aa) Pflicht- und Anstandsschenkungen
Rz. 13
Die Pflicht- und Anstandsschenkungen nehmen im Bereich der Pflichtteilsergänzung eine gewisse Sonderstellung ein. Teilweise werden sie im Hinblick auf die Besonderheiten des zugrunde liegenden Verhältnisses zwischen Erblasser und Beschenktem von der Pflichtteilsergänzung ausgenommen. Dies gilt allerdings nur in einigermaßen engen Grenzen, da der Pflichtteilsergänzungsanspruch (§ 2325 BGB) gerade auf einen Schutz des Pflichtteilsberechtigten vor einer Aushöhlung des Nachlasses durch lebzeitige Zuwendungen abzielt; § 2330 BGB regelt insofern eine Ausnahme. Für das Vorliegen einer Pflicht- oder auch einer Anstandsschenkung ist grundsätzlich der auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch in Anspruch Genommene (also der Erbe oder, in Fällen des § 2329 BGB, der Beschenkte) beweispflichtig.
Rz. 14
Anstandsschenkungen sind kleinere Zuwendungen, die aus einem besonderen Anlass (Hochzeit, Geburtstag, Weihnachten etc.) zugewendet werden. Die konkreten gesellschaftlichen und regionalen Gepflogenheiten und Verhältnisse sind für die Einordnung als Anstandsschenkung entscheidend. Zu fragen ist dabei nach den Ansichten und Gepflogenheiten sozial Gleichgestellter; insbesondere kommt es darauf an, ob die Unterlassung des Geschenks eine Einbuße an sozialer Achtung in diesem Personenkreis nach sich ziehen würde. Eine Anstandsschenkung ist aber von vornherein ausgeschlossen, wenn ihr Wert die Hälfte des wesentlichen Vermögens des Schenkers übersteigt.
Rz. 15
Bei den sog. Pflichtschenkungen spielen die Wertverhältnisse hingegen eine untergeordnete Rolle; denn eine sittliche Pflicht kann im Einzelfall auch höherwertige Geschenke rechtfertigen. Dies gilt insbesondere für Unterhaltszahlungen an nahe Angehörige und Zuwendungen zur zusätzlichen Alterssicherung. Maßgeblich für die Abgrenzung ist allerdings nicht die Frage, ob sich die Schenkung noch im Rahmen des sittlich zu Rechtfertigenden bewegt. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob sie sittlich geboten war und ein Unterlassen der Zuwendung durch den Erblasser als Verletzung der ihm obliegenden sittlichen Pflichten anzusehen gewesen wäre. Einschränkend ist in diesem Zusammenhang weiter anzumerken, dass auch das Gebot, den späteren Nachlass nicht vollständig auszuhöhlen (und dadurch den Pflichtteilsanspruch zu entwerten), zu den sittlichen Pflichten des Erblassers gehören kann. Allgemeine Grundsätze lassen sich hier jedoch nur schwer festmachen. Insbesondere sind auch die vielfältigen zu diesem Problembereich ergangenen höchst- und obergerichtlichen Entscheidungen kaum verallgemeinerungsfähig. Festzuhalten ist aber, dass die Abgrenzung nach objektiven Kriterien vorzunehmen ist. Hierbei spielen die persönlichen Beziehungen der Beteiligten, ihre Vermögens- und Lebensverhältnisse, die Quantität und Qualität der zwischen ihnen ausgetauschten Zuwendungen sowie die Wertrelation zum Restnachlass grundsätzlich die entscheidende Rolle. Des Weiteren muss sich der Schenker über das Bestehen einer Anstands- oder sittlichen Pflicht im Klaren gewesen sein und die Schenkung auch zu dem Zweck ausgeführt haben, eben dieser Pflicht zu genügen. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist nicht der Erbfall, sondern die Ausführung der Zuwendung.