Rz. 74
Diese Sichtweise entspricht auch den Feststellungen des BVerfG sowie den Erwägungen des BGH, wenn er statt auf den unmittelbar nach dem Erbfall erzielbaren Veräußerungserlös auf den "wahren inneren Wert" von Nachlassgegenständen abgestellt hat, um auf diese Weise die Zugrundelegung von aktuellen Marktpreisen, die nicht auf der Grundlage eines funktionierenden freien Marktes zustande gekommen waren, zu vermeiden.
Im Urteil v. 25.3.1954 hält der BGH beispielsweise den unter Berücksichtigung der Bestimmungen über Stoppreise im Grundstücksverkehr zustande gekommenen tatsächlichen Verkaufspreis eines Grundstücks nicht für maßgeblich und begründet dies damit, dass der Wert i.S.d. § 2311 BGB "in normalen Zeiten" dem Verkaufswert entspreche, aber nicht notwendig mit ihm übereinstimmen müsse. Wenn nämlich kein funktionierender Markt existiere, insbesondere wenn Höchstpreise bestünden, entspreche es "der allgemeinen Verkehrsanschauung, dass der innere Wert des Gegenstands höher ist, als es durch den Höchstpreis ausgedrückt wird". Bei der Ermittlung des inneren Werts muss in dieser Situation notwendigerweise unterstellt werden, dass der jeweilige Nachlassgegenstand (jedenfalls vorerst) nicht veräußert, sondern auf andere Weise genutzt wird.
Rz. 75
Solche Ausnahmen, sog. Marktanomalien, sah die Rechtsprechung in der Vergangenheit z.B. anlässlich des Zusammenbruchs des Berliner Grundstücksmarktes aufgrund des Chruschtschow-Ultimatums oder in Zeiten der Inflation. Dasselbe Prinzip soll zwar grundsätzlich auch für sog. Schwarzmarktpreise gelten. Zu Recht wendet die Rechtsprechung die Denkfigur des inneren Werts stets nur zugunsten, nie aber zum Nachteil des Pflichtteilsberechtigten an.
Rz. 76
Teilweise hat die Rechtsprechung sogar darauf abgestellt, ob auf dem relevanten Markt eine (vorübergehende) Flaute herrsche. Soweit der Erbe im Hinblick auf die ihm zur Verfügung stehenden Barmittel nicht auf einen zeitnahen Verkauf der Nachlassgegenstände angewiesen sei, sei auch hier anstatt auf den aktuell erzielbaren Verkaufspreis auf den inneren Wert abzuheben. Das ist aber im Ergebnis nicht mit dem Stichtagsprinzip vereinbar. Zu lösen ist das Problem vielmehr anhand der Frage nach dem wirtschaftlich sinnvollsten Verwertungsszenario.
Rz. 77
Die seitens des Gesetzgebers intendierte Mindestbeteiligung des Pflichtteilsberechtigten am Nachlass kann im Ergebnis nur dann erreicht werden, wenn der Pflichtteilsberechnung ein Wert zugrunde gelegt wird, in den alle für die realitätsgerechte wirtschaftliche Ertragsfähigkeit des jeweiligen Vermögensgegenstands maßgeblichen Faktoren eingeflossen sind.
Rz. 78
Soweit keine sog. Marktanomalien bestehen und Nachlassgegenstände tatsächlich verkauft werden, führt die Praxis des BGH, der Wertbestimmung die in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Erbfall realisierten Veräußerungserlöse zugrunde zu legen, i.d.R. zu zutreffenden Ergebnissen. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Verkauf die sinnvollste Verwertungsalternative bildet bzw. andere Verwertungsalternativen keinen höheren Wert rechtfertigen würden.
Die Begründung hierfür liegt aber nicht etwa darin, dass der tatsächlich erzielte Verkaufserlös ein besserer Wertmaßstab sei als der innere wahre Wert, sondern folgt vielmehr aus dem Umstand, dass der Verkaufserlös (zufällig) dem wahren Wert entspricht.