a) Allgemeines
Rz. 33
Abs. 1 Nr. 4 wurde durch das Gesetz zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts vollständig neu eingefügt. Die Regelung ersetzt den bis dato gültigen § 2333 Nr. 5 BGB a.F., der eine Pflichtteilsentziehung wegen eines "ehrlosen oder unsittlichen Lebenswandels wider den Willen des Erblassers" ermöglichte und in erster Linie auf den Schutz der Familienehre abzielte. Die alte Regelung galt vor der Erbrechtsreform 2010 schon länger als rechtspolitisch fragwürdig und – in Anbetracht veränderter gesellschaftlicher Wertvorstellungen – nicht mehr zeitgemäß. Der Gesetzgeber versucht mit § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB n.F. die Anforderungen an eine Pflichtteilsentziehung wegen eines schwerwiegenden Fehlverhaltens des Pflichtteilsberechtigten zu objektivieren und knüpft sie daher nunmehr an strafrechtliche Begriffe. Hierdurch sollen gleichzeitig Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gestärkt werden. Auf einen "ehrlosen Charakter" der Tat oder die Umstände ihrer Begehung kommt es dabei nicht entscheidend an. Vielmehr genügt die auf der Straftat beruhende Unzumutbarkeit der Nachlassteilhabe aus der (subjektiven) Sicht des Erblassers.
b) Kreis der potentiellen Opfer
Rz. 34
Anders als bei Nr. 1–3 ist in Nr. 4 keine Begrenzung des Personenkreises der potentiellen Opfer des Pflichtteilsberechtigten vorgesehen. Daraus folgt, dass auch nicht personenbezogene Delikte eine Pflichtteilsentziehung nach Abs. 1 Nr. 4 auslösen können. Beispielhaft genannt seien Hehlerei, Volksverhetzung oder schwere Umweltdelikte.
c) Der Tatbestand im Einzelnen
aa) Verurteilung wegen einer Straftat
Rz. 35
Abs. 1 Nr. 4 sanktioniert schwerwiegende Rechtsverstöße des Pflichtteilsberechtigten, bei denen sich das ethisch-moralische Unwerturteil über das kriminelle Verhalten sozusagen in dessen Strafbarkeit manifestiert. Ein einmaliger Rechtsverstoß großen Ausmaßes kann für die Pflichtteilsentziehung ausreichen, unabhängig davon, wie lange er zurückliegt und wie sich das Verhalten des Pflichtteilsberechtigten seitdem verändert hat. Abgesehen von der Möglichkeit der Verzeihung durch den Erblasser (§ 2337 BGB) sind Entwicklungen nach der Tat bzw. der Verurteilung irrelevant.
Rz. 36
Allerdings ermöglicht nicht jede Straftat die Pflichtteilsentziehung. Vielmehr verdeutlicht die vergleichsweise hohe Strafforderung (ein Jahr ohne Bewährung), dass eine Pflichtteilsentziehung nur bei Straftaten von erheblichem Gewicht in Betracht kommt. Dabei hat der Gesetzgeber allerdings darauf verzichtet, an die Abgrenzung zwischen Verbrechen und Vergehen anzuknüpfen, da auch schwere Vergehen ein erhebliches Unrecht darstellen und somit eine Pflichtteilsentziehung rechtfertigen können.
Rz. 37
Der Pflichtteilsberechtigte muss wegen einer vorsätzlich begangenen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung rechtskräftig verurteilt werden. Ob diese Verurteilung vor oder nach dem Erbfall stattfindet, ist im Ergebnis ohne Belang. Somit kann der Erblasser also die Pflichtteilsentziehung auch schon vor der Verurteilung anordnen. Entscheidend ist lediglich, dass diese – vor oder nach dem Erbfall – tatsächlich erfolgt und dann auch rechtskräftig wird. Bei Antragsdelikten führt diese Ausgestaltung des Gesetzes mitunter dazu, dass der Erblasser bei Straftaten gegen sich selbst bzw. gegen seine Angehörigen gezwungen sein kann, selbst Anzeige zu erstatten bzw. den Strafantrag zu stellen, um die für die Pflichtteilsentziehung vorausgesetzte Verurteilung zu erreichen und das entsprechende Strafverfahren überhaupt erst in Gang zu setzen. Ähnlich ist die Situation auch dann, wenn eine Verjährung der Straftat droht. Denn nach Eintritt der Verjährung ist eine strafrechtliche Verurteilung nicht mehr möglich, weshalb verjährte Straftaten eine Pflichtteilsentziehung nach Abs. 1 Nr. 4 nicht (mehr) rechtfertigen können.
Rz. 38
Das strafrechtliche Urteil muss auf eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr ohne Bewährung lauten. Diese Ausgestaltung des Gesetzes ist insoweit inkonsequent, als sie gerade nicht allein auf den Unrechtsgehalt der Straftat abstellt. Vielmehr beruht die Strafaussetzung zur Bewährung auf einer positiven Sozialprognose (§ 56 StGB), die mit dem im eigentlichen Strafmaß zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt der Tat nichts zu tun hat. Konsequenz dieser Ausgestaltung des Gesetzes ist nun, dass dem zu einer Freiheitsstrafe von 13 Monaten ohne Bewährung Verurteilten ohne Weiteres der Pflichtteil entzogen werden kann, während dies bei einem zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilten Pflichtteilsberechtigten nicht möglich ist, obwohl die Tat des zuletzt Genannten unter Umständen einen deutlich höheren Unrechtsgehalt aufweisen mag.
Im Übrigen ist bislang ungeklärt, wie Fälle...