Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
aa) Allgemeines
Rz. 35
Für die Beurteilung, ob überhaupt ein Irrtum vorliegt, der zur Anfechtung berechtigt, sind die subjektiven Vorstellungen des Erblassers von entscheidender Bedeutung. Im Hinblick auf die Vorstellungen des Erblassers sind folgende Fälle zu unterscheiden:
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Der Erblasser hatte konkrete Vorstellungen von bestimmten Umständen, diese stimmen jedoch nicht mit der tatsächlichen Sachlage oder auch einer späteren Entwicklung überein (positive Vorstellungen), oder |
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der Erblasser hat sich überhaupt keine Gedanken über solche Umstände gemacht, die sich später als fehlerhaft herausgestellt haben (Fehlen jeglicher Vorstellungen), oder |
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der Erblasser hat sich zwar keine konkreten Gedanken über das Vorliegen bestimmter Umstände gemacht, das Vorliegen der Umstände war jedoch für den Erblasser selbstverständlich, so dass ein Abrufen dieser Umstände für den Erblasser jederzeit möglich gewesen ist (unbewusste selbstverständliche Vorstellungen). |
bb) Positive Vorstellungen
Rz. 36
Nach dem Wortlaut des Gesetzes setzt das Vorliegen eines Irrtums seitens des Erblassers eine "positive Vorstellung" über die tatsächlichen Umstände voraus. Ein Motivirrtum liegt in jedem Falle vor, wenn der Erblasser eine bewusste Vorstellung von einem bestimmten Umstand hat und er hierdurch zu dem Irrtum veranlasst worden ist (subjektive Überzeugung). Der Erblasser befindet sich dagegen nicht in einem Irrtum, wenn er das Vorliegen eines bestimmten Umstandes oder den Eintritt eines Ereignisses nur für möglich oder wahrscheinlich hält. In diesem Falle bezieht der Erblasser auch die entgegengesetzte Möglichkeit in seine Überlegungen mit ein. Hier könnte man von einem "dolus eventualis" sprechen. Es ist zu respektieren, dass der Erblasser bewusst und gewollt das Risiko in Kauf genommen hat. Insoweit ist eine Irrtumsanfechtung ausgeschlossen. Hat der Erblasser über künftige Entwicklungen eine gewisse Vorstellung, wird er sich i.d.R. bewusst sein, dass es insoweit für seine Annahme keine völlige Sicherheit gibt. Der Erblasser muss dann aber eine "gefestigte Erwartung" vom Eintritt seiner Prognoseentscheidung haben, zumindest für den Fall, dass er von einem gewöhnlichen Verlauf der Dinge ausgegangen ist.
Traf der Erblasser selbst Regelungen, um der künftigen Entwicklung Rechnung zu tragen, liegt kein Motivirrtum vor.
cc) Fehlen jeglicher Vorstellungen
Rz. 37
Hat der Erblasser dagegen keine Vorstellung, auch keine unbewusste, stellt es ein Problem dar, ob von einem Irrtum ausgegangen werden kann, der zur Anfechtung i.S.d. Abs. 2 berechtigt. Dies ist bspw. dann der Fall, wenn der Erblasser nicht an die künftige Kaufkraft des Geldes denkt, er insbesondere nicht ahnt, dass eine Inflation zur völligen Entwertung führen könnte. Nach dem Wortlaut des Gesetzes könnte man davon ausgehen, dass ein Irrtum in diesem Fall nicht gegeben ist. Nach Ansicht der Rspr. setzt die Anwendung des Abs. 2 voraus, dass die Umstände, über welche sich der Erblasser geirrt hat, zumindest in seinem Vorstellungsbereich lagen und auch tragender Grund für sein Testament gewesen sind. Umstände, die der Erblasser überhaupt nicht in Erwägung gezogen hat, bei deren Kenntnis er eine Verfügung aber nicht getroffen hätte, schließen eine Anfechtung aus. Als Begründung wird angeführt, dass die bloße Unkenntnis nicht mit einem Irrtum gleichgesetzt werden könne. Anders als bei der ergänzenden Auslegung ist ein hypothetischer oder irrealer Wille des Erblassers im Bereich der Anfechtung nicht zu berücksichtigen.
dd) Unbewusste, selbstverständliche Vorstellungen
Rz. 38
Nach überwiegender Ansicht ist allerdings eine klare Abgrenzung zwischen dem Vorhandensein einer falschen Vorstellung (typische Irrtumssituation) und dem bloßen Fehlen einer richtigen Vorstellung fast nicht möglich, da der Erblasser bei jeder Willensbildung den Fortbestand der derzeit gültigen Verhältnisse als selbstverständlich voraussetzt. D.h., man kann entweder vom Fehlen einer Vorstellung im Hinblick auf eine künftige Änderung sprechen oder davon, dass der Erblasser von der vorhandenen Vorstellung ausgeht, dass die Verhältnisse stabil bleiben. Beides ist nicht klar voneinander zu trennen.
Rz. 39
Nach der Rspr. handelt es sich hierbei als "vom Bewusstsein des Erklärenden nicht erfasste, aber durchaus vorhandene Vorstellungen i.S.v. in die Zukunft gerichteten Erwartungen des Erblassers, die diesem so selbstverständlich erscheinen, dass sie bei ihm unbewusst bestehen und trotzdem Grundlage seiner letztwilligen Verfügung sind". Es sind solche Umstände gemeint, die für den Erblasser nach seiner Vorstellung selbstverst...