Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwertbarkeit von Alteintragungen für eine Fahrerlaubnisentziehung auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems
Leitsatz (amtlich)
Nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG ist § 29 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 geltenden Fassung nur hinsichtlich der Tilgung und Löschung von bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen anwendbar, nicht aber für deren Verwertung bei der Berechnung des Punktestands. Die Verwertbarkeit richtet sich nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung. Ein Verwertungsverbot besteht somit nicht mehr bereits ab Tilgung bzw. Tilgungsreife einer Eintragung, sondern erst dann, wenn zusätzlich auch die einjährige Überliegefrist abgelaufen ist.
Verfahrensgang
OVG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 03.11.2020; Aktenzeichen 3 LB 283/18 OVG) |
VG Greifswald (Urteil vom 19.12.2017; Aktenzeichen 4 A 776/16) |
Tenor
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 3. November 2020 und das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom 19. Dezember 2017 werden geändert.
Der Bescheid des Beklagten vom 29. Juli 2015 und der Widerspruchsbescheid des Landesamtes für Straßenbau und Verkehr Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Februar 2016 werden aufgehoben.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems.
Rz. 2
Er hatte seit dem Jahr 2000 eine Reihe von Verkehrsverstößen begangen, die zu Eintragungen und Punkten zunächst im Verkehrszentralregister und ab der Umstellung auf das Fahreignungs-Bewertungssystem zum 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister führten. Die zum Kläger bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten und bis dahin nicht getilgten Eintragungen ergaben nach den Berechnungen des Kraftfahrt-Bundesamts und des Beklagten in der Summe einen Stand von zehn Punkten, der zum 1. Mai 2014 in vier Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem umgerechnet und überführt wurde. Nach Ablauf des 30. April 2014 wurden im Fahreignungsregister drei weitere Ordnungswidrigkeiten eingetragen, die der Kläger vor diesem Stichtag begangen hatte. Sie wurden mit insgesamt vier Punkten bewertet. Am 13. Mai 2015 teilte das Kraftfahrt-Bundesamt dem Beklagten mit, dass der Kläger acht Punkte erreicht habe. Daraufhin entzog ihm der Beklagte mit Bescheid vom 29. Juli 2015 gestützt auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis und ordnete den Sofortvollzug an. Seinen Widerspruch wies das Landesamt für Straßenbau und Verkehr Mecklenburg-Vorpommern mit Bescheid vom 23. Februar 2016 zurück.
Rz. 3
Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Greifswald abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit Urteil vom 3. November 2020 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die letzte zur Ergreifung der Maßnahme führende Ordnungswidrigkeit habe der Kläger am 24. Januar 2014 begangen. Zu diesem Zeitpunkt habe sich für ihn ein Stand von acht Punkten im Fahreignungsregister ergeben. Sie seien zum einen für vier bis zum Ablauf des 30. April 2014 in das Verkehrszentralregister eingetragene Entscheidungen zu Verkehrsverstößen (im Folgenden: Alteintragungen) angefallen, die nach dem Straßenverkehrsgesetz in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 geltenden Fassung (im Folgenden: StVG a. F.) mit zehn Punkten (im Folgenden: Punkte alt) zu bewerten seien. Daraus ergebe sich nach Umrechnung ein Stand von vier Punkten nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (im Folgenden: Punkte neu). Hinzu kämen die ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeicherten Entscheidungen (im Folgenden: Neueintragungen), die nach dem Straßenverkehrsgesetz in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (im Folgenden: StVG n. F.) zu bewerten seien. Daraus ergäben sich in der Summe acht Punkte (neu). Die vor dem 30. April 2014 gespeicherten Eintragungen hätten zum Zeitpunkt der Fahrerlaubnisentziehung noch verwertet werden dürfen. Die Überliegefrist sei noch nicht abgelaufen gewesen, deshalb habe kein Verwertungsverbot gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. bestanden. Zwar sei nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F. ein Verwertungsverbot bereits mit der Tilgung eingetreten. Doch sei § 29 StVG a. F. nach dem klaren Wortlaut des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG allein hinsichtlich der Tilgung und Löschung von Eintragungen, nicht aber auch hinsichtlich der Verwertung anwendbar. Die gegenteilige Annahme hätte eine systemwidrige und mit der gesetzgeberischen Intention unvereinbare Privilegierung des Fahrerlaubnisinhabers zur Folge, dem bereits der Wegfall der bisherigen Tilgungshemmung zugutekomme. Die Verwertung der drei vom Kläger vor dem 30. April 2014 begangenen, aber erst nach diesem Zeitpunkt im Fahreignungsregister gespeicherten Eintragungen nach dem ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fahreignungs-Bewertungssystem führe zu keiner unzulässigen echten Rückwirkung.
Rz. 4
Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor: Die Alteintragungen hätten nicht mehr für die Fahrerlaubnisentziehung herangezogen werden dürfen. Die gemäß § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a. F. zweijährige Tilgungsfrist sei am 22. August 2014 abgelaufen. Darauf, dass die Löschung erst nach einer einjährigen Überliegefrist erfolge, komme es nicht an. § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG stehe der Anwendung des ihm nach dem alten Recht zugutekommenden Verwertungsverbots nicht entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht habe im Urteil vom 4. Dezember 2020 - 3 C 5.20 - in einem vergleichbaren Fall § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F. für anwendbar gehalten. Nach der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten dürfe keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden. Der Europäische Gerichtshof habe entschieden, dass die Strafbarkeit einer Handlung eine klare und unzweideutige Rechtsgrundlage voraussetze; das gelte nicht nur für strafrechtliche Vorschriften, sondern auch für sonstige Normen mit Sanktionscharakter. Die Fahrerlaubnisentziehung sei eine solche Sanktion und verstoße deshalb auch gegen europäisches Recht. Die Anwendung des neuen Rechts führe zu einer unzulässigen echten Rückwirkung. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass er sein Kraftfahrzeug vor der Fahrerlaubnisentziehung 18 Monate lang beanstandungsfrei geführt habe. Abgesehen davon habe der Beklagte den Punktestand in mehrfacher Hinsicht fehlerhaft berechnet.
Rz. 5
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.
Rz. 6
Die Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht stimmt dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Digitales und Verkehr, dem Bundesministerium der Justiz sowie dem Bundesministerium des Innern und für Heimat im Ergebnis zu und trägt vor: § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG habe nur die Tilgung und Löschung, nicht aber auch die Verwertung von Alteintragungen erfasst. Das Bundesverwaltungsgericht sei in seinem Beschluss vom 23. Februar 2022 - 3 B 11.21 - zu Recht von einer lediglich unechten Rückwirkung dieser Übergangsregelung ausgegangen.
Entscheidungsgründe
Rz. 7
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil des Oberverwaltungsgerichts beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat bei der Berechnung des vom Kläger erreichten Punktestands auf den falschen Zeitpunkt, nämlich auf den Erlass des Ausgangsbescheids vom 29. Juli 2015 (UA S. 12), nicht aber - was zutreffend gewesen wäre - auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens, hier den Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2016, abgestellt (1.). Bei Erlass des Widerspruchsbescheids lag der für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG erforderliche Punktestand nicht (mehr) vor. Die Verwertbarkeit der Alteintragungen richtete sich - wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat - nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (2.). Die damit verbundene Verlängerung der Verwertbarkeit von Alteintragungen hatte beim Kläger nur eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende unechte Rückwirkung zur Folge (3.). Die seit dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeicherten Entscheidungen führten zu keiner weiteren Tilgungshemmung (4.). Zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids war bei den berücksichtigten Alteintragungen auch die Überliegefrist von einem Jahr abgelaufen, sodass in Bezug auf diese Entscheidungen Löschungsreife und damit ein absolutes Verwertungsverbot eingetreten war (5.).
Rz. 8
1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einer Fahrerlaubnisentziehung - auch auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems - ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Januar 2017 - 3 C 21.15 - BVerwGE 157, 235 Rn. 11 und vom 18. Juni 2020 - 3 C 14.19 - BVerwGE 168, 316 Rn. 10, jeweils m. w. N.). Abzustellen ist hier daher auf den Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2016.
Rz. 9
Auch das Berufungsgericht hat eingangs der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung auf diesen Zeitpunkt als maßgeblich verwiesen (UA S. 9 f.). Es hat dann jedoch bei der Prüfung der Verwertbarkeit der zum Kläger vorhandenen Alteintragungen hiervon abweichend darauf abgestellt, diese Eintragungen hätten zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten zur Entziehung der Fahrerlaubnis am 29. Juli 2015 - also bei Erlass des Ausgangsbescheids - noch verwertet werden dürfen, weil die Überliegefrist noch nicht abgelaufen gewesen sei und damit kein Verwertungsverbot nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG vorgelegen habe (UA S. 12).
Rz. 10
Für ein solches Abstellen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheids besteht auch bei einer Fahrerlaubnisentziehung auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems kein sich aus dem materiellen Recht ergebender sachlicher Grund. Zwar hat der Gesetzgeber beim Fahreignungs-Bewertungssystem nicht anders als bei den bis zum Ablauf des 30. April 2014 geltenden Regelungen des Mehrfachtäter-Punktsystems bestimmt, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis beim Erreichen eines bestimmten Punktestands als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt und ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen ist (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n. F. und § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 StVG a. F.). Zugleich hat er jedoch - wenn auch in unterschiedlicher Ausgestaltung - an den Zeitablauf anknüpfende Verwertungsverbote für Eintragungen im Verkehrszentral- und im Fahreignungsregister vorgesehen (vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. und § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F.). Wegen der Einheit von Ausgangs- und Widerspruchsverfahren (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Juni 2016 - 8 C 5.15 - BVerwGE 155, 261 Rn. 22 m. w. N.) obliegt es nicht nur der Ausgangs-, sondern auch der Widerspruchsbehörde, die damit verbundenen Fristen unter Kontrolle zu halten. Die Ausgangsbehörde kann daher auch nicht darauf verweisen, sie habe keinen Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt die Widerspruchsbehörde ihre Entscheidung treffen werde.
Rz. 11
2. Zu dem für die Verwertbarkeit von Registereintragungen maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids durften die über den Kläger bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen nicht mehr für die Berechnung seines Punktestands herangezogen werden.
Rz. 12
a) Zur Anwendung kommt hier das mit Wirkung vom 1. Mai 2014 mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3313) eingeführte Fahreignungs-Bewertungssystem, das mit Wirkung ab dem 5. Dezember 2014 insbesondere hinsichtlich der Regelungen in § 4 Abs. 5 und 6 StVG nochmals durch das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Gewerbeordnung und des Bundeszentralregistergesetzes vom 28. November 2014 (BGBl. I S. 1802) modifiziert worden ist.
Rz. 13
Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG in der zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2016 geltenden Fassung hat die nach Landesrecht zuständige Behörde gegenüber den Inhabern einer Fahrerlaubnis die unter Nr. 1 bis 3 genannten Maßnahmen stufenweise zu ergreifen, sobald sich in der Summe folgende Punktestände ergeben. Ergeben sich acht oder mehr Punkte, gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG).
Rz. 14
b) Vorgaben für die Punkteberechnung enthält § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG, der hier ebenfalls in der Fassung vom 28. November 2014 anzuwenden ist. Dort ist bestimmt, dass die nach Landesrecht zuständige Behörde für das Ergreifen der Maßnahmen nach Satz 1 auf den Punktestand abzustellen hat, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Punkte ergeben sich gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird.
Rz. 15
Punkte hatten sich danach für den Kläger wegen der von ihm am 12. Dezember 2009 (ein Punkt alt), am 20. August 2010 (drei Punkte alt), am 12. Februar 2011 (drei Punkte alt) und am 1. April 2011 (drei Punkte alt) begangenen Ordnungswidrigkeiten ergeben, die jeweils rechtskräftig geahndet worden waren. Die entsprechenden strafgerichtlichen Entscheidungen waren jeweils bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeichert worden (Alteintragungen). Hinzu kamen drei seit dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister eingetragene Entscheidungen (Neueintragungen).
Rz. 16
c) Die noch unter der Geltung des Mehrfachtäter-Punktsystems entstandenen Punkte waren, da die Rechtsgrundlage für die Fahrerlaubnisentziehung - wie gezeigt - § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zu entnehmen ist, der auf "neue" Punkte abstellt, in Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem umzurechnen. Geregelt ist die Umrechnung in § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG. Danach entspricht ein vor dem 1. Mai 2014 erreichter Punktestand von acht bis zehn Punkten einem Stand von vier Punkten nach dem ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fahreignungs-Bewertungssystem.
Rz. 17
d) Die sich damit aus den Alteintragungen ergebenden vier Punkte (neu) waren indes zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids nicht mehr verwertbar. Die Verwertbarkeit richtet sich dabei nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der hier anwendbaren Fassung des Gesetzes vom 28. November 2014 (n. F.).
Rz. 18
Gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. dürfen, wenn eine Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Absatz 2 - und damit hier - nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden. Das absolute Verwertungsverbot des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. überlagert und begrenzt nach der Rechtsprechung des Senats das Tattagprinzip nach § 4 Abs. 5 Satz 5 bis 7 StVG (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juni 2020 - 3 C 14.19 - BVerwGE 168, 316 Rn. 20).
Rz. 19
§ 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. war nach der Übergangsbestimmung des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auch auf die Alteintragungen des Klägers anzuwenden. Nach dieser Regelung werden Entscheidungen, die nach § 28 Abs. 3 in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung im Verkehrszentralregister gespeichert worden und - wie hier - nicht von Nummer 1 erfasst sind, bis zum Ablauf des 30. April 2019 - und damit auch beim hier maßgeblichen Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2016 - nach den Bestimmungen des § 29 in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung getilgt und gelöscht.
Rz. 20
Das Berufungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen, dass danach das bis zum Ablauf des 30. April 2014 geltende Recht nur auf die Tilgung und Löschung, nicht aber hinsichtlich der Verwertbarkeit der Alteintragungen anzuwenden ist (UA S. 12 f.). Für die Verwertung von bis zum Ablauf des 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeicherten Entscheidungen kommt § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung zur Anwendung (so auch BVerwG, Beschluss vom 23. Februar 2022 - 3 B 11.21 - NJW 2022, 2214 Rn. 9 ff.). Das hat - wie das Berufungsgericht zutreffend annimmt - zur Folge, dass die Entscheidung und die Tat der betroffenen Person nicht mehr - wie das nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F. noch der Fall war - mit Tilgung bzw. Tilgungsreife, sondern erst mit der Löschung bzw. der Löschungsreife der Eintragung und damit erst dann nicht mehr vorgehalten und bei der Berechnung des Punktestands berücksichtigt werden dürfen, wenn zusätzlich auch die Überliegefrist von einem Jahr (vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a. F. sowie § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG n. F.) abgelaufen ist.
Rz. 21
Die Beschränkung der Reichweite von § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auf die Tilgung und Löschung ergibt sich zum einen aus dem klaren Wortlaut der Regelung. Es ist dort nicht auch von der Verwertung bzw. Verwertbarkeit von Eintragungen zum Nachteil des Betroffenen die Rede. Bei der Frage der Verwertbarkeit geht es - anders als bei der Tilgung und Löschung - nicht um die Dauer der Speicherung der in § 28 StVG aufgeführten Daten im Register, sondern um die an eine solche Speicherung zwar anknüpfende, inhaltlich aber darüber hinausgehende Frage, welche Registereintragungen die Fahrerlaubnisbehörde für die Beurteilung der Fahreignung des Betroffenen (noch) heranziehen darf. Die Auffassung des Klägers, § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F., der ein Verwertungsverbot bereits ab der Tilgung der Eintragung im Verkehrszentralregister angeordnet hatte, sei über § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG weiterhin auf Alteintragungen anwendbar, ist daher mit dem Wortlaut dieser Übergangsbestimmung nicht vereinbar.
Rz. 22
Eine solche Erstreckung von § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auf die Verwertbarkeit von Alteintragungen würde zudem dem Sinn und Zweck der Novellierung sowie dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufen. Er wollte mit der Neuregelung des § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG den bisherigen Einsatzzeitpunkt für ein Verwertungsverbot ändern. Die Tat und die Entscheidung sollten der betroffenen Person erst dann nicht mehr für die Zwecke des § 28 Abs. 2 StVG vorgehalten und zu ihrem Nachteil verwertet werden dürfen, wenn die Eintragung im Fahreignungsregister gelöscht oder jedenfalls löschungsreif ist. Damit hat der Gesetzgeber den Zeitpunkt für das Einsetzen eines Verwertungsverbots um die in § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a. F. auch schon nach dem altem Recht vorgesehene Überliegefrist von einem Jahr nach hinten verschoben. Dabei hatte er ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung das Risiko rein taktisch motivierter Rechtsmittel im Blick (vgl. dazu BT-Drs. 17/12636 S. 20); er wollte während der Überliegefrist nun die aus seiner Sicht für die Praxis sinnvolle Übermittlung und Verwertung für die Zwecke der Fahrerlaubnis auf Probe und des Fahreignungs-Bewertungssystems zulassen (vgl. BT-Drs. 17/12636 S. 47). Das zeigt, dass es sich bei der Beschränkung der Anwendung des "alten" Rechts auf der Grundlage von § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG auf die Tilgung und Löschung von Alteintragungen nicht etwa um ein redaktionelles Versehen des Gesetzgebers gehandelt hat.
Rz. 23
Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber in § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 4 StVG - insoweit konsequent - für die Zeit ab dem 1. Mai 2019 nur Regelungen für die Berechnung der Tilgungsfrist und die Löschung von Eintragungen, nicht aber für die Verwertung getroffen hat. Würde § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG - wie der Kläger geltend macht - auch die Verwertbarkeit umfassen, ergäbe sich für die Zeit ab dem 1. Mai 2019 eine Regelungslücke.
Rz. 24
Soweit der Senat im Urteil vom 4. Dezember 2020 - 3 C 5.20 - (BVerwGE 171, 1) in einem obiter dictum ausgeführt hat, dass in den Fällen des § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG ergänzend zu den genannten Regelungen zur Dauer der Tilgungsfrist und zu deren Beginn die Verwertungsbeschränkungen nach § 29 Abs. 8 StVG a. F. zu beachten seien (a. a. O. Rn. 23), wird hieran nicht festgehalten. Maßgeblich für die Verwertung von im Verkehrszentralregister bis zum Ablauf des 30. April 2014 gespeicherten Entscheidungen ist aus den dargelegten Gründen vielmehr § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG in der ab dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung.
Rz. 25
3. Die mit der Anwendung von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. verbundene verlängerte Verwertbarkeit von Alteintragungen hatte beim Kläger nur eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende unechte Rückwirkung zur Folge.
Rz. 26
a) Die Anwendbarkeit von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. auf Alteintragungen verschlechtert verglichen mit der bisherigen Regelung die Rechtslage der betroffenen Fahrerlaubnisinhaber (so auch bereits BVerwG, Urteil vom 18. Juni 2020 - 3 C 14.19 - BVerwGE 168, 316 Rn. 23 f.).
Rz. 27
Vor der Neuregelung führte nach § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F. schon die Tilgung und nicht die Löschung einer Eintragung, die auch nach dem alten Recht erst nach einer Überliegefrist von einem Jahr erfolgte (vgl. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a. F.), zu einem absoluten Verwertungsverbot. § 29 Abs. 8 Satz 1 StVG a. F. sah vor, dass, wenn eine Eintragung im Verkehrszentralregister getilgt ist, die Tat und die Entscheidung dem Betroffenen für die Zwecke des § 28 Abs. 2 - und damit gemäß Nummer 3 für die Ahndung von Verstößen von Personen, die wiederholt im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr stehende Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten begangen haben - nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden dürfen. Mit § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. sieht der Gesetzgeber ein solches absolutes Verwertungsverbot erst ab der Löschung einer Eintragung, also nach Ablauf der Überliegefrist von einem Jahr vor. Bis zur Löschung einer Eintragung lässt der Gesetzgeber eine begrenzte Verwertung zu. Gemäß § 29 Abs. 6 Satz 3 StVG n. F. darf der Inhalt der Eintragung während der Überliegefrist zu bestimmten Zwecken übermittelt, genutzt oder über ihn eine Auskunft erteilt werden; dazu gehört nach der Nummer 2 dieser Regelung die Übermittlung an die nach Landesrecht zuständige Behörde zur Ergreifung von Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nach § 4 Abs. 5 StVG. In der Gesetzesbegründung heißt es zu dieser Änderung von § 29 StVG, dass im Gegensatz zum bisherigen Wortlaut nun während der Überliegefrist die für die Praxis sinnvolle Übermittlung und Verwertung u. a. für die Zwecke des Fahreignungs-Bewertungssystems zugelassen werde (BT-Drs. 17/12636 S. 47).
Rz. 28
b) Diese Verlängerung der Verwertbarkeit hat im Falle des Klägers eine unechte Rückwirkung zur Folge, die verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Rz. 29
aa) Solange die Tilgungsfrist für Alteintragungen nach Maßgabe des bis zum Ablauf des 30. April 2014 geltenden Rechts nicht verstrichen war und somit auch nach dem alten Recht kein Verwertungsverbot bestand, handelt es sich um einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt und damit um einen Fall der unechten Rückwirkung (ähnlich für eine Verlängerung des Zeitraums bis zum Eintritt der Verjährung einer Straftat, wenn bei Inkrafttreten der Neuregelung die Tat noch nicht verjährt war: BVerfG, Kammerbeschluss vom 31. Januar 2000 - 2 BvR 104/00 - juris Rn. 6 ff. m. w. N.).
Rz. 30
Eine solche Konstellation liegt hier vor, denn die Tilgungsfristen der bei der Berechnung des Punktestands des Klägers berücksichtigten Alteintragungen waren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelungen am 1. Mai 2014 noch nicht abgelaufen. Von den vier Alteintragungen war die Ahndung der am 12. Februar 2011 begangenen Ordnungswidrigkeit zuletzt, nämlich am 22. August 2012, rechtskräftig geworden. Die zweijährige Tilgungsfrist, deren Ablauf gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. auch bei den anderen drei Alteintragungen gehemmt wurde, war daher erst am 22. August 2014 und damit nach dem Inkrafttreten von § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. abgelaufen.
Rz. 31
bb) Der Gesetzgeber durfte diese Alteintragungen über § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG i. V. m. § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. der um ein Jahr verlängerten Verwertungsmöglichkeit unterwerfen. Ihm war es - auch mit Blick darauf, dass es sich bei den Maßnahmen nach dem Mehrfachtäter-Punktsystem und nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem nicht um Sanktionen, sondern um Maßnahmen der Gefahrenabwehr handelt - nicht verwehrt, insoweit eine Verschlechterung der Rechtslage der betroffenen Fahrerlaubnisinhaber herbeizuführen.
Rz. 32
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz, soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten. Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in hinreichendem Maße Rechnung tragen. Eine unechte Rückwirkung ist mit den Grundsätzen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010 - 2 BvL 1/03 u. a. - BVerfGE 127, 31 ≪47 f.≫ sowie BVerwG, Urteil vom 14. April 2021 - 3 C 4.19 - juris Rn. 43, jeweils m. w. N.). Das ist bei der verlängerten Verwertbarkeit von Alteintragungen der Fall.
Rz. 33
Die Gesetzesänderung dient ausweislich der Gesetzesmaterialien der Effektivierung des Fahreignungs-Bewertungssystems. Sie zielt auf eine Stärkung der Verkehrssicherheit (vgl. BT-Drs. 17/12636 S. 17, BT-Drs. 18/2775 S. 9 f.) und soll dazu beitragen, dass Fahrerlaubnisinhaber, die sich durch das Erreichen von acht oder mehr Punkten nach der Wertung des Gesetzgebers als ungeeignet erwiesen haben, auch tatsächlich vom Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen werden. Dieses Ziel ließe sich nur eingeschränkt erreichen, wenn die Neuregelung auf Alteintragungen nicht anwendbar wäre. Dass der Gesetzgeber in der Einzelbegründung zu § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG dann nur noch knapp auf Praktikabilitätsgründe für die Handhabung der Umstellung im Kraftfahrt-Bundesamt abgestellt hat (BT-Drs. 17/12636 S. 50), ändert nichts an dieser Grundausrichtung seines neuen Regelungskonzepts.
Rz. 34
Die Grenze der Zumutbarkeit für die betroffenen Fahrerlaubnisinhaber blieb dabei gewahrt. Ihre Erwartung, dass das der Gefahrenabwehr dienende Fahrerlaubnisrecht nicht zu ihrem Nachteil geändert werde, genießt keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung ist zudem in den Blick zu nehmen, dass der Gesetzgeber bei der Umgestaltung des Bewertungssystems nicht nur - insoweit zu Lasten der Betroffenen - eine Verlängerung der Verwertbarkeit von Alteintragungen vorgesehen, sondern zugleich - zu ihren Gunsten - die bislang in § 29 Abs. 6 Satz 1 und 2 StVG a. F. vorgesehene Tilgungshemmung abgeschafft hat (vgl. BT-Drs. 17/13452 S. 7 sowie nachfolgend die Ausführungen unter 4.).
Rz. 35
c) Fehl geht die Rüge des Klägers, wenn für das Verwertungsverbot nicht mehr auf die Tilgung, sondern auf die Löschung der Eintragung abgestellt werde, verstoße das gegen die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus der sich ergebe, dass keine schwerere als die zur Zeit der Begehung der Straftat angedrohte Strafe verhängt werden dürfe. Bei einer Fahrerlaubnisentziehung auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems handelt es sich nicht um eine Sanktion, sondern um eine präventive Maßnahme zur Gefahrenabwehr (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 3 C 21.15 - BVerwGE 157, 235 Rn. 31; so auch die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 17/12636 S. 38 und BT-Drs. 18/2775 S. 9 f.). Außerdem geht es hier nicht darum, ob es sich zum Begehungszeitpunkt um eine Zuwiderhandlung gehandelt hat, sondern darum, wie lange an ihre Begehung Maßnahmen - hier solche mit einer präventiven Zielrichtung - geknüpft werden dürfen.
Rz. 36
d) Ebenso wenig dringt der Kläger mit dem Einwand durch, er habe vor der Fahrerlaubnisentziehung sein Fahrzeug 18 Monate lang unbeanstandet geführt. Der Gesetzgeber knüpft mit den Regelungen über die Tilgung und Löschung von Eintragungen und damit auch über deren Verwertbarkeit zwar an den Gedanken der Bewährung an (vgl. hierzu die Gesetzesbegründung zum Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes vom 24. April 1998, BT-Drs. 13/6914 S. 51; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 29 StVG Rn. 20 m. w. N.). Wie die sowohl im alten als auch im neuen Bewertungssystem vorgesehenen Tilgungs- und Löschungsfristen zeigen, hält er für eine solche Bewährung einen Zeitraum von lediglich 18 Monaten aber nicht für ausreichend (§ 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a. F.: Tilgungsfrist bei Ordnungswidrigkeiten zwei Jahre ab Rechtskraft, außerdem Tilgungshemmung gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F; § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG n. F.: Tilgungsfrist bei Ordnungswidrigkeiten von zwei Jahren und sechs Monaten, hinzu kommt die Überliegefrist von einem Jahr, innerhalb derer eine ≪begrenzte≫ Verwertung nach dem neuen Recht nun weiter möglich ist).
Rz. 37
4. Die zum Kläger ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeicherten Entscheidungen (Neueintragungen) führten, auch wenn mit ihnen weitere vor diesem Zeitpunkt begangene Verkehrsverstöße geahndet wurden, zu keiner weiteren Tilgungshemmung.
Rz. 38
§ 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG bestimmt, dass eine Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung nicht durch Entscheidungen ausgelöst werden kann, die erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden. Nach dem in der Übergangsbestimmung genannten § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a. F. tritt eine Ablaufhemmung auch ein, wenn eine neue Tat vor dem Ablauf der Tilgungsfrist nach Absatz 1 begangen wird und bis zum Ablauf der Überliegefrist (Absatz 7) zu einer weiteren Eintragung führt.
Rz. 39
Zwar wird in § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 StVG lediglich die Ablaufhemmung nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG a. F. genannt, nicht aber auch die Tilgungshemmung nach Satz 1 dieser Bestimmung. Satz 1 sieht vor, dass, wenn im Register mehrere Entscheidungen nach § 28 Abs. 3 Nr. 1 bis 9 über eine Person eingetragen sind, die Tilgung einer Eintragung vorbehaltlich der Regelungen in den Sätzen 2 bis 6 erst zulässig ist, wenn für alle betreffenden Eintragungen die Voraussetzungen der Tilgung vorliegen. Das rechtfertigt - entgegen dem Einwand des Beklagten - aber nicht den (Gegen-)Schluss, dass auch Neueintragungen die Tilgung nach § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. hemmen. Eine solche Auslegung widerspräche der erklärten Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Er wollte ausweislich der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung mit der Einfügung des Satzes 2 erreichen, dass die Weiterführung der Tilgungshemmung auf die bei Inkrafttreten der Reform vorhandenen und die bereits ausgelösten Ablaufhemmungen beschränkt wird. Eintragungen nach Inkrafttreten der Reform sollten unabhängig von Tattag und Entscheidungsdatum keine Tilgungshemmung mehr auslösen können (BT-Drs. 17/13452 S. 7; so im Ergebnis auch OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2016 - 2 Ss OWi 5/16 - juris Rn. 23 ff; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Mai 2016 - 2 (7) SsRs 199/16 - juris Rn. 15 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 7. März 2017 - 1 RBs 167/16 - juris Rn. 17 ff.; kritisch dagegen Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 29 StVG Rn. 43). Der Wortlaut der Bestimmung steht einer solchen der Regelungsabsicht des Gesetzgebers Rechnung tragenden Auslegung der Vorschrift nicht entgegen.
Rz. 40
5. Aufgrund des nach § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. bestehenden absoluten Verwertungsverbots ergab sich beim Kläger zum für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids nicht der für eine Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG erforderliche Stand von acht, sondern nur noch ein Stand von vier Punkten neu. Die aus den Alteintragungen herrührenden vier Punkte durften zu diesem Zeitpunkt bei der Berechnung seines Punktestands nicht mehr berücksichtigt werden.
Rz. 41
Nach dem gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG anwendbaren § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVG a. F. betrug die Tilgungsfrist für die den Kläger betreffenden Alteintragungen zwei Jahre. Die Tilgungsfrist begann mit dem Tag der Rechtskraft oder Unanfechtbarkeit der beschwerenden Entscheidung zu laufen (§ 29 Abs. 4 Nr. 3 StVG a. F.). Zu berücksichtigen war außerdem die Tilgungshemmung gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. Von den vier Alteintragungen zum Kläger wurde die Ahndung der am 12. Februar 2011 begangenen Ordnungswidrigkeit am 22. August 2012 und damit als letzte rechtskräftig. Somit waren gemäß § 29 Abs. 6 Satz 1 StVG a. F. alle vier Alteintragungen mit Ablauf des 22. August 2014 zu tilgen.
Rz. 42
Wie gezeigt, tritt nach dem die Verwertbarkeit regelnden § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. ein Verwertungsverbot jedoch nicht bereits mit der Tilgung bzw. der Tilgungsreife, sondern erst mit der Löschung bzw. der Löschungsreife der betreffenden Eintragung ein. Wie die Tilgung richtet sich auch die Löschung der Alteintragungen aufgrund der Übergangsregelung in § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG nach den Bestimmungen des § 29 in der bis zum Ablauf des 30. April 2014 anwendbaren Fassung. Gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG a. F. wird eine Eintragung nach Eintritt der Tilgungsreife zuzüglich einer Überliegefrist von einem Jahr gelöscht. Die Löschung der vier den Kläger betreffenden Alteintragungen hatte danach mit Ablauf des 22. August 2015 zu erfolgen.
Rz. 43
Zu diesem Zeitpunkt trat nach dem gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 2 Satz 1 StVG für die Verwertung maßgeblichen § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG n. F. zugleich ein absolutes Verwertungsverbot ein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juni 2020 - 3 C 14.19 - BVerwGE 168, 316 Rn. 25). Es bestand somit zwar noch nicht zu dem nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG maßgeblichen Zeitpunkt (= Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit), hier dem 24. Januar 2014, und auch noch nicht zum Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheids vom 29. Juli 2015. Bei Erlass des Widerspruchsbescheids vom 23. Februar 2016 war es aber bereits eingetreten. Da dieser Zeitpunkt maßgebend ist, durften die aus den Alteintragungen herrührenden und in vier neue Punkte umgerechneten Punkte bei der Berechnung des Punktestands nicht mehr zu Lasten des Klägers berücksichtigt werden. Die auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Fahrerlaubnisentziehung ist daher rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Sie war unter Änderung der vorinstanzlichen Entscheidungen aufzuheben.
Rz. 44
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Rz. 45
Mit Blick auf die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten des Falles war die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren notwendig (§ 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
Fundstellen
Haufe-Index 16130475 |
BVerwGE 2024, 151 |
DÖV 2024, 246 |
DAR 2024, 110 |
JZ 2024, 47 |
VR 2024, 108 |
ZfS 2024, 114 |
BayVBl. 2024, 240 |
DVBl. 2023, 4 |
DV 2024, 43 |
NPA 2024, 0 |
NordÖR 2023, 504 |
RdW 2023, 1005 |
FSt 2024, 159 |