Rz. 171
Bislang sind nur sehr wenige höchstrichterliche Entscheidungen ergangen, die sich mit Fragen der Unternehmenswertermittlung zur Bemessung von Pflichtteils- oder Pflichtteilsergänzungsansprüchen beschäftigen.
Im Hinblick auf das Alter dieser Entscheidungen darf auch nicht übersehen werden, dass sich mittlerweile die Betriebswirtschaftslehre gerade im Bereich der Unternehmensbewertung sehr stark weiterentwickelt hat. Galten früher der Rückgriff auf den Substanzwert oder die Bildung eines Mittelwerts aus Substanz- und Ertragswert noch durchaus als "lege artis", nehmen heute die ertrags- bzw. cashflow-orientierten Bewertungsverfahren eine beherrschende Stellung ein. Auch der BGH gibt heute der Ertragswertmethode eindeutig den Vorzug, weshalb Substanz- und Mittelwertmethode wohl endgültig – auch aus Sicht der Rechtsprechung – als überholt angesehen werden können.
Rz. 172
Von besonderem Interesse ist – trotz ihres Alters – die Entscheidung vom 17.1.1973, in deren Leitsatz der BGH ausführt, der Liquidationswert eines zur Zeit des Erbfalls ertraglosen Unternehmens könne der Wertermittlung grundsätzlich nicht zugrunde gelegt werden, wenn das Unternehmen durch den Erben fortgeführt werde. Zur Begründung führte er aus, dass bei Fortführung des Unternehmens der Liquidationswert lediglich eine theoretische Größe sei, die aber tatsächlich nicht wirksam werde. Daher sei es nicht gerechtfertigt, den Liquidationswert im Verhältnis zu Dritten, namentlich zum Pflichtteilsberechtigten, der Bewertung zugrunde zu legen. Eingeschränkt wird diese Aussage nur für Fälle, in denen eine Fortführung durch den Erben als unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten widersinnig angesehen werden müsse.
Rz. 173
Sowohl die Entscheidung als auch ihre Begründung sind in der Literatur zu Recht auf heftigen Widerstand gestoßen. Zutreffend führt beispielsweise Dieckmann aus, dass es wohl richtiger sei, den Pflichtteilsberechtigten nicht mit den Folgen zu belasten, die unökonomisches oder spekulatives Verhalten des Erben auslösen. Dem kann im Hinblick auf die Bedeutung des Stichtagsprinzips nur beigepflichtet werden.
Rz. 174
Nach heute wohl herrschender Ansicht in der Literatur bildet der Liquidationswert grundsätzlich die Untergrenze des für die Pflichtteilsberechnung anzusetzenden Unternehmenswerts. Die ursprünglich gesehene Ausnahme für den Fall, dass der Erbe zur Fortführung des Unternehmens verpflichtet ist, hat der BGH zwischenzeitlich relativiert: Soweit am Stichtag kein positiver Ertragswert vorhanden gewesen sei, dürfe der Tatrichter auch bei einer erst drei Jahre später erfolgenden Liquidation den auf den Stichtag geschätzten Liquidationswert den Berechnungen zur Höhe des Pflichtteils(ergänzungs)anspruchs zugrunde legen.
Rz. 175
Die juristische Literatur greift in Ermangelung weiterer Urteile vielfach auf zum Zugewinnausgleich ergangene Entscheidungen und in diesem Zusammenhang getroffene Aussagen zurück, deren Gültigkeit auch für die Wertermittlung im Rahmen des Pflichtteilsrechts als selbstverständlich unterstellt wird. Der BGH geht offenbar ebenfalls von der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Situationen bei Zugewinnausgleichs- und Pflichtteilsanspruch aus. Ob diese Vergleichbarkeit tatsächlich besteht, erscheint aber zweifelhaft:
Rz. 176
Zuzugeben ist sicherlich, dass Abweichungen beim Bewertungsziel wohl nicht bestehen. Vor dem Hintergrund von § 1378 Abs. 1 BGB (ein Zugewinnausgleichsanspruch besteht nur dann, wenn der Zugewinn eines Ehegatten den des anderen übersteigt) besteht das Bewertungsziel (auch) beim Zugewinnausgleich in der Ermittlung des vollen, wirklichen Werts. Ebenso gilt in beiden Bereichen das Stichtagsprinzip. Denn für die Bestimmung des Anfangsvermögens kommt es nach § 1374 Abs. 1 BGB auf den Zeitpunkt des Beginns des Güterstands an, für die Bewertung des Endvermögens nach § 1372 BGB auf den Zeitpunkt der Beendigung des Güterstands oder den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags (§ 1384 BGB). Für einen vorzeitigen Zugewinnausgleich definiert § 1387 BGB als Stichtag den Zeitpunkt der Erhebung der Klage auf vorzeitigen Ausgleich.
Rz. 177
Allerdings sind die Ausgangssituationen beim lebzeitigen Zugewinnausgleich und beim Pflichtteil sowie beim Zugewinnausgleich i.S.d. § 1371 Abs. 2 und 3 BGB vollkommen unterschiedlich. Denn in den beiden zuletzt genannten Fällen ist der Stichtag der Todestag des Erblassers/Unternehmer-Ehegatten. Dieser markiert nicht nur den (unternehmerisch nicht weiter bedeutsamen) Bewertungszeitpunkt, sondern hat (wegen des Wegfalls des Unternehmers) auch erheblichen Einfluss auf die Bewertung als solche.
Rz. 178
Vor diesem Hintergrund ist bei der Anwendung zum Zugewinnausgleich gewonnener Erkenntnisse auf pflichtteilsrechtlich veranlasste Unternehmensbewertungen stets darauf zu achten, ob sich aus dem Tod des bisherigen Unternehmers nicht maßgebliche Unterschiede hinsichtlich des verfolgten Bewertungsziels ergeben...