Rz. 9
Die Enterbung eines näheren Abkömmlings wirkt sich auf die Pflichtteilsberechtigung entfernterer Verwandter grundsätzlich nicht aus. Denn im Falle der Enterbung fehlt es an einer gesetzlichen Vorversterbensfiktion, vielmehr steht dem näheren Abkömmling im Regelfall ein eigener Pflichtteilsanspruch zu, so dass es gerade in dieser Situation gilt, die Entstehung konkurrierender Pflichtteilsansprüche entfernterer Verwandter zu verhindern. Dennoch ging bereits in der Vergangenheit eine beachtliche Meinung davon aus, dass eine Pflichtteilsberechtigung entfernterer Verwandter auch in dieser Situation bestehe. Dieser Auffassung hat sich auch die Rspr. angeschlossen. Im Fall des BGH ging es um eine Konstellation, in der ein Enkelsohn gegenüber seinem Bruder Pflichtteilsansprüche nach der gemeinsamen Großmutter geltend machte. Dem Vater der Parteien hatte die Großmutter wirksam den Pflichtteil entzogen und den einen Enkel zu ihrem Alleinerben eingesetzt. Der BGH bejahte einen Pflichtteilsanspruch des übergangenen Enkels gegenüber seinem Bruder. Die Entscheidung ist im Ergebnis richtig, da die wirksame Pflichtteilsentziehung beim näheren Abkömmling zu einer mit einem Vorversterben – jedenfalls pflichtteilsrechtlich – vergleichbaren Situation führt und ohne eine analoge Anwendung der gesetzlichen Vorversterbensfiktion kein angemessenes Ergebnis hätte erzielt werden können.
Rz. 10
Allerdings kann diese Analogie nicht pauschal verallgemeinert werden: Ein derivativer Pflichtteilsanspruch ferner Berechtigter setzt grundsätzlich voraus, dass der enterbte Abkömmling pflichtteilsunwürdig, § 2345 Abs. 2 BGB, ist, ihm der Pflichtteil gem. §§ 2333 ff. BGB wirksam entzogen wurde oder er nach § 2346 Abs. 2 BGB auf den Pflichtteil verzichtet hat. Soweit der Pflichtteilsverzicht sich gem. § 2349 BGB auch auf die Abkömmlinge des Verzichtenden erstreckt, kommt nur eine Begünstigung anderer Stämme bzw. der Eltern des Erblassers (soweit nicht § 2350 Abs. 2 BGB dies verhindert) in Betracht. Allerdings sind die Auswirkungen eines Pflichtteilsverzichts teilweise umstritten. So wird nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass der Pflichtteilsverzicht in erster Linie der Stärkung der Testierfreiheit des Verzichtsempfängers diene, was nur bei einer Erstreckung seiner Wirkung auf Abkömmlinge erreicht wird. Andererseits können die Wirkungen des Pflichtteilsverzichts durch entsprechende Vereinbarung ohne Weiteres auf den Verzichtenden selbst beschränkt werden. Derartige Parteivereinbarungen sind dann jedenfalls auch im Rahmen der Anwendung von § 2309 BGB zu beachten. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob und inwieweit der näher verwandte Pflichtteilsberechtigte die Möglichkeit haben soll, mit Wirkung auch für entferntere Verwandte über sein (bzw. deren) Pflichtteilsrecht zu disponieren. Diese Frage beantwortet § 2349 BGB für die Abkömmlinge des Verzichtenden mit einem klaren "ja". Der Verzicht erstreckt sich – soweit nicht abweichend vereinbart – auch auf die Abkömmlinge. Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent, denselben Rechtsgedanken – erst recht – auf andere Verwandte anzuwenden und im Falle des Pflichtteilsverzichts der näheren Verwandten von einer grundsätzlichen Unanwendbarkeit von § 2309 BGB und somit von einem Pflichtteilsausschluss auch der entfernteren Verwandten auszugehen. Im Übrigen handelt es sich beim Pflichtteilsverzicht um einen "beschränkten Erbverzicht" (§ 2346 Abs. 2 BGB), der gem. § 2310 S. 2 BGB bei der Bestimmung der Pflichtteilsquoten von vornherein unbeachtlich ist.
Rz. 11
Eine Pflichtteilsbeschränkung in guter Absicht nach § 2338 BGB wirkt sich auf die Anwendung von § 2309 BGB nicht aus. Auch wenn der Betroffene enterbt ist und seinen Pflichtteil nicht in vollem Umfang geltend machen kann, können entferntere Verwandte hieraus keine Rechte ableiten.