1. Zuwendungen, die ausgleichungs- und anrechnungspflichtig sind (Abs. 4)
Rz. 17
Abs. 4 bestimmt, dass eine ausgleichungspflichtige Zuwendung, die zugleich nach § 2315 BGB anrechnungspflichtig ist, nur mit der Hälfte des Wertes auf den Pflichtteil anzurechnen ist. Es ist somit zunächst das Ausgleichungsverfahren durchzuführen. Im Anschluss erfolgt die Berechnung des Pflichtteils unter Anrechnung des hälftigen Zuwendungswertes. Bei der Berechnung des Pflichtteils wird also zunächst der Pflichtteil nach Abs. 1 errechnet. Von dem so ermittelten Ausgleichungspflichtteil ist dann die anrechnungspflichtige Zuwendung hälftig in Abzug zu bringen.
Rz. 18
Nur im Fall der gesetzlichen Erbfolge führt die Ausgleichung von Vorempfängen zur Gleichstellung aller Abkömmlinge. Die Ausgleichung im Pflichtteilsrecht erreicht dieses Ziel nicht, da den eingesetzten Abkömmlingen die Hälfte des Wertes ihres Vorempfangs ungekürzt verbleibt. Die gleichmäßige Behandlung seiner Abkömmlinge kann der Erblasser erreichen, indem er für eine ausgleichungspflichtige Zuwendung gleichzeitig eine Anrechnungspflicht anordnet, Abs. 4.
Beispiel*
Erblasser E hinterlässt seine Kinder A und B; der Nachlass hat einen Wert von 20.000 EUR. A hat eine ausgleichungspflichtige Zuwendung i.H.v. 8.000 EUR und B i.H.v. 2.000 EUR erhalten. Beide Zuwendungen sind zugleich auf den Pflichtteil anzurechnen. Zum Alleinerben ist der Freund F eingesetzt.
Berechnung:
(1.) Bildung des Ausgleichungsnachlasses: 20.000 EUR + 8.000 EUR + 2.000 EUR = 30.000 EUR.
(2.) Ausgleichungsquote beträgt ½; es ermittelt sich mithin ein Ausgleichungserbteil für A von 15.000 EUR – Vorempfang i.H.v. 8.000 EUR = 7.000 EUR.
Ausgleichungspflichtteil für A: 7.000 EUR : 2 = 3.500 EUR – (8.000 EUR : 2) = 0.
Ausgleichungspflichtteil des B:
Ausgleichungsnachlass: 20.000 EUR + 8.000 EUR + 2.000 EUR = 30.000 EUR
Ausgleichungserbquote = ½
Ausgleichungserbteil: 15.000 EUR – 2.000 EUR = 13.000 EUR
Ausgleichungspflichtteil: 13.000 EUR : 2 = 6.500 EUR.
6.500 EUR – (2.000 EUR : 2) = 5.500 EUR
B erhält einen Pflichtteil i.H.v. 5.500 EUR.
Kombination von Ausgleichung und Anrechnung bewirkt neben der Gleichstellung der Abkömmlinge eine Entlastung des zur Zahlung des Pflichtteils verpflichteten Erben. Im Beispielfall beträgt die Pflichtteilslast für F nur 5.500 EUR statt 10.000 EUR.
* Kerscher/Riedel/Lenz, Pflichtteilsrecht, § 8 Rn 53.
Rz. 19
Erfolgt eine Zuwendung "im Wege vorweggenommener Erbfolge unentgeltlich", ist für die Pflichtteilsberechnung im Auslegungsweg zu ermitteln, ob der Erblasser damit eine Ausgleichung gem. §§ 2316 Abs. 1, 2050 Abs. 3 BGB, eine Anrechnung gem. § 2315 Abs. 1 BGB oder kumulativ Ausgleichung und Anrechnung gem. Abs. 4 anordnen wollte. Ausschlaggebend für den Willen des Erblassers ist, ob mit seiner Zuwendung zugleich auch eine Enterbung des Empfängers mit bloßer Pflichtteilsberechtigung festgelegt (Anrechnung) oder aber nur klargestellt werden sollte, dass der Empfänger lediglich zeitlich vorgezogen bedacht wird, es im Übrigen aber bei den rechtlichen Wirkungen einer Zuwendung im Erbfall verbleiben soll (Ausgleichung).
Rz. 20
Die Vorschrift des Abs. 4 ist auch dann anwendbar, wenn der pflichtteilsberechtigte überlebende Ehegatte mit den ausgleichungsverpflichteten Abkömmlingen zusammentrifft, was lange Zeit umstritten war. Nach der Grundregel des § 2315 BGB müssen anrechnungspflichtige Zuwendungen bei der Ermittlung des Pflichtteils dem Gesamtnachlass hinzugerechnet werden, während dieselben Zuwendungen als Ausgleichsposten gem. §§ 2316 Abs. 1, 2055 Abs. 1 S. 2 BGB nur dem Teil des Nachlasses hinzuzurechnen sind, der auf die Abkömmlinge entfällt. In diesen Fällen kann es zu dem ungewollten Ergebnis kommen, dass der Pflichtteil nach Ausgleichung und Anrechnung denjenigen übersteigt, der sich im Fall der bloßen Anrechnung nach § 2315 BGB errechnet hätte.
Beispiel
Der Erblasser ist im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft verheiratet. Er hat die Abkömmlinge A und B. Seine Ehefrau hat er zur Alleinerbin eingesetzt. Der Nachlass hat einen Wert von 700.000 EUR. Das Kind B hat einen Vorempfang in Höhe von 100.000 EUR erhalten, der sowohl ausgleichungspflichtig als auch anrechnungspflichtig ist.
Berechnung des Pflichtteils von B
Nachlass |
700.000 EUR |
abzgl. ½ Erbteil Ehegatte |
350.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt |
450.000 EUR |
geteilt durch 2 Abkömmlinge |
225.000 EUR |
abzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt |
125.000 EUR |
Hiervon die Hälfte entspricht dem Pflichtteil i.H.v. |
62.500 EUR |
Anrechnung nach Abs. 4 (½ Vorempfang) |
12.500 EUR |
Wäre der Vorempfang lediglich anrechnungspflichtig nach § 2315 BGB, ergäbe sich folgende Berechnung:
Nachlass |
700.000 EUR |
zzgl. Vorempfang |
100.000 EUR |
ergibt einen Anrechnungsnachlass von |
800.000 EUR |
hieraus Pflichtteil i.H.v. ⅛ |
100.000 EUR |
abzgl. Vorempfang nach § 2315 BGB |
100.000 EUR |
ergibt |
0 EUR |
Rz. 21
Nach einhelliger Meinung besteht jedoch kein Anlass, die Anwendbarkeit des § 2316 Abs. 4 BGB auf den Fall zu beschränken, dass nur pflichtteilsberechtigte Abkömmlinge vorhanden sind.