falles die Heranziehung des Hinterliegergrundstücks unter dem Gesichtspunkt der einheitlichen Nutzung rechtfertigen.

 

Normenkette

BauGB § 131 Abs. 1 S. 1, § 133 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

OVG für das Land NRW (Urteil vom 19.06.1996; Aktenzeichen 3 A 2088/91)

VG Aachen (Urteil vom 13.06.1991; Aktenzeichen 4 K 1476/90)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. Juni 1996 und des Verwaltungsgerichts Aachen vom 13. Juni 1991 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger wendet sich gegen seine Heranziehung zu einem Erschließungsbeitrag für die Kosten der erstmaligen endgültigen Herstellung der in den Jahren 1980 bis 1989 ausgebauten Kreuzfelderstraße, einer ca. 100 m langen, in einen Wendehammer mündenden Stichstraße. Dem Ausbau – die letzten Unternehmerrechnungen datieren vom 10. Januar und 1. Februar 1990 – liegt ein im Jahre 1979 genehmigter Bebauungsplan zugrunde; die Widmung als Gemeindestraße wurde am 17. November 1989 bekanntgemacht.

Der Kläger und seine Ehefrau waren zunächst nur Eigentümer des 870 m großen, mit einem Wohnhaus und einem Gewächshaus bebauten Grundstücks Flurst.-Nr. 609, das an eine andere Straße grenzt und mit seiner Zufahrt dorthin ausgerichtet ist; zur Kreuzfelderstraße stellt sich dieses Grundstück als Hinterliegergrundstück dar. Im Jahre 1987 erwarben sie das an der hinteren Grundstücksfront gelegene, 349 m große, selbständig bebaubare, aber bisher unbebaute Grundstück Flurst.-Nr. 716 hinzu, das an die Kreuzfelderstraße grenzt. Im Dezember 1989 beseitigte der Kläger die bisherige Grenzmauer zwischen den beiden Grundstücken und errichtete eine einheitliche, die beiden Grundstücke umfassende Mauer mit einem Tor zur Kreuzfelderstraße hin. Im März 1990 verlegte er von dort aus einen Plattenweg über beide Grundstücke und säte im April 1990 eine Rasenfläche an, die sich ebenfalls über beide Grundstücke erstreckt. Die Beteiligten streiten darüber, ob das Grundstück 609 über das Grundstück 716 durch die Kreuzfelderstraße erschlossen und deshalb an deren Ausbaukosten zu beteiligen ist.

Mit Bescheid vom 6. Juni 1990 zog der Beklagte den Kläger für das Grundstück 609 zu einem Erschließungsbeitrag von 12 617,97 DM heran. Der nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 13. Juni 1991 stattgegeben. Die dagegen eingelegte Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht durch Urteil vom 19. Juni 1996 mit im wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen: Das Grundstück 609 habe im maßgebenden Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Erschließungsbeitragspflichten – frühestens mit Eingang der letzten Unternehmerrechnung im Januar/Februar 1990, spätestens mit Inkrafttreten der Änderungssatzung vom 13. März 1992 – nicht zu den durch die Kreuzfelderstraße erschlossenen Grundstücken gehört; entgegen der Auffassung der Beklagten sei es nicht als ein über das ebenfalls im Eigentum des Klägers und seiner Ehefrau stehende (Anlieger-)Grundstück 716 erschlossenes Hinterliegergrundstück zu qualifizieren gewesen. Die Voraussetzungen der Rechtsprechung für die Annahme des Erschlossenseins von Hinterliegergrundstücken in Fällen der Eigentümeridentität – wie hier – lägen für den maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor: Weder habe eine Zufahrt über den nur fußläufig benutzbaren Plattenweg zum Hinterliegergrundstück bestanden, noch erfülle die Errichtung einer Umfriedungsmauer und die Anlegung eines Plattenwegs den Tatbestand einer einheitlichen Nutzung beider Grundstücke. Die Hinterliegererschließung dürfe als Ausnahmetatbestand auf derartige unterwertige Nutzungsweisen nicht erstreckt werden. Das maßgebliche Vorteilsprinzip gebiete vielmehr, den Hinterlieger in die Aufwandsverteilung einer Anbaustraße nur dann einzubeziehen, wenn (und soweit) eindeutig erkennbar sei, daß er die von der Anbaustraße primär den angrenzenden Grundstücken vermittelte Erschließung atypischerweise für sein hinterliegendes Grundstück in Anspruch nehme. Das sei (nur) in Konstellationen der Fall, in denen das Bau- und Nutzungsverhalten des Grundstückseigentümers als (vom Baurecht nicht nahegelegte, aber auch nicht gehinderte) Anbindung des Hinterliegergrundstücks an die Anbaustraße erscheine. Die schutzwürdige Erwartung der übrigen Straßenanlieger komme demgegenüber als Abgrenzungskriterium nicht in Betracht.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Beklagten, mit der er die Verletzung materiellen Bundesrechts rügt.

Der Kläger tritt der Revision entgegen und verteidigt das angefochtene Urteil.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidungen und zur Abweisung der Klage (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Der angefochtene Beitragsbescheid ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die entscheidungstragende Annahme des Oberverwaltungsgerichts, das Hinterliegergrundstück 609 werde unter den gegebenen Umständen nicht von der Kreuzfelderstraße erschlossen, verstößt gegen § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB.

1. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. statt vieler Urteil vom 29. April 1988 – BVerwG 8 C 24.87 – BVerwGE 79, 283 ≪288≫) geht das Berufungsgericht zunächst zutreffend davon aus, für die Beantwortung dieser Frage sei nur auf die abgerechnete Kreuzfelderstraße abzustellen; die das Hinterliegergrundstück zweifelsfrei unmittelbar erschließende andere Straße müsse insoweit hinweggedacht werden. Ebenfalls richig ist, daß sich die Beurteilung des Erschlossenseins eines (Anlieger- wie Hinterlieger-)Grundstücks nach den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Erschließungsbeitragspflichten (§ 133 Abs. 2 BauGB) richtet (vgl. u.a. Urteil vom 19. August 1988 – BVerwG 8 C 51.87 – BVerwGE 80, 99 ≪102≫ m.w.N.). Wann die sachlichen Erschließungsbeitragspflichten für die erstmalige endgültige Herstellung der Kreuzfelderstraße entstanden sind, läßt das Berufungsgericht offen. Es meint, dies sei frühestens mit Eingang der letzten Unternehmerrechnung im Januar/Februar 1990, spätestens mit Inkrafttreten der Änderungssatzung vom 13. März 1992 geschehen, durch die die Regelung über die Merkmale der endgültigen Herstellung von Erschließungsanlagen neugefaßt worden ist. Diese Verfahrensweise des Berufungsgerichts wäre bundesrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 BauGB für den gesamten in Betracht kommenden Zeitraum zu verneinen wären. Das ist jedoch nicht der Fall.

2. Das Berufungsgericht hat die Anforderungen verkannt, nach denen in Fällen der Eigentümeridentität das Erschlossensein von Hinterliegergrundstücken zu beurteilen ist.

a) Zwar geht das Berufungsurteil zutreffend davon aus, daß ein durch ein baulich genutztes oder nutzbares Anliegergrundstück von der abzurechnenden Anbaustraße getrenntes Hinterliegergrundstück grundsätzlich nicht durch diese Erschließungsanlage im Sinne des § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB erschlossen wird; in diesem Sinne mag dem Berufungsgericht zuzustimmen sein, wenn es formuliert, das Erschlossensein eines solchen Hinterliegergrundstücks stelle eine Ausnahme dar. Seine Auffassung, im Zusammenhang mit der Beurteilung des Erschlossenseins von Hinterliegergrundstücken in Fallgestaltungen der vorliegenden Art komme der schutzwürdigen Erwartung der Eigentümer der übrigen an die betreffende Straße angrenzenden Grundstücke keine Bedeutung zu (vgl. dazu im einzelnen Weyreuther, Interessengegensätze im Erschließungsbeitragsrecht, in: Raumplanung und Eigentumsordnung, Festschrift für Werner Ernst, S. 519 ff. ≪529 ff.≫), ist jedoch nicht richtig. Das Bundesverwaltungsgericht hat vielmehr die gegenteilige Ansicht bereits in seinem grundlegenden Urteil vom 7. Oktober 1977 (BVerwG IV C 103.74 – Buchholz 406.11 § 131 BBauG Nr. 25 S. 35 ≪38≫) begründet und daran in ständiger Rechtsprechung festgehalten (vgl. Urteil vom 15. Januar 1988 – BVerwG 8 C 111.86 – BVerwGE 79, 1 ≪4, 6≫).

b) Somit hängt entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts jedenfalls in Konstellationen der vorliegenden Art die Beurteilung des Erschlossenseins von Hinterliegergrundstücken ausschlaggebend davon ab, ob die Eigentümer der übrigen erschlossenen Grundstücke nach den im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflichten bestehenden tatsächlichen Verhältnissen schutzwürdig erwarten können, daß auch das Hinterliegergrundstück an der Verteilung des für die abzurechnende beitragsfähige Erschließungsanlage angefallenen umlagefähigen Aufwands teilnimmt (vgl. Urteil vom 15. Januar 1988, a.a.O.). Das ist dann der Fall, wenn die tatsächlichen Verhältnisse den übrigen Beitragspflichtigen den Eindruck vermitteln, es könne “mit einer erschließungsbeitragsrechtlich (noch) relevanten Wahrscheinlichkeit typischerweise mit einer Inanspruchnahme der Anbaustraße (auch) durch das Hinterliegergrundstück gerechnet werden, die dessen Belastung mit einem Erschließungsbeitrag rechtfertigt” (Urteil vom 15. Januar 1988, a.a.O., S. 6). Das trifft – wie in dem Urteil vom 15. Januar 1988 näher ausgeführt wird (a.a.O., S. 4 und 6) – beispielsweise zu, wenn Anlieger- und Hinterliegergrundstück über ihre gemeinsame Grenze hinaus einheitlich genutzt werden. Denn aus der – nach dem Gesagten maßgeblichen – Sicht der übrigen Beitragspflichtigen “verwischt” eine einheitliche Nutzung von zwei Grundstücken deren Grenze und läßt sie – aus dieser Sicht – als ein größeres Grundstück erscheinen, das dieser Größe entsprechend mit Erschließungskosten zu belasten ist. Überdies ist in solchen Fällen auch unter dem Blickwinkel des Vorteilsprinzips – auf das das Oberverwaltungsgericht ausschlaggebend abstellen will – eindeutig erkennbar, daß der Eigentümer des Doppelgrundstücks die von der Anbaustraße vermittelte Erschließung auch für das Hinterliegergrundstück in Anspruch nimmt.

c) Zu Unrecht hat das Oberverwaltungsgericht im vorliegenden Fall den Tatbestand der einheitlichen Nutzung verneint. Dem Beklagten ist vielmehr darin zuzustimmen, jedenfalls das durch den Abriß der Trennmauer, die Errichtung einer gemeinsamen Umfriedung, die Anlegung eines Plattenwegs über beide Grundstücke und die Ansaat einer übergreifenden Rasenfläche geschaffene Bild begründe zweifellos eine schutzwürdige Erwartung der übrigen Beitragspflichtigen, das Hinterliegergrundstück des Klägers habe an der Verteilung des für die erstmalige endgültige Herstellung der Kreuzfelderstraße entstandenen umlagefähigen Erschließungsaufwands teilzunehmen. Denn die Gesamtheit dieser Maßnahmen vermittelt den sicheren Eindruck, der Eigentümer habe beide ihm gehörenden Grundstücke unabhängig von der grundbuchrechtlichen Lage “zusammengefaßt” und gleichsam sein bisheriges Wohngrundstück um eine erweiterte Gartenfläche vergrößert.

3. Die Sache ist im Sinne der Abweisung der Klage spruchreif (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO); einer Zurückverweisung bedarf es nicht, weil die entscheidungserheblichen Tatsachen feststehen.

a) Hinge die Beurteilung des Erschlossenseins des Hinterliegergrundstücks – also die Erfüllung des Tatbestands der einheitlichen Nutzung – im vorliegenden Fall von der Verwirklichung aller drei oben genannten Maßnahmen des Klägers ab, wäre allerdings die Feststellung des genauen Entstehungszeitpunkts der sachlichen Beitragspflicht und damit die Zurückverweisung unumgänglich. Denn der Weg und die Rasenfläche sind erst nach dem frühesten, vom Oberverwaltungsgericht für möglich gehaltenen Entstehungszeitpunkt angelegt worden. Darauf kommt es jedoch nicht entscheidend an.

b) Der Tatbestand der einheitlichen Nutzung ist vielmehr nicht erst mit diesen beiden abschließenden Handlungen des Grundstückseigentümers vollendet worden, sondern hat sich bereits im Dezember 1989 – und damit vor dem frühesten Entstehungszeitpunkt der sachlichen Beitragspflicht im Januar/Februar 1990 – erfüllt. Denn mit der Beseitigung der bislang zwischen den beiden Grundstücken verlaufenden – das von dem Kläger bewohnte Grundstück 609 umfassenden – Trennmauer und der Verlängerung der seitlichen Grenzmauern des Grundstücks 609 um das gesamte hinzuerworbene Grundstück 716 herum hat der Kläger nicht nur – wie das Berufungsgericht meint – die beiden Grundstücke nach außen abgeschirmt, sondern er hat durch die markante einheitliche Umfassung des Doppelgrundstücks handgreiflich – auch für die übrigen Anlieger – zum Ausdruck gebracht, daß die im hinteren Bereich seines – bisher einzigen – Wohngrundstücks 609 liegende Gartenfläche um die anschließende erheblich kleinere Fläche des Grundstücks 716 erweitert und das Doppelgrundstück als ein einheitliches Wohn- und Gartengrundstück genutzt werde. Die spätere “grenzüberschreitende” Anlegung des Plattenwegs und der Rasenfläche haben diese schon im Dezember 1989 nach außen dokumentierte einheitliche Nutzung nur noch bekräftigt.

c) Die Zurückverweisung ist auch mit Blick auf die vom Berufungsgericht nicht näher erörterte Beitragshöhe nicht geboten. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, der Kläger bestreite die Beitragspflicht für das Grundstück 609 – was schon wegen der Bestandskraft des Beitragsbescheids für das Grundstück 716 im übrigen nahelag – nur dem Grunde, nicht jedoch der Höhe nach.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

 

Unterschriften

Dr. Kleinvogel, Dr. Honnacker, Sailer, Krauß, Golze

 

Fundstellen

ZKF 1998, 40

ZMR 1998, 57

DÖV 1998, 212

DVBl. 1998, 61

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