Rz. 138
Als zutreffenden Bewertungsmaßstab (unabhängig vom Bewertungszeitpunkt) sieht der BGH den Rückkaufswert an, und zwar ohne irgendwelche Abschläge im Hinblick auf den noch nicht eingetretenen Versicherungsfall. Soweit im Einzelfall die Möglichkeit bestanden hätte, den Versicherungsvertrag am Zweitmarkt zu verkaufen (etwa an gewerbliche Aufkäufer oder entsprechende Investmentfonds) oder aber einem Dritten gegen Entgelt ein (unwiderrufliches) Bezugsrecht einzuräumen, soll das hierbei erzielbare Entgelt maßgeblich sein.
Rz. 139
Auch wenn die geänderte Rspr. des BGH nicht ohne kritisches Echo geblieben ist, ist das Ergebnis bei wirtschaftlicher Betrachtung zutreffend. Tatsächlich sollte bei einem widerruflich eingeräumten Bezugsrecht der Wert der Zuwendung mit dem Rückkaufswert der Versicherung im Zeitpunkt unmittelbar vor dem Tod des Erblassers angesetzt werden. Dieser entspricht wenigstens dem von der Versicherungsgesellschaft im Falle der vorzeitigen Vertragsbeendigung zu gewährenden Rückkaufswert. Soweit der konkrete Versicherungsvertrag auch auf andere Weise einer wirtschaftlich sinnvollen Verwertung hätte zugeführt werden können, etwa durch eine Veräußerung auf dem Versicherungszweitmarkt, ist der hierbei realisierbare Wert maßgeblich. Dieser kann – wenn konkrete Erwerbsangebote nicht vorliegen – nur auf Gutachtenbasis ermittelt werden.
Die teilweise nach wie vor geforderte Zugrundelegung der Versicherungsleistung kann jedenfalls nicht zum richtigen Ergebnis führen, da sie nie zum Vermögen des Erblassers gehört hat und auch nicht zu Lebzeiten realisiert werden konnte. Sie hätte also nur – ohne Bezugsrecht – in den Nachlass fallen können. Der Pflichtteilsergänzungsanspruch ist aber stets nur auf lebzeitige Vermögensdispositionen gerichtet, nicht auf solche von Todes wegen.
Rz. 140
Bei der Erstellung des Gutachtens ist allerdings entgegen der Auffassung des BGH auf die konkrete Situation des Vertragsverhältnisses bzw. der versicherten Person abzustellen. Denn auch professionelle Aufkäufer ermitteln den von ihnen maximal zu zahlenden Kaufpreis nicht (allein) anhand von Sterbetafeln oder ähnlichen Statistiken. Vielmehr kommt es auf die konkrete Moralitätserwartung, also den von Medizinern nach einer eingehenden Untersuchung der versicherten Person prognostizierten Todeszeitpunkt an. Etwas anderes kann auch bei der Wertermittlung auf Gutachtenbasis nicht gelten. Das Gutachten ist nach genau denselben Kriterien und Parametern zu erstellen, die auch der Preisfindung auf dem Versicherungszweitmarkt zugrunde liegen. Allerdings ist dem BGH insoweit zuzustimmen, dass der (im Nachhinein natürlich bekannte) konkrete Todeszeitpunkt der versicherten Person nicht in die Bewertung einfließen darf.
Rz. 141
Angesichts der angesprochenen Gepflogenheiten zur Preisermittlung durch professionelle Händler wird man für alle Fälle des unerwarteten Versterbens eines im Übrigen gesunden Menschen (z.B. durch Unfall) regelmäßig unterstellen können, dass der Rückkaufswert den durch den Erblasser noch zu realisierenden Wert des Versicherungsverhältnisses zutreffend abbildet. Ein Anspruch auf Wertermittlung durch Gutachten sollte in derartigen Konstellationen nur dann anzunehmen sein, wenn konkrete Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Rückkaufswert (deutlich) hinter dem am Markt zu realisierenden Preis zurückbleibt. Solche Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Versicherungsnehmer die Versicherungsprämien (ganz oder zum überwiegenden Teil) vorausgezahlt hat und für die Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes keine oder nur vergleichsweise geringe laufende Beitragszahlungen erforderlich sind.
Rz. 142
Im Übrigen darf auch nicht übersehen werden, dass bei weitem nicht jeder Lebensversicherungsvertrag für einen Verkauf auf dem Zweitmarkt in Betracht kommt. Der mit einer Prüfung der Erwerbsmöglichkeit verbundene Aufwand ist nämlich aus der Sicht eines potentiellen Käufers bei geringeren Versicherungssummen offensichtlich nicht gerechtfertigt.