Dr. iur. Sebastian Trappe, Dr. iur. Pierre Plottek
Rz. 4
Die Unfähigkeit, Geschriebenes lesen zu können oder eine entsprechende Überzeugung des Notars hinsichtlich des Testierenden schließt für diesen nach Abs. 2 die Möglichkeit aus, ein öffentliches Testament durch Übergabe einer Schrift zu errichten. Denn wer schriftlich testieren will, muss zumindest im Stande sein, sich durch eigenes Lesen Kenntnis vom Inhalt der Schrift zu verschaffen. Verlangt wird insoweit abstraktes Lesevermögen, d.h. die Fähigkeit, den Sinn des Geschriebenen erfassen zu können. Die Ursache für diese Leseunfähigkeit, sei es nun Blindheit, hochgradige Geistesschwäche, schwere Beeinträchtigung der Sehkraft (auch vorübergehend), Analphabetismus usw., ist unerheblich.
Rz. 5
Dem gleich steht auch derjenige Testierer, der die Sprache nicht versteht, in der die Schrift verfasst ist. Des Lesens unkundig ist auch der Blinde, soweit er die Blindenschrift nicht beherrscht, während umgekehrt die Fähigkeit, Texte in Blindenschrift erfassen zu können, dazu führt, dass diese "so Geschriebenes" lesen und daher durch Übergabe einer in Blindenschrift verfassten Urkunde auch testieren können. Beherrscht der Notar die Blindenschrift nicht, so soll er dies in der Niederschrift vermerken, damit deutlich wird, dass die Rechtslage in diesem Falle derjenigen bei Übergabe einer verschlossenen Schrift entspricht.
Hat der Erblasser zur Überzeugung des Notars verschwiegen, dass er nicht lesen kann und hielt ihn der Notar für des Lesens kundig, so ist das Testament grds. voll wirksam. Dies gilt selbst noch bei grober Fahrlässigkeit des Notars. Wer sich darauf beruft, dass der Erblasser unfähig sei, Geschriebenes zu lesen, ist dafür beweispflichtig. Es genügt allerdings, wenn sich der Erblasser selbst als leseunfähig bezeichnet; hieran ist der Notar gebunden. Diese Erklärung ist deshalb jetzt nach § 22 Abs. 1 S. 3 BeurkG n.F. in die Niederschrift aufzunehmen.