Gesetzestext
(1)Ist ein als Erbe berufener Pflichtteilsberechtigter durch die Einsetzung eines Nacherben, die Ernennung eines Testamentsvollstreckers oder eine Teilungsanordnung beschränkt oder ist er mit einem Vermächtnis oder einer Auflage beschwert, so kann er den Pflichtteil verlangen, wenn er den Erbteil ausschlägt; die Ausschlagungsfrist beginnt erst, wenn der Pflichtteilsberechtigte von der Beschränkung oder der Beschwerung Kenntnis erlangt.
(2)Einer Beschränkung der Erbeinsetzung steht es gleich, wenn der Pflichtteilsberechtigte als Nacherbe eingesetzt ist.
A. Allgemeines
Rz. 1
Schon sehr früh nach Inkrafttreten des BGB wurde § 2306 BGB als inkonsequent kritisiert und als "sehr verwickelte Lösung" bezeichnet. Boehmer nannte § 2306 daher nicht ganz zu Unrecht die schwierigste Vorschrift des BGB. Der Gesetzgeber regelt hier den Fall, dass der dem Pflichtteilsberechtigten hinterlassene Erbteil mit Beschränkungen oder Beschwerungen belastet ist, also ihm nicht zur freien Verfügung steht und ihm bei wirtschaftlicher Betrachtung evtl. weniger als sein Pflichtteil verbleibt.
Rz. 2
Nach altem Recht (vor der Erbrechtsreform 2010) kam es für die Handlungsmöglichkeiten des mit einem beschränkten oder beschwerten Erbteil bedachten Pflichtteilsberechtigten darauf an, welchen Umfang der ihm hinterlassene Erbteil hatte. War er – ggf. unter Anwendung der Werttheorie – größer als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, konnte er das ihm Hinterlassene ausschlagen und stattdessen seinen Pflichtteil (i.S.v. § 2303 BGB) verlangen, Abs. 1 S. 2 a.F. Überstieg der belastete Erbteil (ohne Berücksichtigung des Werts von Beschränkungen und Beschwerungen) die Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils nicht, galten sämtliche Beschwerungen und Beschränkungen als nicht angeordnet mit der Folge, dass eine Ausschlagung dieses Erbteils gleichzeitig auch den Verlust des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs (mit Ausnahme des Zusatzpflichtteils nach § 2305 BGB) zur Folge hatte. Zusätzlich zu dem hinterlassenen Erbteil konnte der Pflichtteilsberechtigte auch den Zusatzpflichtteil nach § 2305 BGB geltend machen.
Rz. 3
Eben diese Unterscheidung war in der Praxis äußerst problematisch und führte zu erheblichen Rechtsunsicherheiten sowie Haftungsgefahren für den Rechtsberater. Der Gesetzgeber hat die – größtenteils berechtigte – Kritik der Lit. schließlich aufgenommen und § 2306 BGB im Rahmen der Erbrechtsreform 2010 deutlich vereinfacht. Nach der Neufassung der Vorschrift kann der Pflichtteilsberechtigte, dem ein mit Beschwerungen oder Beschränkungen belasteter Erbteil hinterlassen ist, diesen in jedem Fall ohne Verlust seiner Pflichtteilsansprüche ausschlagen. Der Umfang des hinterlassenen Erbteils spielt keine Rolle mehr. Es reicht vielmehr aus, dass der Erbteil belastet ist.
Gleichzeitig mit der Einführung dieses keinen weiteren Einschränkungen mehr unterliegenden Wahlrechts wurde aber der automatische Entfall der einen wertmäßig hinter dem Pflichtteil zurückbleibenden Erbteil belastenden Beschränkungen und Beschwerungen aus dem Gesetz gestrichen. Der Pflichtteilsberechtigte muss sich daher nunmehr entscheiden, ob er das ihm Hinterlassene einschließlich sämtlicher Beschränkungen und Beschwerungen annehmen oder den Erbteil insgesamt ausschlagen und seinen Pflichtteil geltend machen möchte.
§ 2306 BGB n.F. ist nach Art. 229 § 23 Abs. 4 S. 2 EGBGB auf alle Erbfälle anwendbar, die ab dem 1.1.2010 (also nach dem 31.12.2009) eintreten. Für Erbfälle vor diesem Zeitpunkt gilt hingegen noch Abs. 1 a.F., dessen Besonderheiten nachfolgend ebenfalls dargestellt werden.