I. Anwendungsbereich
Rz. 7
Der gemeine Wert ist nach § 9 Abs. 1 BewG jeder Bewertung zugrunde zu legen, soweit nichts anders vorgeschrieben ist.
Rz. 8
Ob etwas anderes vorgeschrieben ist, ergibt sich in erster Linie aus den Einzelsteuergesetzen. So muss die Einlage eines Wirtschaftsguts in ein Betriebsvermögen nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG zum Teilwert erfolgen. Manchmal muss der für den Rechtsvorgänger maßgebende Steuerwert fortgeführt werden, so beim unentgeltlichen Erwerb eines Betriebs (§ 6 Abs. 3 EStG).
Rz. 9
Für die Erbschaftsteuer hat das BVerfG den gemeinen Wert als verfassungsrechtlich verbindlichen Wert festgeschrieben. Dem ist der Gesetzgeber gefolgt, auch wenn sich hin und wieder Zweifel einstellen, ob er sich durchweg daran gehalten hat.
II. Bewertungsgegenstand
Rz. 10
Als Ausnahme (vgl. dazu § 2 Abs. 3 BewG) zu § 2 Abs. 1 BewG ist Bewertungsgegenstand nicht eine wirtschaftliche Einheit, sondern ein Wirtschaftsgut (§ 9 Abs. 2 S. 1 BewG). Denn die gesetzliche Regelung orientiert sich am Normalfall: Im täglichen Leben werden Vermögensgegenstände gleich Wirtschaftsgüter gehandelt und nicht wirtschaftliche Einheiten.
III. Schätzung des gemeinen Werts
Rz. 11
§ 9 Abs. 2 S. 1 BewG sagt, der gemeine Wert werde durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen wäre. Die Verwendung des Irrealis erhellt, dass der Kaufpreis gesucht wird, der bei einer fiktiven Veräußerung erzielt würde. Es wird also so getan, als ob der Erwerber in der gleichen logischen Sekunde, in der sein Erwerb sich ereignet, das erworbene Wirtschaftsgut veräußert hätte.
Rz. 12
Dieser fiktive Kaufpreis muss immer geschätzt werden, nicht nur dann, wenn es keine Vergleichspreise gibt. Denn vorbehaltlich einer gesetzlichen Regel begründet ein Vergleichspreis keine Preisbindung, sondern nur die Wahrscheinlichkeit, dass er auch bei einer Veräußerung des zu bewertenden Wirtschaftsguts erzielt werden kann. Natürlich kann die Wahrscheinlichkeit hoch sein und an Sicherheit grenzen, so dass der Vergleichspreis ohne weiteres übernommen werden kann. Aber das weiß man erst, wenn man die Wahrscheinlichkeit berechnet oder geschätzt hat.
Rz. 13
Der gemeine Wert kann auch anhand eines tatsächlich erzielten Kaufpreises ermittelt werden, wenn der Verkauf zeitnah nach dem Bewertungszeitpunkt erfolgt und der Kaufpreis daher Indizwirkung für den gemeinen Wert am Bewertungsstichtag hat.
IV. Objektiver oder objektivierter Wert
Rz. 14
In der Literatur wird unter Bezugnahme auf ältere Rechtsprechung immer noch die Auffassung vertreten, der gemeine Wert sei ein objektiver Wert, den das Gut für jeden am Kauf Beteiligten habe. Das hat eine lange Tradition, stand ja schon in § 112 des Teils I Titel 2 des preußischen ALR zu lesen, der Nutzen, den die Sache einem jeden Besitzer gewähren könne, sei ihr gemeiner Wert.
Rz. 15
Aber dieser immer wieder beschworene objektive Wert ist ein Phantom. Denn der Wert ist abhängig vom individuellen Grenznutzen, den ein Vermögensgegenstand für den Inhaber oder einen Erwerber hat, er ist immer subjektiv. Aus diesem Grund bestehen zumeist unterschiedliche Preise für vergleichbare Gegenstände, die um einen Mittelwert schwanken, so dass von "dem" objektiven Preis keine Rede sein kann. Und fernab der Massenprodukte, im Reiche der Spezialitäten bis hin zu den Unikaten, ist der Preis stets Ergebnis von Verhandlungen, ein Kompromiss zwischen subjektiven Wertvorstellungen und Grenzpreisen des Verkäufers und des Käufers.
Rz. 16
Angestrebt werden kann daher nur der Preis, den man in der Unternehmensbewertung den objektivierten Wert nennt. Im Kern geht es darum, dass ein Verkaufsgeschehen fingiert werden muss, bei dem ein Verhandlungsgleichgewicht insoweit besteht, dass jede Seite ihre Interessen voll zur Geltung bringen kann. Der objektivierte Wert ist daher der geschätzte Betrag, für welchen ein Vermögensgegenstand am Bewertungsstichtag zwischen einem verkaufsbereiten Verkäufer und einem kaufbereiten Erwerber, nach angemessenem Vermarktungszeitraum, in einer Transaktion im gewöhnlichen Geschäftsverkehr verkauft werden könnte, wobei jede Partei mit Sachkenntnis, Umsicht und ohne Zwang handelt (vgl. § 16 Abs. 2 S. 4 PfandBG).
V. Konkretisierungen des gemeinen Werts
Rz. 17
Das Bewertungsrecht kennt Konkretisierungen des gemeinen Werts. Dazu gehören
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der Kurs von Wertpapieren und Schuldbuchforderungen, die zum Handel im regulierten Markt zugelassen sind oder im Freiverkehr gehandelt werden (§ 11 Abs. 1 BewG), |
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der Rücknahmepreis für Fondsanteile (§ 11 Abs. 4 BewG), |
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der Nennbetrag einer Kapitalforderung oder Schuld (§ 12 Abs. 1 BewG), |
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der Rückkaufswert bei ... |