Rz. 87
Die Zehnjahresfrist des Abs. 3 ist seit den Anpassungen durch die Erbrechtsreform 2010 in doppelter Hinsicht relevant. Denn zum einen bildet sie – wie früher – eine echte Ausschlussfrist (Abs. 3 S. 2), zum anderen wirkt sie sich nach Abs. 3 S. 1 auf die Berechnung der Ergänzungsansprüche aus (zum Berechnungsmodus vgl. Rdn 148 f.).
Rz. 88
Gem. Abs. 3 S. 2 sind Schenkungen grundsätzlich nur dann ergänzungspflichtig, wenn zwischen der Leistung des verschenkten Gegenstandes und dem Erbfall weniger als zehn Jahre vergangen sind. Bei dieser Zehnjahresfrist handelt es sich um eine echte Ausschlussfrist, die den Anspruch per se zunichtemacht. Daher ist sie auch im Falle der gerichtlichen Geltendmachung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs von Amts wegen zu berücksichtigen.
Rz. 89
Problematisch ist oft, ab welchem Zeitpunkt die Frist zu laufen beginnt. Der in Abs. 3 genannte Zeitpunkt der "Leistungserbringung" lässt nämlich die Frage offen, ob schon die bloße Leistungshandlung oder erst der Eintritt des Leistungserfolges maßgeblich sein soll. Die h.M. stellt grundsätzlich auf den Leistungserfolg, also den Eigentumsübergang ab. Dies entspricht auch der Vorstellung des Gesetzgebers, der sich bei Einführung der Zehnjahresfrist von der Vorstellung leiten ließ, dass der Anspruch ausgeschlossen sein sollte, wenn der Erblasser die durch die Schenkung verursachte Vermögensminderung selbst zehn Jahre lang habe tragen müssen. Vor diesem Hintergrund kann weder die bloße Leistungshandlung noch der Umstand, dass der Schenker alles von seiner Seite aus Erforderliche getan hat, um den Leistungserfolg zu bewirken, ausreichen, um die Frist des Abs. 3 in Lauf zu setzen.
Rz. 90
Der BGH verlangt darüber hinaus, dass der Gegenstand der Schenkung endgültig aus dem wirtschaftlichen Verfügungsbereich des Erblassers ausgegliedert wird. Sofern ein sog. "Genussverzicht" nicht vorliegt, kommt eine Ingangsetzung der Zehnjahresfrist daher nicht in Betracht. Zur Begründung verweist der BGH auf die bereits zitierten Protokolle zum Entwurf des § 2325 BGB. Hintergrund der Regelung sei gewesen, das Recht des Beschenkten nicht zu lange im Schwebezustand zu halten, da sich die pflichtteilsberechtigten Angehörigen nach so langer Zeit an die eingetretene Vermögensminderung gewöhnt hätten. Eine Benachteiligungsabsicht sei bei Schenkungen, deren Folgen der Erblasser noch selbst längere Zeit zu tragen hätte, eher unwahrscheinlich.
Der BGH hat die Gültigkeit seiner zur Rechtslage vor der Erbrechtsreform entwickelten Genussverzichts-Rspr. auch für die aktuelle Rechtslage im Jahr 2016 ausdrücklich bestätigt.
Rz. 91
Die Sichtweise des BGH ist teilweise heftiger – und berechtigter – Kritik der Lit. ausgesetzt. Denn insbesondere wegen der wirtschaftlich geprägten Betrachtung besteht die Gefahr erheblicher Rechtsunsicherheiten, die eine konkrete Abgrenzung, ob ein "Genussverzicht" im Einzelfall vorliegt oder nicht, mitunter sehr schwierig macht. Insbesondere die Fälle, in denen sich der Schenker kein hundertprozentiges Nutzungsrecht, sondern nur bspw. einen Quotennießbrauch vorbehält, sind derzeit praktisch kaum zu lösen. Angesichts der Formulierung des Gesetzes, die lediglich den rechtlichen Leistungserfolg, und nicht auch den wirtschaftlichen, fordert, kann die Rspr. des BGH wohl zu Recht als richterliche Rechtsfortbildung bezeichnet werden. Dass diese Entwicklung in die richtige Richtung geht, darf indes bezweifelt werden.