(1) Tatsächlicher Erbe vs. "idealer Erbe"
Rz. 64
Mithin stellt sich die Frage, welches Verwertungsszenario der Gesetzgeber stattdessen im Auge hatte. Denn unbestritten und unbestreitbar ist der Wert einer Sache keine absolute Größe. Er ist vielmehr relativ und wird durch die Beziehungen des Bewertungsgegenstands zur Umwelt, insbesondere aber auch durch die Verwendungsabsichten des jeweiligen Eigentümers geprägt.
Rz. 65
Vor diesem Hintergrund wird teilweise vertreten, dass die konkreten Verwendungsabsichten des Erben auf die Bewertung durchschlügen und daher eine "subjektivierte Nachlassbewertung" angebracht sei. Der Pflichtteilsberechtigte solle lediglich an dem Wert teilhaben, der sich aufgrund der subjektiven Verwendungsentscheidung des Erben in dessen Hand realisiert.
Rz. 66
Dies kann jedoch bereits aus systematischen Gründen nicht richtig sein. Denn dem Wesen des Pflichtteilsrechts, dem Berechtigten eine Mindestbeteiligung am Nachlass zu sichern, würde es widersprechen, wenn der Erbe (bzw. mittelbar sogar der Erblasser durch die Auswahl des Erben) die Möglichkeit hätte, das Maß dieser Mindestbeteiligung aktiv zu beeinflussen.
Rz. 67
Außerdem gebietet es das Stichtagsprinzip, bei der Bewertung auf die Situation in der logischen Sekunde des Todes des Erblassers abzustellen. Konkrete Entscheidungen des Erben, wie der Nachlass weiterverwendet werden soll, können jedoch – selbst wenn sich der Erbe bereits zu Lebzeiten des Erblassers seine Gedanken gemacht hat – erst nach dem Anfall der Erbschaft manifest werden. Ihre Berücksichtigung bei der Bewertung würde daher einen Verstoß gegen das Stichtagsprinzip des § 2311 BGB darstellen.
Rz. 68
Da die Frage der weiteren Verwendung offenbar erheblichen Einfluss auf die den einzelnen Nachlassgegenständen beizulegenden Werte hat, bedarf sie einer normativen, allgemeingültigen Kriterien folgenden Definition, anhand derer die Frage der (für Bewertungszwecke) zu unterstellenden Verwendung des Nachlasses beantwortet werden kann.
Rz. 69
Den Ausgangspunkt der Überlegung muss dabei der Anspruch des historischen Gesetzgebers bilden, also die Intention, den Pflichtteilsberechtigten (in Geld) wirtschaftlich so zu stellen, als wäre er mit seiner Pflichtteilsquote Erbe geworden.
Das wird, einen wirtschaftlich überlegt und sinnvoll handelnden Pflichtteilsberechtigten vorausgesetzt, nur dann erreicht, wenn (auch) dem Erben (unabhängig von der konkreten Person und deren persönlichen Vorlieben und Absichten) ein wirtschaftlich sinnvolles Verhalten unterstellt wird. Das bedeutet für die pflichtteilsrechtliche Nachlassbewertung, dass stets die wirtschaftlich sinnvollste, also die den höchsten (langfristig erzielbaren) Gewinn versprechende Verwertungsalternative – bezogen auf die einzelnen Nachlassgegenstände – zugrunde zu legen ist. Im Ergebnis spielt also die konkrete Person des Erben für die Bewertung keine Rolle. Maßgeblich ist vielmehr, welcher Wert dem Nachlass in der Hand eines "idealen Erben", oder anders gewendet, in der Hand von "jedermann" zukäme.
Rz. 70
Soweit in diesem Zusammenhang die Frage nach dem wirtschaftlich sinnvollsten Verwertungsszenario zu beantworten ist, kann diese auch vom Liquiditätsbedarf zur Abwicklung des Nachlasses, insbesondere zur Begleichung der Pflichtteilsverbindlichkeiten, beeinflusst werden. Auch insoweit muss wohl davon ausgegangen werden, dass der ideale Erbe außer dem Nachlass kein einzusetzendes Vermögen besitzt. Für diese Sichtweise spricht insbesondere die Ausgestaltung des Pflichtteilsanspruchs als Nachlassverbindlichkeit sowie die in §§ 2059, 2061 ff. BGB gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, die Haftung (auch für den Pflichtteil) auf den Nachlass zu beschränken.