Rz. 163
Besondere Probleme sind mit der Bewertung eines Miteigentumsanteils an einer Immobilie verbunden. Während der weit überwiegende Teil der Literatur für die Bewertung von (einzelnen) Miteigentumsanteilen an Immobilien einen deutlichen Abschlag vom anteilig auf den einzelnen Miteigentümer entfallenden Verkehrswert der Gesamtimmobilie für erforderlich hält, hat der BGH im Jahr 2015 (überraschenderweise) den gegenteiligen Standpunkt eingenommen.
Rz. 164
Seiner Meinung nach ist jedenfalls dann, wenn der (tatsächliche) Erbe vom Erblasser eine ideelle Miteigentumshälfte an einem Grundstück erhält, dessen anderer Miteigentümer er selbst ist, der durch den Erbfall erworbene Miteigentumsanteil mit dem anteiligen Verkehrswert der Immobilie anzusetzen. Eine Verwertung des ererbten Miteigentumsanteils sei bei dieser Sachlage problemlos möglich. Gründe, die es rechtfertigen könnten, einen Abschlag vorzunehmen, konnte der BGH nicht erkennen. Vielmehr weist er darauf hin, dass im Falle der Vornahme eines Wertabschlags dem Erben im Moment des Erbfalls der volle Wert der ideellen Miteigentumshälfte im Sinne des hälftigen Verkehrswerts zufließe, weil er als Alleineigentümer den vollen Verkehrswert realisieren könne, der Pflichtteilsberechtigte hieran aber nicht angemessen beteiligt würde.
Rz. 165
Sowohl das Ergebnis als auch die Begründung widersprechen sämtlichen Grundsätzen, die der BGH selbst bislang zutreffenderweise der pflichtteilsrechtlichen Nachlassbewertung zugrunde gelegt hat, insbesondere auch dem Stichtagsprinzip:
Der BGH geht, wie dargestellt, davon aus, dass der Nachlass so zu bewerten sei, als ob er im Zeitpunkt des Erbfalls versilbert, also in Geld umgesetzt würde. Bezogen auf den zum Nachlass gehörenden Miteigentumsanteil des Erblassers (nicht bezogen auf die Immobilie insgesamt) stellt sich zunächst die Frage, ob es für diesen überhaupt einen funktionierenden Markt gäbe und – wenn ja – welcher Preis auf diesem erzielbar wäre. Außer dem anderen Miteigentümer käme wohl realistischerweise kaum ein Erwerber in Betracht. Vor diesem Hintergrund ist gerade nicht damit zu rechnen, dass der anteilige Verkehrswert der Gesamtimmobilie erzielt werden könnte.
Rz. 166
Außerdem hat der BGH in der Vergangenheit zu Recht betont, dass es für die Nachlassbewertung gerade nicht auf die Person des konkreten Erben ankommen könne, sondern vielmehr die Frage zu beantworten sei, welchen Wert der Nachlass bzw. ein einzelner Nachlassgegenstand "in der Hand jedes Erben haben würde". Auch von diesem Grundsatz weicht die in Rede stehende Entscheidung dramatisch ab. Die Bewertung des Miteigentumsanteils mit dem anteiligen Verkehrswert der Gesamtimmobilie erfolgt gerade im Hinblick auf die Person des konkreten Erben.
Rz. 167
Auch mit dem Petitum des Gesetzgebers, der Pflichtteilsberechtigte sei wirtschaftlich so zu stellen, als ob er mit seiner Pflichtteilsquote Erbe geworden wäre, ist dies nicht vereinbar. Im entschiedenen Fall handelte es sich bei dem Erben um den Lebensgefährten der Erblasserin, beim Pflichtteilsberechtigten um ihr einziges Kind. Wäre dieses tatsächlich – mit welcher Quote auch immer – Miteigentümer der Immobilie geworden, hätte man wohl nicht nur über einen Abschlag vom quotalen Wert des vererbten Miteigentumsanteils nachdenken müssen, sondern auch über die Wertminderung des dem Erben von vornherein gehörenden Miteigentumsanteils. Denn Uneinigkeit unter den beiden Miteigentümern hätte sicher sowohl eine Minderung der praktischen Nutzbarkeit (insbesondere im Fall der Selbstnutzung durch einen Miteigentümer) als auch der wirtschaftlichen Verwertbarkeit (durch Verkauf) zur Folge.
Rz. 168
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass für pflichtteilsrechtliche Zwecke mit dem Erbfall durch Konfusion oder Konsolidation erloschene Rechtsverhältnisse als nicht erloschen gelten. Im Entscheidungsfall fielen durch den Erbfall (zufällig) beide Miteigentumsanteile in einer Hand zusammen, das bis dato bestehende Miteigentumsverhältnis endete dadurch (faktisch). Dies muss im Rahmen der pflichtteilsrechtlichen Nachlassbewertung entsprechend den zu Konfusion und Konsolidation geltenden Grundsätzen fiktiv "ausgeblendet" werden.