Rz. 12

Die Systematik des vereinfachten Ertragswertverfahrens beinhaltet u.a. das in § 203 Abs. 2 BewG a.F. zum Ausdruck gebrachte Prinzip, dass für sämtliche Steuerfälle innerhalb desselben Kalenderjahres ein einheitlicher Kapitalisierungsfaktor zur Anwendung kommen soll. Um diesem Prinzip auch im Zuge der Neuregelung des Kapitalisierungsfaktors treu zu bleiben, ordnete der Gesetzgeber in § 205 Abs. 11 BewG deren rückwirkendes Inkrafttreten für alle Bewertungsstichtage ab dem 1.1.2016 an.[19]

Eine weitere, über den Gesetzeswortlaut hinausgehende Rückwirkung kommt nicht in Betracht.[20]

 

Rz. 13

Ob dies mit rechtlichen Vorgaben im Einklang steht, ist indes zweifelhaft. Betroffen ist in erster Linie das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG), an dessen Vorgaben auch die vorliegende Rückwirkungsanordnung zu messen ist.[21] Speziell im Steuerrecht wird prinzipiell zwischen der sog. "echten" Rückwirkung auf der einen und der "unechten" Rückwirkung auf der anderen Seite unterschieden.[22] Von einer echten Rückwirkung ist dann auszugehen, wenn an den in der Vergangenheit verwirklichten Tatbestand nachträglich neue/andere Rechtsfolgen geknüpft werden.[23] Bei der unechten Rückwirkung ist hingegen die Tatbestandsverwirklichung, die die neuen Rechtsfolgen auslöst, noch nicht (endgültig) abgeschlossen. Dies gilt zum Beispiel bei Änderungen von Steuergesetzen im Laufe eines (noch nicht abgeschlossenen) Veranlagungszeitraums.

Die echte Rückwirkung von Steuergesetzen ist in der Regel verfassungswidrig[24] und bestenfalls dann zulässig, wenn zum einen kein schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen anzunehmen ist und zum anderen zwingende Gründe des Gemeinwohls die Rückwirkung rechtfertigen.[25] Demgegenüber sind die Anforderungen an die Zulässigkeit einer tatbestandlichen Rückanknüpfung bei weitem geringer.[26]

 

Rz. 14

Bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer handelt es sich um eine Stichtagssteuer; die Steuer entsteht mit der Verwirklichung des entsprechenden Zuwendungstatbestandes (§ 9 ErbStG). Mithin ist eine Einbeziehung von Zuwendungsfällen, die bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen waren, in den Anwendungsbereich der Neuregelungen in jedem Fall als echte Rückwirkung zu qualifizieren.[27]

 

Rz. 15

Selbstverständlich stellt sich die Frage der Verfassungswidrigkeit nur dann, wenn durch die rückwirkende Änderung des Gesetzes auch eine Benachteiligung des Steuerpflichtigen bewirkt wird. Wirkt sie ausschließlich zu seinen Gunsten, kann von einer ungerechtfertigten Belastung keine Rede sein.

 

Rz. 16

Vorliegend scheint die Reduzierung des Kapitalisierungsfaktors auf den ersten Blick zum Vorteil der Betroffenen zu wirken, reduziert sie doch die der Besteuerung unterliegende Bemessungsgrundlage. Allerdings greift diese Sichtweise zu kurz: Denn für alle Erb- und Schenkungsfälle bis einschließlich zum 30.6.2016 (Zeitpunkt der Steuerentstehung) galten noch die Verschonungsregelungen der §§ 13a ff. ErbStG a.F., die u.a. in § 13b Abs. 2 ErbStG a.F. einen Verschonungsausschluss für alle diejenigen Unternehmen vorsahen, bei denen die Verwaltungsvermögensquote einen Anteil von 50 % des Unternehmenswerts überschritt. Für die Vollverschonung galt eine entsprechende Quote von 10 %. In Fällen der Bewertung nach dem vereinfachten Ertragswertverfahren bildet der nach diesem ermittelte Unternehmenswert die Bezugsgröße für den Verwaltungsvermögenstest alter Prägung. Mithin kann sich eine Reduzierung des anzusetzenden Unternehmenswerts auf der Begünstigungsebene auch zum Nachteil des Steuerpflichtigen auswirken.[28] Das gilt sowohl in den Fällen, in denen wegen der rückwirkenden Geltung des verminderten Kapitalisierungsfaktors gar keine Verschonung beansprucht werden kann, als u.U. auch dann, wenn statt der Vollverschonung lediglich die Regelverschonung zur Anwendung kommt.[29] Die Problematik verschärft sich auch dadurch, dass der Nachweis eines höheren Werts durch den Steuerpflichtigen (dogmatisch betrachtet) wohl nicht in Betracht kommt.[30]

 

Rz. 17

Die Finanzverwaltung hat hierzu mit gleich lautenden Ländererlassen vom 11.5.2017[31] festgehalten, dass für Bewertungsstichtage nach dem 31.12.2015 und vor dem 1.7.2016 in allen noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Feststellungsverfahren der (neue) Kapitalisierungsfaktor von 13,75 anzuwenden ist. Soweit allerdings bereits ein bestandskräftiger Feststellungsbescheid (nach altem Recht) vorliegt, soll der Kapitalisierungsfaktor von 13,75 nur zu Kompensationszwecken eingesetzt werden.[32]

Soweit sich der niedrigere Kapitalisierungsfaktor im Rahmen der Verschonungen für Produktivvermögen (§ 13a ErbStG a.F.) negativ auswirkt, soll auf Antrag eine abweichende Steuerfestsetzung vorgenommen werden. In diesem Fall ist (jedenfalls für Zwecke der Anwendung der Verschonungsregelungen einschließlich der Ermittlung des Sockelbetrags nach § 13b Abs. 2 S. 2 Nr. 4a ErbStG a.F.) der Kapitalisierungsfaktor von 17,8571 bzw. der auf seiner Grundlage ermittelte Wert des Betriebsvermögens zugrunde zu l...

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