Ursula Seiler-Schopp, Michael Rudolf
Rz. 47
Die ergänzende Testamentsauslegung ist wie folgt vorzunehmen:
a) Feststellen der Lücke
Rz. 48
Zunächst ist mittels einfacher Auslegung die Lücke festzustellen. Hierbei ist das Ziel des Erblassers, welches er mit seiner Verfügung im Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung hatte erreichen wollen, d.h. seine wirkliche Willensrichtung, zu ermitteln. Dieses vom Erblasser Gewollte ist praktisch wirtschaftlicher, nicht hingegen rechtlicher Natur. Derartige Ziele können sein: die Sicherung des Lebensunterhalts des Bedachten, die Fortführung eines Unternehmens durch den Erben, eine Belohnung für die Pflege im Alter, das Bedenken eines ganzen Familienstammes, die wirtschaftliche Gleichbehandlung nahestehender Personen. Zu den Zielen des Erblassers gehören auch die Vorstellungen des Erblassers über seine Nachlassgegenstände und ihre Veränderung bis zum Erbfall sowie über die Lebenszeit, das Verhalten und die künftige wirtschaftliche Entwicklung des oder der Bedachten. Die Lücke besteht darin, dass das vom Erblasser gewollte Ziel durch seine Testamentsgestaltung nicht erreicht worden ist. Wird nach Eintritt des Erbfalls erkannt, dass das vom Erblasser erstrebte Ziel mit der testamentarischen Regelung verfehlt wurde, liegt eine Lücke vor. Diese kann im Wege der ergänzenden Auslegung durch eine das Ziel erreichende Regelung geschlossen werden. Damit wird der Testamentsinhalt den veränderten Umständen angepasst.
b) Ungewollte Lücke
Rz. 49
In einem zweiten Schritt ist festzustellen, ob diese Lücke überhaupt planwidrig ist oder ob sie etwa gewollt war. Planwidrig ist eine Lücke dann, wenn der Erblasser für den Fall, dass er sich der Lücke bewusst gewesen wäre, eine andere Gestaltung seines Testaments gewählt hätte (= Kausalität der Lücke).
c) Schließen der Lücke
Rz. 50
In einem weiteren Schritt ist die Lücke zu schließen. Um die Lücke zu schließen, ist zu ermitteln, was der Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung gewollt hätte und was inhaltlich von ihm für den Fall angeordnet worden wäre, dass er die Veränderungen der Sachlage vorausgesehen hätte. Es ist immer zu fragen, welche Anordnungen der Erblasser getroffen hätte bzw. welche er nicht getroffen hätte, wenn ihm im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments die nicht in Erwägung gezogenen Umstände bekannt gewesen wären. Es ist somit ein dem Erblasser unterstellter irrealer oder hypothetischer (unwirklicher) Wille zu berücksichtigen, den er vermutlich gehabt haben würde, wenn er im Zeitpunkt der Testamentserrichtung die künftige Entwicklung wenigstens als möglich vorausgesehen hätte. Von einem allwissenden Erblasser, der die Zukunft in allen Einzelheiten voraussieht, ist hierbei nicht auszugehen. Dies wäre realitätsfremd und würde einer ergänzenden Auslegung nicht entsprechen. Es ist zu fragen, wie der Erblasser testiert hätte, wenn er die Möglichkeit der späteren Entwicklung in ihren wesentlichen Zügen bedacht hätte.
Es geht hier nicht darum, den erwiesenen oder den mutmaßlichen wirklichen Willen zur Geltung zu bringen. Auch bei der Ermittlung des hypothetischen Erblasserwillens sind außerhalb des Testaments liegende Umstände sowie die allg. Lebenserfahrung und auch Äußerungen des Erblassers zu berücksichtigen. Maßgebend ist auch bei der ergänzenden Testamentsauslegung der Wille im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments, nicht ein etwaiger späterer Wille. Aus einem nach der Testamentserrichtung gebildeten Willen des Erblassers können allenfalls "Rückschlüsse" auf den hypothetischen Willen zur Zeit der Abfassung der Verfügung gezogen werden.
Rz. 51
In den Fällen, in denen sich ein hypothetischer Erblasserwille nicht feststellen lässt, ist die Verfügung anhand des Wortlauts auszulegen. Haben Ehegatten einen Erbvertrag errichtet, in dem sie ihren Sohn bindend zum Schlusserben berufen haben, war diesen allerdings nicht bekannt, dass dieser geistig behindert und testierunfähig sein würde, kann aus diesem Umstand, sofern der Erbvertrag keinerlei Anhaltspunkte enthält, keine Änderungsbefugnis des überlebenden Ehegatten hergeleitet werden. Fehlen Anhaltspunkte in einem Behinderten- oder Bedürftigentestament, kann es nicht ergänzend dahingehend ausgelegt werden, dass öffentliche Versorgungsleistungen unbeeinflusst bleiben.
Rz. 52
In den Fällen, in denen der Erblasser die Veränderung der Umstände erkennt und sich dahingehend äußert, dass seine ursprünglich errichtete Verfügung mit verändertem Inhalt weiter gelte, lässt sich ein Rückschluss auf den hypothetischen Willen bei Testamentserrichtung ziehen, da der Erblasser davon ausgeht, dass sein errichtetes Testament der veränderten Situation Rechnung trägt. Ist dem Erblasser hingegen bewusst, dass das von ihm errichtete Testament Lücken enthält, und errichtet er dennoch keine neue letztwillige Verfügung, ist eine...