Rz. 90
Hinsichtlich der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt eine zeitnahe Veräußerung noch angenommen werden kann, liegt eine abschließende und allgemeingültige Entscheidung durch die Rechtsprechung bislang nicht vor.
Vielmehr besteht (insbesondere zu Grundstücksverkäufen) eine relativ große Bandbreite von Verkaufszeitpunkten, die in der Vergangenheit für ausreichend zeitnah zum Erbfall gehalten wurden, so z.B. sechs Monate, sieben Monate, ein Jahr, 28 Monate und sogar fünf Jahre (abgelehnt aber für einen Verkaufsfall nach drei Jahren). In einem Einzelfall wurde sogar sechseinhalb Jahre nach dem Stichtag noch ein ausreichender zeitlicher Zusammenhang angenommen.
Als gesichert wird man annehmen müssen, dass Veräußerungen binnen eines Jahres nach dem Stichtag auf jeden Fall noch als zeitnah gelten (dies ergibt sich bereits aus § 11 Abs. 2 S. 2 BewG). Diese Rechtsprechung ist seitens der Literatur zu Recht heftiger Kritik ausgesetzt: Nach der dargestellten Definition entspricht der tatsächlich erzielte Veräußerungspreis nämlich nur dann dem gemeinen Wert eines Nachlassgegenstands (und dieser ist das Ziel der Bewertung), wenn er den Wert darstellt, der sich im Zusammenwirken der preisbestimmenden Faktoren eines funktionierenden Marktes gebildet hat. Von dieser (also seiner eigenen) Definition löst sich aber der BGH, wenn er auch im Rahmen von Zwangsversteigerungs- oder Insolvenzverfahren zustande gekommene Verkaufserlöse zur Ermittlung des wahren Werts heranzieht. Gerade Veräußerungen im Rahmen derartiger Verfahren zeichnen sich in der Praxis dadurch aus, dass nur deutlich unter dem Verkehrswert liegende Erlöse erzielt werden können. Der tatsächlich erzielte Erlös repräsentiert in diesen Fällen gerade nicht den wirklichen Verkehrswert des Nachlassgegenstands. Hier ist daher einer Schätzung – die wenigstens die Chance auf eine zutreffende Wertbestimmung bietet – der Vorzug zu geben.
Rz. 91
Auch die vom BGH noch als zeitnah angenommene Fünf-Jahres-Frist ist für die Mehrzahl der Fälle ungeeignet. In diesem Zusammenhang weist Mayer zu Recht darauf hin, dass die vom BGH gemachten Einschränkungen (keine wesentlichen Veränderungen der Marktverhältnisse und der Bausubstanz) ein erhebliches Streitpotenzial begründen und durch eine Verallgemeinerung der zitierten Entscheidung die Möglichkeit eröffnet wird, auch nach Ablauf der Verjährungsfrist eine Art Nachabfindung zu verlangen. Im Übrigen scheitert die Heranziehung eines fünf Jahre nach dem Erbfall erzielten Veräußerungserlöses in der Mehrzahl der Fälle bereits an den vom BGH selbst für die Grundstücksbewertung aufgestellten Regeln. Denn Voraussetzung für die Nachlassbewertung anhand eines Verkaufserlöses ist stets, dass
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seit dem Erbfall eine wesentliche Veränderung der Marktverhältnisse nicht eingetreten ist, |
2. |
wesentliche Veränderungen in der Bausubstanz von den Erben nicht dargelegt werden können und |
3. |
außergewöhnliche (Markt-)Verhältnisse nicht vorliegen. |
Dass diese Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, dürfte in der Praxis kaum vorkommen.