aa) Konkreter Erbe vs. idealer Erbe
Rz. 361
Das Thema der fiktiven Einkommensteuerbelastungen spielt nicht nur pflichtteilsrechtlich eine Rolle; viel prominenter ist es in der jüngeren Vergangenheit im Bereich des Zugewinnausgleichs vom BGH diskutiert worden.
Auch hier legt die Rechtsprechung zu Bewertungszwecken ein Veräußerungsszenario zugrunde, so dass veräußerungsbedingte Steuerbelastungen zu berücksichtigen sind. Der wesentliche Unterschied der Situation des lebzeitigen Zugewinnausgleichs gegenüber der Pflichtteilsgeltendmachung besteht jedoch darin, dass für die Steuerberechnung beim Zugewinn auf die konkreten steuerlichen Verhältnisse der Eheleute abgestellt werden kann bzw. muss.
Im Pflichtteilsrecht ist das leider nicht so einfach. Denn hier kommt es prinzipiell nicht auf die tatsächlichen individuellen Verhältnisse der Beteiligten an, sondern vielmehr darauf, wie sich die Besteuerung des Nachlassvermögens in der Hand von jedermann, also des idealen Erben, darstellen würde.
bb) Steuerliches Profil des idealen Erben
(1) Grundsätzliches
Rz. 362
Wie die steuerlichen Verhältnisse des idealen Erben zu bestimmen sind, hat die Rechtsprechung bislang nicht einheitlich entschieden. Klare Vorgaben hierzu existieren (noch) nicht.
Insofern stellt sich zunächst die Frage nach dem anzuwendenden Steuersatz – aber auch nach anderen persönlichen (Besteuerungs-)Merkmalen.
Im Bereich des Güterrechts (Zugewinnausgleich) wird vorgeschlagen, jedenfalls bei Einzelunternehmen und Personengesellschaften zur Vermeidung großer praktischer Probleme, auf einen standardisierten Steuersatz i.H.v. 35 % zurückzugreifen.
Derartige Pauschalierungen erscheinen für Körperschaften plausibel, da bei deren Besteuerung ein einheitlicher Steuersatz die Regel ist. Für natürliche Personen steht dieser allerdings im Widerspruch zu dem progressiven, die individuelle Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen berücksichtigenden Steuersatz. Mit steigendem Einkommen steigt auch der Steuersatz. Eine einheitliche flat-tax-Besteuerung hat sich in der Bundesrepublik (abgesehen von der Abgeltungssteuer nach § 32d EStG) gerade nicht durchgesetzt und würde im Zuge der Pflichtteilsberechnung – dogmatisch – zu unrichtigen Ergebnissen führen.
Dessen ungeachtet könnten Praktikabilitätserwägungen u.U. für eine solche Herangehensweise sprechen. Das gilt insbesondere auch für Einkünfte nach § 20 EStG, die der Abgeltungssteuer unterliegen.
Rz. 363
Eine klare Linie für die Lösung des anstehenden Problems ist bislang nicht erkennbar. Festzuhalten ist an dieser Stelle jedenfalls, dass jegliche Pauschalierung mit einer gewissen Willkür verbunden wäre.
Genau diese Willkür verträgt sich aber nicht mit dem Grundgedanken des Pflichtteilsrechts. Denn vor der Willkür des Erblassers, seine nächsten Angehörigen enterben zu können, soll der Pflichtteilsberechtigte geschützt werden. Es ergäbe wenig Sinn, ihn nun im Rahmen der im Pflichtteilsrecht verkörperten Korrekturbemühungen einer anderen Art von Willkür auszusetzen.
(2) Zugrunde zu legendes Einkommen und sonstige Besteuerungsmerkmale
(a) Abstellen auf den Erben?
Rz. 364
Das gilt auch für das mögliche Abstellen auf den konkreten Erben und seine individuellen Besteuerungsmerkmale, da in diesem Fall der Erblasser durch die Auswahl des/der Erben mittelbar die Höhe des Pflichtteils beeinflussen könnte.
Vergleichsweise einfach zu lösen sind dessen ungeachtet diejenigen Fälle, in denen der die fiktive/latente Einkommensteuer auslösende Veräußerungsgewinn so hoch ist, dass der Erbe allein wegen dieser Einkünfte dem Spitzensteuersatz unterliegt.
Ohnehin ist festzuhalten, dass die zugrunde zu legenden Einkünfte in ihrem Mindestmaß immer durch den (fiktiven) Veräußerungsgewinn bestimmt werden.
(b) Abstellen auf den Pflichtteilsberechtigten
Rz. 365
Das Pflichtteilsrecht nach § 2303 BGB ist im Grunde Ausfluss der verfassungsrechtlichen Garantie einer Mindestbeteiligung des Pflichtteilsberechtigten am Nachlass des Erblassers (Art. 14 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG). Dabei zielt der Pflichtteilsanspruch, wie bereits ausgeführt, darauf ab, den Pflichtteilsberechtigten wirtschaftlich (in Geld) so zu stellen, als sei er mit seiner Pflichtteilsquote selbst Erbe geworden.
Rz. 366
Wäre der Pflichtteilsberechtigte entsprechend seiner Pflichtteilsquote Eigentümer des steuerverstrickten Nachlassvermögens geworden, wäre er an den stillen Reserven der entsprechenden Nachlassgegenstände beteiligt und müsste sie im Verkaufsfall anteilig versteuern.
Da das Pflichtteilsrecht lediglich eine Mindestbeteiligung garantiert, dem Berechtigten aber keinen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber der Situation, dass er mit seiner P...