I. Voraussetzungen der Vermutung
Rz. 2
Voraussetzung der Vollständigkeitsvermutung ist, dass das Inventar rechtzeitig, also vor Ablauf einer eventuell bestimmten Inventarfrist (§ 1994 BGB) oder ohne vorher erfolgte Fristbestimmung (§ 1993 BGB) errichtet wurde. Der Erbe muss ein Inventar (zum Begriff des Inventars vgl. § 1993 Rdn 1) in der Form der §§ 2002, 2003 BGB errichtet haben. Fehlen die in § 2001 BGB zusätzlich verlangten Beschreibungen und Wertangaben, wird das Inventar nicht unwirksam. Auch etwaige Unvollständigkeiten führen, wie sich aus § 2005 Abs. 2 BGB ergibt, nicht zwingend zu einer "Unwirksamkeit" des Inventars. Das Inventar darf allerdings nicht derart mangelhaft sein, dass es zu den Zwecken, die mit der Inventarerrichtung verfolgt werden, gänzlich ungeeignet ist. Rechtzeitig errichtet ist ein Inventar, das entweder freiwillig (§ 1993 BGB) oder innerhalb der vom Nachlassgericht gesetzten Inventarfrist (§ 1994 BGB) errichtet worden ist. Nicht vorausgesetzt ist, dass der Erbe die Vollständigkeit des Inventars durch eine eidesstattliche Versicherung nach § 2006 BGB bekräftigt hat (vgl. § 2006 Rdn 2). Die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung schließt den Nachweis der Unvollständigkeit nicht aus. Durch die Verweigerung der eidesstattlichen Versicherung erlischt jedoch die Vollständigkeitsvermutung des § 2009 BGB gegenüber dem Nachlassgläubiger, der ihre Abnahme beantragt hat (vgl. § 2006 Rdn 11).
II. Inhalt und Wirkung der Vermutung
Rz. 3
Die Vermutung hat allein den in § 2009 BGB angegebenen Inhalt. Sie gilt also nur hinsichtlich der Aktiva des Nachlasses, erstreckt sich nicht auf etwaige Angaben über deren Wert und/oder auf die Bezeichnung von Nachlassverbindlichkeiten. Sie bezieht sich nur auf die zum Zeitpunkt des Erbfalls vorhanden gewesenen Nachlassgegenstände, nicht auf einen etwaigen Zuwachs. Die Vermutung hat auch einen lediglich negativen Inhalt, indem angenommen wird, dass weitere Nachlassgegenstände (Aktiva) als die im Inventar angegebenen nicht vorhanden gewesen seien. Eine positive Rechtsvermutung für die Zugehörigkeit der angegebenen Gegenstände zum Nachlass wird dagegen nicht begründet. Über den Beweiswert der durch die Vermutung nicht gedeckten Angaben entscheidet der Richter aufgrund freier Beweiswürdigung (§ 286 ZPO).
Rz. 4
Die Vermutung gilt nur im "Verhältnis zwischen dem Erben und den Nachlassgläubigern". Damit gilt sie nicht gegenüber den Eigengläubigern des Erben, den Erbschaftsbesitzern, den Nacherben, den Erbschaftskäufern, dem Testamentsvollstrecker und den Miterben, es sei denn, diese sind zugleich Nachlassgläubiger. Nach Dobler soll sie auch gegenüber einem Nachlass- und Nachlassinsolvenzverwalter gelten, die zugleich die praktische Bedeutung dieser Auffassung als nur gering ansieht, da der Erbe in den hier maßgeblichen Fällen ohnehin nicht beweisbelastet ist und deshalb auch nicht auf die Beweiserleichterung angewiesen ist. Die durch die Vermutung bewirkte Beweiserleichterung des Erben ist insbesondere bei der Vollstreckungsgegenklage des § 785 ZPO von Bedeutung. Die Vermutung ist eine reine Tatsachenvermutung, die durch den Beweis des Gegenteils entkräftet werden kann (§ 292 ZPO). Der Gegenbeweis hat – positiv – zum Inhalt, dass bestimmte, im Inventar nicht aufgeführte Nachlassgegenstände doch zum Nachlass gehören. Gelingt dieser Beweis, wird die Vermutung der Vollständigkeit im Übrigen nicht entkräftet. Hat der Erbe eine Inventaruntreue (§ 2005 Abs. 1 BGB) begangen, bleibt die Vermutung wirkungslos (vgl. § 2005 Rdn 11). Verweigert der Erbe die eidesstattliche Versicherung des Inventars, dann entfällt die Vermutung demjenigen Nachlassgläubiger gegenüber, der den Antrag gestellt hatte (vgl. § 2006 Rdn 11).