Rz. 365
Das Pflichtteilsrecht nach § 2303 BGB ist im Grunde Ausfluss der verfassungsrechtlichen Garantie einer Mindestbeteiligung des Pflichtteilsberechtigten am Nachlass des Erblassers (Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG). Dabei zielt der Pflichtteilsanspruch, wie bereits ausgeführt, darauf ab, den Pflichtteilsberechtigten wirtschaftlich (in Geld) so zu stellen, als sei er mit seiner Pflichtteilsquote selbst Erbe geworden.
Rz. 366
Wäre der Pflichtteilsberechtigte entsprechend seiner Pflichtteilsquote Eigentümer des steuerverstrickten Nachlassvermögens geworden, wäre er an den stillen Reserven der entsprechenden Nachlassgegenstände beteiligt und müsste sie im Verkaufsfall anteilig versteuern.
Da das Pflichtteilsrecht lediglich eine Mindestbeteiligung garantiert, dem Berechtigten aber keinen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber der Situation, dass er mit seiner Pflichtteilsquote (anteilig) Gesamtrechtsnachfolger geworden wäre, verschaffen soll, erscheint es konsequent, die fiktive/latente Steuer wenigstens in der Höhe zu berücksichtigen, in der sie beim (konkreten) Pflichtteilsberechtigten anfallen würde, wenn er mit seiner Pflichtteilsquote geerbt hätte. Dies gilt umso mehr, wenn (aufgrund normativer Wertung oder tatsächlich) der Bewertung ein Verkaufsszenario zugrunde zu legen ist.
Rz. 367
Vor diesem Hintergrund können (abgesehen vom ohnehin geltenden Konzept des idealen Erben) auch besondere persönliche Eigenschaften des (konkreten) Erben, die eine (gegenüber den Verhältnissen beim Pflichtteilsberechtigten) nur geringere Besteuerung zur Folge haben oder einen Besteuerungszugriff vollständig vermeiden (beispielsweise Gemeinnützigkeit), für die Bemessung der fiktiven/latenten Steuer keine Rolle spielen. Dies wäre vom verfassungsrechtlich gerechtfertigten Schutzzweck des Pflichtteilsrechts m.E. nicht gedeckt.
Rz. 368
Wenn nach dem soeben Gesagten die steuerlichen Verhältnisse des (konkreten) Pflichtteilsberechtigten die Grundlage für die Ermittlung des (ihm gegenüber) anzusetzenden Mindestmaßes der fiktiven/latenten Steuer bilden, muss ihm hinsichtlich des Ansatzes von Freibeträgen, der Ausübung steuerlicher Wahlrechte etc. zugebilligt werden, dass diese im Rahmen der fiktiven Steuerberechnung in maximal möglichem Umfang berücksichtigt werden. Denn wäre der Pflichtteilsberechtigte nicht nur Gläubiger eines schuldrechtlichen Anspruchs, sondern tatsächlich Erbe, hätte er die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Steuervorteile (unabhängig davon, ob dies tatsächlich wirtschaftlich sinnvoll wäre oder nicht) ebenfalls. Eine Regel, der zufolge sich der Pflichtteilsberechtigte (wie ein idealer Erbe) ausschließlich wirtschaftlich sinnvoll zu verhalten hätte, besteht insoweit nicht.
Rz. 369
Davon abgesehen kommt es aber auf die steuerlichen Verhältnisse, insbesondere auch das übrige Einkommen, im Veranlagungszeitraum, in den der Erbfall fällt, an. Typisierungen oder Abweichungen hiervon sind nicht geboten; denn für den Fall, dass der Pflichtteilsberechtigte mit seiner Pflichtteilsquote Erbe geworden wäre, würden derartige Typisierungen ebenfalls nicht eingreifen.
Rz. 370
Wie gesehen, muss sich der Mindestansatz der fiktiven/latenten Steuer vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der §§ 2303 ff. BGB an den individuellen steuerlichen Verhältnissen des einzelnen (jeweiligen) Pflichtteilsberechtigten orientieren.
Denkt man diesen Gedanken konsequent weiter, ergibt sich, dass die steuerlichen Verhältnisse des Pflichtteilsberechtigten nicht nur das Mindest-, sondern auch das Höchstmaß der ihm entgegenzuhaltenden fiktiven/latenten Steuern definieren. Denn jede andere Vorgehenswiese könnte nicht gewährleisten, dass der Pflichtteilsberechtigte tatsächlich wirtschaftlich so gestellt wird, als wäre er mit seiner Pflichtteilsquote Erbe geworden.
Eine wirtschaftliche Überforderung des pflichtteilsbelasteten Erben ist hiermit grundsätzlich nicht verbunden und wäre im Übrigen systembedingt hinzunehmen, da der Pflichtteilsberechtigte nach dem dem Pflichtteilsrecht zugrunde liegenden Konzept schutzwürdiger ist als der gewillkürte Erbe. Außerdem hat dieser die Möglichkeit, entweder die Erbschaft auszuschlagen oder Maßnahmen zur Beschränkung seiner Haftung zu ergreifen, so dass ein Rückgriff auf sein Eigenvermögen auch in extrem gelagerten Fällen vermieden werden könnte.