I. Auslegungsregel

 

Rz. 62

Auch Abs. 2 enthält nach h.M. eine Auslegungsregel.[165] Daher ist auch hier zunächst im Wege der Auslegung zu versuchen, den tatsächlichen Erblasserwillen festzustellen. Verbleiben danach Zweifel, so gilt Folgendes: Ist in einem gemeinschaftlichen Testament ein Vermächtnis angeordnet, das nach dem Tod des Überlebenden erfüllt werden soll, so entsteht der Anspruch des Vermächtnisnehmers erst mit dem zweiten Erbfall, d.h. erst mit dem Tod des Längerlebenden, § 2176 BGB. Ist zu diesem Zeitpunkt der Vermächtnisnehmer bereits verstorben, greift daher § 2160 BGB ein, mit der Folge, dass das Vermächtnis dann unwirksam ist.[166] Handelt es sich jedoch bei dem künftigen Vermächtnisnehmer um einen Abkömmling des überlebenden Ehegatten, so wird über § 2269 BGB regelmäßig eine stillschweigende Einsetzung seiner Abkömmlinge zu Ersatzvermächtnisnehmern anzunehmen sein,[167] solange nicht ein anderer Wille des Erblassers zu ermitteln ist.

 

Rz. 63

Vor dem zweiten Erbfall hat der Vermächtnisnehmer kein vererbliches oder übertragbares Recht und auch kein Anwartschaftsrecht.[168]

 

Rz. 64

Auch wenn zu der Frage, wann das Vermächtnis anfallen soll, im Testament nichts geregelt ist, greift Abs. 2 ein. Abs. 2 ist demnach nicht lediglich eine Auslegungsregel, die Unklarheiten beseitigen hilft, sondern daneben eine dispositive Bestimmung, die eingreift, wenn die Testierenden nichts Abweichendes verfügt haben.[169]

 

Rz. 65

Da das Vermächtnis erst beim Tod des Längstlebenden anfällt, greifen die Schutzbestimmungen der §§ 2074, 2177, 2179 BGB i.V.m. §§ 158 ff. BGB nicht ein. Grund dafür ist, dass es sich bei der Lösung nach Abs. 2 nicht um eine Verfügung des zuerst versterbenden Ehegatten, sondern um eine Verfügung des letztversterbenden Ehegatten handelt.[170] Die Vermächtnisanordnung des erstversterbenden Ehegatten wird mit dessen Tod gegenstandslos.

[165] Soergel/Wolf, § 2269 Rn 45; SchlHOLG v. 6.6.2016 – 3 Wx 1/16, Rn 49, zit. nach juris = FamRZ 2017, 403.
[166] BGH LM 2271 Nr. 6 m. Anm. Johannsen; Staudinger/Kanzleiter, § 2269 Rn 67.
[167] Staudinger/Kanzleiter, § 2269 Rn 67.
[168] Staudinger/Kanzleiter, § 2269 Rn 67.
[169] BGH FamRZ 1960, 432.
[170] Vgl. BGH NJW 1983, 277, 278; Staudinger/Kanzleiter, § 2269 Rn 66.

II. Verfügungsmöglichkeit des Überlebenden

 

Rz. 66

Der Längstlebende ist infolge fehlender Beschränkungen weitestgehend frei in seinen lebzeitigen Verfügungen. Er ist nicht gehindert, über den Vermächtnisgegenstand zu seinen Lebzeiten frei zu verfügen.[171] Zu beachten sind aber die Beschränkungen, die sich aus der analogen Anwendung der Vorschriften über den Erbvertrag durch die Rspr. und die allg. Meinung ergeben.[172] Nach § 2288 BGB analog werden Beeinträchtigungen und Verfügungen dann angreifbar, wenn sie in Benachteiligungsabsicht vorgenommen werden, kein lebzeitiges Eigeninteresse gegeben und das Vermächtnis nach § 2270 Abs. 1 BGB wechselbezüglich und damit bindend nach § 2271 Abs. 2 BGB ist. Diese Ansprüche können jedoch erst nach dem Tod des Längstlebenden geltend gemacht werden.[173] Noch dazu sind diese Ansprüche als Bereicherungsansprüche ausgestaltet. Der Vermächtnisnehmer hat damit eine weitgehend ungesicherte Rechtsposition vor dem Tod des Längerlebenden.

[171] BGHZ 26, 274, 277; BGHZ 31, 13, 15.
[172] BGHZ 26, 274; Staudinger/Kanzleiter, § 2269 Rn 68; Soergel/Wolf, § 2269 Rn 46.
[173] BGHZ 26, 274, 279; BGHZ 31, 16, 23.

III. Weitere Regelungsmöglichkeiten

 

Rz. 67

Die Ehegatten können die Vermächtnisanordnung abweichend von Abs. 2 ausgestalten. Folgende Möglichkeiten kommen in Betracht: Das Vermächtnis fällt bereits mit dem Tod des Erstversterbenden an und nur die Fälligkeit wird bis zum Tod des Längerlebenden hinausgeschoben.[174] Das Vermächtnis ist vom Erstversterbenden angeordnet, es fällt aber erst mit dem Tod des Längerlebenden nach § 2177 BGB an. Das Vermächtnis fällt beim Tod des Erstversterbenden an und ist sofort fällig.

[174] RGZ 11, 258.

IV. Auslegungsregel

 

Rz. 68

Die Auslegungsregel beruht auf einer angeblichen Lebenserfahrung, dass Ehegatten i.d.R. wollen, dass ein Vermächtnis erst mit dem Tod des Längerlebenden anfällt.[175] Sie greift demnach nicht ein, wenn demjenigen, der sich darauf beruft, der Beweis gelingt, dass eine der vorgenannten Varianten von den gemeinsam testierenden Ehegatten gewollt war. Bei einseitigen Kindern des Erstversterbenden kann die Auslegung ergeben, dass ein Vermächtnis des Längerlebenden um den nach dem ersten Erbfall verlangten Pflichtteil zu korrigieren ist.[176] Die Auslegungsregel des Abs. 2 greift auch ein bei Vorliegen von zwei Einzeltestamenten, wenn dann durch ein gemeinschaftliches Testament oder Erbvertrag ein Vermächtnis angeordnet wurde, welches bei Tod des Überlebenden zu erfüllen ist.[177]

[175] BGH FamRZ 1961, 432.
[177] BGH FamRZ 1960, 432.

V. "Abfindung"

 

Rz. 69

Haben die Erblasser bestimmt, dass ein von der Erbfolge ausgeschlossener Abkömmling eine Abfindung erhalten soll, deren Höhe der Überlebende bestimmt, so kann dies ein Vermächtnis des Überlebenden darstellen oder ein Zweckvermächtnis des Erstversterbenden nach § 2156 BGB, wobei nach § 317 A...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge