Rz. 148
Durch das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts hat der Gesetzgeber die Systematik des Abs. 3 deutlich verändert. Gilt für Erbfälle vor dem 1.1.2010 nach wie vor das sog. Alles-oder-Nichts-Prinzip, dem zufolge alle Geschenke innerhalb der Zehnjahresfrist in voller Höhe in die Berechnung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen einzubeziehen sind, unterliegen bei Erbfällen nach dem 31.12.2009 die im Rahmen der Pflichtteilsergänzung zu berücksichtigenden Schenkungen dem sich aus der Neufassung des Gesetzes ergebenden Abschmelzungsmodell bzw. einer pro-rata-Lösung.
Maßgeblich für die Frage, ob die alte oder die aktuelle Fassung von Abs. 3 anzuwenden ist, ist nicht der Zeitpunkt der Ausführung der Schenkung, sondern allein der Zeitpunkt des Erbfalls. Sofern der Erblasser nach dem Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung (am 1.1.2010, 0.00 Uhr) verstirbt, richtet sich die Berechnung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen nach Abs. 3 S. 1 n.F. (also dem Abschmelzungsmodell), Art. 229 § 21 Abs. 4 EGBGB.
Rz. 149
Gem. Abs. 3 S. 1 wird der Wert einer lebzeitigen Schenkung nur dann vollständig in die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs einbezogen, wenn der Erbfall innerhalb eines Jahres nach Ausführung der Zuwendung eintritt. Andernfalls verringert sich der zu berücksichtigende Wert für jedes zwischen dem Zuwendungszeitpunkt und dem Erbfall verstrichene Jahr um 1/10. Auf diese Weise wird der Umfang des Pflichtteilsergänzungsanspruchs im Zeitverlauf kontinuierlich abgeschmolzen. Der Mechanismus lässt sich beispielhaft wie folgt verdeutlichen:
Rz. 150
Beispiel
Der alleinstehende Erblasser E verstirbt im Januar 2010 und hinterlässt lediglich einen Sohn. Alleinerbin ist seine Lebensgefährtin L, der er bereits im Februar 2005 einen Geldbetrag i.H.v. 500.000 EUR zugewendet hatte. Der real vorhandene Nachlass hat einen Nettowert von 100.000 EUR.
Der reale Nachlass ist um den zu berücksichtigenden Wert der lebzeitigen Zuwendung zu erhöhen, um den fiktiven Nachlass, also die Bemessungsgrundlage für den Gesamtpflichtteil zu bestimmen. Die Schenkung im Februar 2005 hatte einen Wert von 500.000 EUR. Seit der Zuwendung sind aber vier Jahre abgelaufen. Somit ist der Wert der Zuwendung um 4/10 abzuschmelzen, so dass lediglich noch ein Betrag von 300.000 EUR zur Ermittlung des fiktiven Nachlasses zu berücksichtigen ist. Der fiktive Nachlass ergibt sich daher mit einem Betrag von 400.000 EUR (realer Nachlass 100.000 EUR plus zu berücksichtigende Zuwendungen 300.000 EUR). Der Gesamtpflichtteil beträgt 200.000 EUR (= ½ von 400.000 EUR). Davon entfallen 50.000 EUR auf den ordentlichen Pflichtteil i.S.v. § 2303 BGB und 150.000 EUR auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB.
Rz. 151
Nach dem Wortlaut des Gesetzes kommt es für den Umfang der Abschmelzung auf die seit der Ausführung der Zuwendung verstrichenen vollen Jahre an, eine monats- oder gar tageweise Betrachtung ist nicht vorgesehen. Es gelten die Vorgaben der §§ 187 Abs. 1 und 188 Abs. 1 und 2 BGB. Angesichts des vom Gesetzgeber beabsichtigten Abschieds vom Alles-oder-Nichts-Prinzip ist das Abstellen auf verstrichene Jahre wenig konsequent; der Wortlaut des Gesetzes lässt eine andere zeitliche Abgrenzung aber nur schwer vertretbar erscheinen.
Rz. 152
Nichtsdestotrotz erscheint die Neuregelung auf den ersten Blick für den Erben bzw. den nach § 2329 BGB haftenden Beschenkten deutlich günstiger als die alte Rechtslage. Denn die Abschmelzung führt – gerade bei nicht verbrauchbaren Sachen in Kombination mit dem Niederstwertprinzip – zu einer (mitunter) deutlichen Reduzierung des fiktiven Nachlasses und damit auch des Pflichtteilsergänzungsanspruchs.
Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass in der Praxis eine Vielzahl von Fällen der Anwendung der Abschmelzungsmethode gar nicht zugänglich sind. Namentlich die Zuwendungen unter Vorbehalt von Nießbrauchs- und sonstigen Nutzungsrechten sowie Zuwendungen an den Ehegatten/Lebenspartner lösen nämlich nach wie vor mangels Leistung i.S.v. Abs. 3 gar keinen Fristlauf aus. Dies gilt sowohl für Abs. 3 S. 2 als auch für die Anwendbarkeit des Abschmelzungsmodells nach Abs. 3 S. 1.