Rz. 10
Ist der dem Pflichtteilsberechtigten hinterlassene Erbteil mit Beschränkung oder Beschwerung i.S.v. § 2306 BGB belastet, so stellt S. 2 klar, dass der Wert der Beschränkungen und Beschwerungen im Rahmen der Berechnung des Zusatzpflichtteils nicht zum Ansatz kommt. § 2305 BGB dient also ausdrücklich nicht dem Ziel, den Pflichtteilsberechtigten vor den wirtschaftlichen Folgen von zu seinen Lasten angeordneten Beschränkungen und Beschwerungen zu befreien. Er muss dies vielmehr – unabhängig von den wirtschaftlichen Folgen – (er)tragen. Will sich der Pflichtteilsberechtigte hiervon lösen, muss er – was nach § 2306 Abs. 1 BGB seit der Erbrechtsreform ohne weiteres möglich ist – das ihm Hinterlassene ausschlagen und stattdessen seinen (ordentlichen) Pflichtteil verlangen.
Rz. 11
Der Zusatzpflichtteil stellt sich somit (rechnerisch) dar als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils abzüglich des Bruttowerts des hinterlassenen Erbteils, also ohne Abzug des Werts von etwa angeordneten Belastungen und Beschwerungen.
Rz. 12
S. 2 birgt damit für den Pflichtteilsberechtigten das Risiko, dass er im Falle der Annahme eines belasteten Erbteils im Ergebnis deutlich weniger erhält als seinen Pflichtteil (und auch weniger als er vor der Erbrechtsreform bekommen hätte). Dieses Ergebnis ist aber im Hinblick auf die (gegenüber der Rechtslage vor 2010 erweiterten) Ausschlagungsmöglichkeiten nach § 2306 Abs. 1 BGB und auch vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber eine weitestgehende Gleichstellung von pflichtteilsberechtigten Erben und pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmern erreichen wollte, durchaus angemessen.
Rz. 13
Verdeutlichen lässt sich die Systematik einschließlich der Konsequenzen der Gesetzesänderung anhand des nachfolgenden Beispiels:
Beispiel
Der verwitwete Erblasser E hinterlässt als einzigen Pflichtteilsberechtigten das Kind K. Diesem hat er testamentarisch einen Erbteil von ¼ hinterlassen. Der Nachlass hat einen Wert von 10.000 EUR. In seinem Testament hat E zu Lasten des K ein Vermächtnis zugunsten des X i.H.v. 1.000 EUR angeordnet.
Lösung nach aktueller Rechtslage (ab 1.1.2010):
K hat nach neuem Recht die Wahl, den ihm hinterlassenen Erbteil anzunehmen oder auszuschlagen.
a) |
Nimmt K den hinterlassenen Erbteil an, gelten für ihn sämtliche angeordneten Beschränkungen und Beschwerungen, insbesondere das Vermächtnis zugunsten des X. Dies gilt unabhängig davon, ob der hinterlassene Erbteil kleiner ist als der Pflichtteil. K erhält also (nach Begleichung des Vermächtnisses) einen Erbteil von 1.500 (= 2.500 EUR ./. 1.000 EUR Vermächtnis). Daneben kann er seinen Zusatzpflichtteil geltend machen, bei dessen Berechnung aber Beschränkungen und Beschwerungen außer Betracht bleiben (§ 2305 S. 2 BGB n.F.). Somit beträgt der Zusatzpflichtteil (wie nach alter Rechtslage) 2.500 EUR. Insgesamt erhält K also aus dem Nachlass 4.000 EUR (hinterlassener Erbteil abzüglich Vermächtnis zuzüglich Zusatzpflichtteil). |
b) |
Schlägt K den ihm hinterlassenen belasteten Erbteil aus, eröffnet ihm dies gem. § 2306 Abs. 1 BGB den Weg zur Geltendmachung seines ordentlichen Pflichtteils nach § 2303 BGB. Dieser beträgt die Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils, mithin die Hälfte von 10.000 EUR, also 5.000 EUR. |
Lösung nach alter Rechtslage (bis 31.12.2009):
Aus der Sicht des K gilt das Vermächtnis gem. § 2306 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. als nicht angeordnet. Der ihm hinterlassene Erbteil hat daher einen Wert von 2.500 EUR (¼ von 10.000 EUR). Der Zusatzpflichtteil nach § 2305 BGB a.F. hat ebenfalls einen Wert von 2.500 EUR (= Nachlass x ½ ./. 2.500 EUR hinterlassener Erbteil). Im Ergebnis erhält K also seinen vollen Pflichtteil i.H.v. 5.000 EUR.
Irrt sich der Pflichtteilsberechtigte über den Inhalt der maßgeblichen Bewertungsregel oder geht er irrig davon aus, dass eine Pflichtteilsgeltendmachung stets die vorherige Ausschlagung des Hinterlassenen voraussetze, stellt sich die Frage der Anfechtbarkeit einer etwa erklärten Ausschlagung. Auch wenn der BGH einen grundsätzlich unbeachtlichen Rechtsirrtum in Fällen des früheren § 2306 BGB a.F. hat genügen lassen, ist eine Anfechtungsberechtigung höchst fraglich. Einzelheiten vgl. bei § 2306 Rdn 49 ff.