I. Kenntnis des Erblassers von der Verfehlung
Rz. 3
Eine Verzeihung kommt nur in Betracht, wenn der Erblasser den Sachverhalt der zu verzeihenden Verfehlung tatsächlich kennt. Für Verfehlungen, aufgrund derer er eine Entziehungsverfügung getroffen hat, ergibt sich dies ausdrücklich aus dem Gesetz, § 2336 Abs. 2 BGB, Angabe des Entziehungsgrundes in der Verfügung. Besteht lediglich eine Berechtigung zur Pflichtteilsentziehung, von der noch kein Gebrauch gemacht wurde, setzt die Verzeihung aber bereits begriffsnotwendig dieselbe Kenntnis voraus, da man nur verzeihen kann, wovon man auch weiß. Die Verzeihung der einen, bekannten Verfehlung schließt daher die Pflichtteilsentziehung wegen einer genauso gelagerten, bei Verzeihung aber noch unbekannten Verfehlung nicht aus. Allerdings muss wegen dieser zweiten Verfehlung erneut eine ausdrückliche und formal wirksame Pflichtteilsentziehung angeordnet werden. Eine Verzeihung im Voraus, also bezogen auf künftige Verfehlungen ist nicht möglich. An dieser Stelle sei auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass – auch bei Verfehlungen gegen dessen Abkömmlinge oder den Ehegatten – nur eine Verzeihung des Erblassers die Pflichtteilsentziehung beseitigen kann. Das Empfinden bzw. Verhalten des Verletzten selbst, soweit dieser nicht der Erblasser ist, spielt keine Rolle. Auch eine – wie auch immer geartete – Stellvertretung kommt nicht in Frage.
II. Verzeihung
1. Inhalt und Form der Verzeihung
Rz. 4
Die Verzeihung erfordert keine diesbezügliche Willenserklärung (bzw. deren Zugang). Vielmehr erfolgt sie i.d.R. durch tatsächliches Verhalten. Der BGH definiert sie daher als ein kundgetanes Verhalten des Erblassers, die mit der erlittenen Verletzung verbundene Kränkung überwunden zu haben und über sie hinweggehen zu wollen. Dass dem Erblasser dabei der Verlust der Pflichtteilsentziehungsmöglichkeit bewusst ist oder er diesen gar will, ist nicht erforderlich. Es kommt vielmehr lediglich auf die innere Überwindung der Kränkung an. Auf diese Weise hat der nicht mehr gekränkte Erblasser auch nicht die Möglichkeit, den Pflichtteilsberechtigten wegen einer inzwischen nicht mehr wirklich bedeutsamen Angelegenheit unter Druck zu setzen.
Rz. 5
Die angesprochene innere Überwindung des Kränkungsempfindens erfordert nicht unbedingt dessen völligen Wegfall, darf andererseits aber auch nicht mit diesem verwechselt werden. Einerseits kann der Erblasser dem Pflichtteilsberechtigten trotz Fortbestehens des Gefühls der Kränkung verzeihen, sich also mehr oder weniger bewusst über seine Emotionen hinwegsetzen. Andererseits kann der Wegfall des Kränkungsempfindens, der lediglich darauf beruht, dass der Erblasser sich innerlich vollkommen von der Personen des Kränkenden gelöst hat und diese ihm gleichgültig geworden ist, keine innere Überwindung der erlittenen Kränkung darstellen. Eine Verzeihung i.S.d. § 2337 BGB ist in derartigen Fällen nicht anzunehmen.
Rz. 6
Die Wiederherstellung eines innigen Näheverhältnisses, wie es für Eltern und Kinder oder unter Ehegatten – normalerweise – typisch wäre, ist nicht erforderlich. Im ALR (II 2 § 416) war der Fall der "Versöhnung ohne Verzeihung" ausdrücklich geregelt und sollte den Pflichtteilsentzug gerade nicht beseitigen. Getreu dem Schlagwort "Vergessen, aber nicht vergeben" hat diese Regel auch heute noch Gültigkeit. Rein praktisch wird man aber wohl im Regelfall von einer Verzeihung ausgehen müssen, wenn die Beteiligten sich versöhnt haben. Der Vorbehalt, dem Pflichtteilsberechtigten nicht vergeben zu wollen, muss in dieser Situation nämlich ausdrücklich bekundet werden, da ein stillschweigender Vorbehalt nach dem Grundsatz des venire contra factum proprium unbeachtlich wäre.
Da die Verzeihung i.d.R. durch schlüssiges Verhalten bekundet wird, ist die Abgrenzung, wann genau der Erblasser die erlittene Kränkung überwunden hat, nicht immer ganz einfach, da es sich meist um einen längere Zeit andauernden Prozess handelt. In diesem Zusammenhang wurde in der Vergangenheit vor allem die Wiederannäherung mit erkennbarem Entziehungsvorbehalt diskutiert. Bei Inaussichtstellung einer zukünftigen Verzeihung konnte deren spätere Verweigerung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben unzulässig sein. Stellt man aber mit der heute h....