a) Wiedererlangung der Testierfreiheit
Rz. 57
Im Fall der Wiederverheiratung stellt sich, sowohl bei der Einheitslösung als auch bei der Trennungslösung, die Frage, ob der Längstlebende seine, durch die Bindungswirkung beschränkte, Testierfreiheit voll wiedererlangt. Nach h.M. entfällt mit der Wiederheirat die Bindung des Überlebenden an seine wechselbezüglichen Verfügungen im Ehegattentestament, soweit der Überlebende seiner Beteiligung am Nachlass des Erstverstorbenen verlustig geht. Ist daher im Testament nichts Gegenteiliges bestimmt, kann der Überlebende nunmehr wieder frei testieren. Diese Testierfreiheit entfällt auch nicht wieder, wenn die neue Ehe geschieden wird. Ist dagegen aufgrund entsprechender Bestimmung oder durch Auslegung des Ehegattentestaments davon auszugehen, dass die Bindungswirkung auch im Fall der Wiederheirat bestehen bleibt, wird vertreten, dass der überlebende Ehegatte analog § 2078 Abs. 2 BGB seine eigenen Verfügungen wegen Übergehens des neuen Ehegatten als Pflichtteilsberechtigten anfechten könne. Dies überzeugt aber nicht. Man wird richtigerweise darauf abstellen müssen, dass eine Irrtumsanfechtung nicht in Betracht kommen kann, weil der Überlebende den Fall der Wiederheirat gerade bei Abfassung des Ehegattentestaments bereits bedacht hatte. Wenn dann zusätzlich bestimmt war, dass die Bindung gleichwohl fortbestehen sollte, lässt sich nicht begründen, weswegen dann eine Anfechtung zulässig sein sollte.
Rz. 58
Eine Gegenansicht versucht differenzierend zu lösen. Je nachdem, wie viel Vermögen der überlegende Ehegatten hatte bzw. ihm auch bei Wiederheirat vom Vermögen des Erstversterbenden verbleiben soll, wird eine entsprechende Teilbindung an seine eigenen letztwilligen Verfügungen angenommen. Die mit dieser Meinung zu erzielende Einzelfallgerechtigkeit würde man mit einer enormen Rechtsunsicherheit erkaufen. Die Praxistauglichkeit einer solchen differenzierenden Lösung muss darüber hinaus angezweifelt werden, da hier zu viele Parameter vorstellbar wären, an denen die Einzelfallentscheidung festgemacht werden könnte. Teilweise wird sogar vertreten, dass der Überlebende im Fall der Wiederheirat nicht frei wird von seinen wechselbezüglichen Verfügungen im Ehegattentestament.
Rz. 59
Praxistipp
Es kann wegen der Wichtigkeit dieses Punktes nur empfohlen werden, die Frage des Wegfalls der Bindungswirkung des Überlebenden im Testament klar und eindeutig zu regeln.
b) Verfügungen des Überlebenden bei Wiederverheiratung
Rz. 60
Noch nicht entschieden ist damit aber die Frage, was mit den Verfügungen des Überlebenden im Ehegattentestament im Augenblick der Wiederheirat geschieht. Hier ist umstritten, ob diese Verfügungen automatisch gegenstandslos werden und als nicht geschrieben zu betrachten sind. Der BGH hat diese Frage offengelassen. Die wohl überwiegende Meinung geht dahin, dass die Verfügungen des überlebenden Ehegatten bis zu einer anderweitigen Testierung bestehen bleiben. Beide Ansichten können nur darüber spekulieren, wovon der Überlebende im Regelfall ausgehen wird: von der Fortgeltung seiner Verfügung im Ehegattentestament oder von dem automatischen Wegfall. Dies wird sich aber nicht klären lassen, auch wenn hier viel dafür spricht, dass ein Laie, der bereits eine Verfügung getroffen hat, davon ausgeht, dass er diese ändern muss, wenn er an ihr nicht festhalten will. Ebenso kann nur darüber spekuliert werden, ob und welche Beteiligung des neuen Ehegatten und der potentiellen Abkömmlinge vom Überlebenden im Zeitpunkt der Wiederheirat gewünscht wird. Die Lösung zu dem geschilderten Problem kann daher nur normativ gefunden werden mit der Frage, welche Regelung einerseits noch am praktikabelsten ist und die größtmögliche Rechtssicherheit bietet, andererseits den Beteiligten auch zumutbar ist. Danach wird man hier verlangen können, dass der Überlebende seinen nach der Wiederheirat aktuellen erbrechtlichen Willen in einer entsprechenden Verfügung äußert und niederlegt. Sollte der Erblasser fälschlicherweise von einer automatischen Gegenstandslosigkeit seiner ursprünglichen Verfügungen im Ehegattentestament ausgegangen sein, wird den neuen Familienangehörigen das Recht der Anfechtung nach §§ 2281, 2285 BGB i.V.m. §§ 2078, 2079 BGB zugebilligt.