Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 9
Ein Übergehen liegt dann vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte überhaupt nicht erwähnt wurde, der Nachlass jedoch insoweit verteilt ist, als das gesetzliche Erbrecht leerlaufen oder geschmälert wird. Von einem Übergehen ist auch dann auszugehen, wenn der Erblasser zugunsten einer Person, die zu einem späteren Zeitpunkt zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehört, eine Zuwendung anordnet, z.B. ein Vermächtnis aussetzt. Als Bsp. seien hier genannt: Vermächtnis zugunsten der Haushälterin, die der Erblasser später heiratet; Vermächtnis zugunsten eines Neffen, den der Erblasser später adoptiert; Zuwendung zugunsten eines Freundes oder einer Freundin, mit dem/der später eine eingetragene Lebenspartnerschaft eingegangen wird. In diesen Fällen hat der Erblasser die Zuwendung nicht im Hinblick darauf gemacht, dass die betreffende Person zum Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen gehört. Er hat die Rechtsposition als Pflichtteilsberechtigter nicht in seine Erwägungen mit einbezogen. § 2079 BGB ist daher auch für diese Fälle anzuwenden, sofern die Zuwendung unter dem gesetzlichen Erbteil verbleibt. In den Fällen, in denen der Bedachte schon zum Kreise der pflichtteilsberechtigten Personen zählte, ist die Unkenntnis des Erblassers bezüglich des Pflichtteilsrechtes zu beweisen. Im Falle, dass das Pflichtteilsrecht erst später entstanden ist, bedarf es dieses Beweises nicht. Hat der Erblasser hingegen die Zuwendung in dem Bewusstsein angeordnet, dass eine Pflichtteilsberechtigung in Kürze eintreten wird, d.h. dass eine Heirat in Kürze erfolgen wird, liegt ein Übergehen nicht vor.
Rz. 10
Seitens des RG wurde ein Übergehen hingegen nur dann bejaht, wenn die pflichtteilsberechtigte Person durch den Erblasser weder ausdrücklich enterbt wurde noch als Erbe eingesetzt oder mit einem Vermächtnis bedacht worden ist. Diese Ansicht geht davon aus, dass in derartigen Fällen die Unkenntnis von der Pflichtteilsberechtigung unbeachtlich sei. Eine Anfechtung nach § 2079 BGB sei demgemäß ausgeschlossen, es sei denn, ein ungewolltes Ausschließen von der Erbschaft liege vor. Eine Anfechtung sei jedoch nach § 2078 Abs. 2 BGB u.U. möglich. Nachteil ist jedoch die schlechtere Beweislastverteilung.
Rz. 11
Beispiel zu den vorgenannten Ansichten
Erblasser Emil bedenkt seine Haushälterin Margot mit einer testamentarischen Zuwendung. Jahre später heiratet er seine Haushälterin Margot.
Im Beispielsfall wäre die Haushälterin Margot nach der ersten Auffassung zur Anfechtung gem. § 2079 BGB berechtigt. Nach der zuletzt genannten Auffassung bliebe der Haushälterin nur das Anfechtungsrecht gem. § 2078 Abs. 2 BGB.
Wo liegt der Unterschied? Der Unterschied besteht im Wesentlichen in der grundlegend anderen Darlegungs- und Beweislastverteilung. Während Margot bei Anwendung des Anfechtungstatbestandes gem. § 2079 BGB nur darlegen und beweisen müsste, dass der Erblasser Emil ihre spätere Pflichtteilsberechtigung nicht gekannt hat bzw. sich ihrer nicht bewusst war, müsste Margot bei Anwendung des Anfechtungstatbestands des § 2078 Abs. 2 BGB nicht nur den Irrtum des Erblassers darlegen und beweisen, sondern auch dessen Kausalität. Letztere wird, und hierin läge für Margot die entscheidende Erleichterung, bei § 2079 BGB gesetzlich vermutet.
Rz. 12
Nach einer vermittelnden Ansicht, der sich die Rspr. angeschlossen hat, liegt ein Übergehen auch dann vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte völlig geringfügig bedacht worden ist. Diese Ansicht wird überwiegend mit dem Wortlaut des § 2079 BGB begründet und stützt sich auf dessen gebotene enge Auslegung. Für die Geringfügigkeit ist allein der Wert der Zuwendung maßgebend, nicht hingegen das Verhältnis der Zuwendung zum Gesamtnachlass. Nach Meinung der Rspr. liegt Geringfügigkeit dann nicht vor, wenn der Erblasser die bedachte Person bei der Verteilung des Nachlasses ernsthaft in Betracht gezogen und ihr erhebliche Vermögenswerte zugewandt hat.
Rz. 13
Vorliegend ist der erstgenannten Ansicht zu folgen, wonach eine Anfechtung nach § 2079 BGB ausgeschlossen ist, wenn eine geringfügige Zuwendung vorliegt, da ein Übergehen nicht gegeben ist. Ansonsten ist die Rechtssicherheit gefährdet. Unter Umständen ist es nämlich schwierig, zwischen den Zuwendungen, die den Erbteil überschreiten, und denen, die darunter bleiben, zu unterscheiden. Als Bsp. hierfür sei genannt, dass zugunsten des Pflichtteilsberechtigten ein Vermächtnis ausgesetzt ist, dieser jedoch mit einem Pflegevermächtnis als Untervermächtnis beschwert wird. Hier dürfte eine Differenzierung äußerst schwierig sein. Der Wortlaut gibt für die hier vertretene Ansicht zwar nicht viel her. Jedoch spricht die Systematik für die vorgenannte Ansicht. Es sollen nämlich nicht die wirtschaftlichen Interessen des Pflichtteilsberechtigten geschützt werden, sondern es ist allein maßgeblich, ob der Erblasser an den Pflichtteilsberechtigten gedacht hat, als er seine letztwillige Verfügung errichtet hat. Nur wenn er diesen übersehen hat, soll § 2079 BGB un...