Gesetzestext

 

(1) Bei Bewertungen ist, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, der gemeine Wert zugrunde zu legen.

(2) Der gemeine Wert wird durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen wäre. Dabei sind alle Umstände, die den Preis beeinflussen, zu berücksichtigen. Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse sind nicht zu berücksichtigen.

(3) Als persönliche Verhältnisse sind auch Verfügungsbeschränkungen anzusehen, die in der Person des Steuerpflichtigen oder eines Rechtsvorgängers begründet sind. Das gilt insbesondere für Verfügungsbeschränkungen, die auf letztwilligen Anordnungen beruhen.

A. Allgemeines

 

Rz. 1

Der Begriff des Wertes ist vieldeutig.[1] Im vorliegenden Zusammenhang geht es um den Tauschwert. Gesucht wird der Kaufpreis, also der Geldbetrag, der beim Verkauf eines Vermögensgegenstandes unter normalen Umständen voraussichtlich erlöst wird. Nach Oscar Wilde ist das die Sichtweise des Zynikers, der von jedem Ding den Preis und von keinem den Wert kennt. Oder mit Warren Buffet gesagt: "Price is what you pay; value is what you get."[2]

 

Rz. 2

Im Zivilrecht und im öffentlichen Baurecht (vgl. § 194 BauGB) nennt man diesen Wert Verkehrswert.[3] § 9 BewG spricht vom gemeinen Wert. Ein sachlicher Unterschied zwischen den verschiedenen Begriffen besteht nicht.[4]

 

Rz. 3

In einer Marktwirtschaft ist der Kaufpreis im Allgemeinen das Ergebnis von Verhandlungen, deren Ausgang man erst im Nachhinein kennt. Will man ihn im Vorhinein bestimmen, muss er prognostiziert werden, oder wie man im Steuerrecht sagt, er muss geschätzt werden (§ 162 AO). Dabei orientiert man sich in der Regel an den Erfahrungen, die man selbst gemacht hat oder andere gemacht haben, in der Annahme, dass sie sich unter gleichen Umständen wiederholen werden. Dieses Verlängern der Vergangenheit in die Zukunft ist allgemeines menschliches Verhalten.

 

Rz. 4

Manchmal kann man Kaufpreise heranziehen, die für gleichartige Vermögensgegenstände gezahlt wurden. Typisches Beispiel ist der Börsenkurs einer Aktie. Dann prognostiziert man den zu erwartenden Kaufpreis mit Hilfe eines Vergleichswertverfahrens. Der durch Vergleich gefundene Wert scheint besonders verlässlich zu sein, sozusagen übersubjektiv, aber ist das nicht immer. Denn er ist darin subjektiv, dass er sich in Abhängigkeit von den Wertvorstellungen der jeweiligen Verkäufer und/oder Käufer, also ihrer Entscheidungswerte, sowie in Abhängigkeit von der jeweiligen Verhandlungsmacht und des jeweiligen Verhandlungsgeschicks in der jeweiligen Marktsituation gebildet hat.[5]

 

Rz. 5

Vielfach fehlt ein direkter Vergleichspreis. Dennoch kann man sich an Kaufpreisen orientieren, indem man sie auf die Faktoren untersucht, die sie erklären. Einer dieser Faktoren kann der Reinertrag sein, den der Vermögensgegenstand abwirft. Dann prognostiziert man den zu erwartenden Kaufpreis mit Hilfe eines Ertragswertverfahrens. So verfährt man bei der Bewertung von Unternehmen und von Anteilen an Unternehmen oder von Geschäftsgrundstücken.

 

Rz. 6

Manchmal ist der monetäre Nutzen, also der in Geld ausdrückbare Reinertrag des Vermögensgegenstandes, nicht der entscheidende preisbildende Faktor. Dann kann man sich am Reproduktionswert orientieren, an den Kosten, die entstünden, wenn man den Gegenstand nachbauen würde. In diesem Fall prognostiziert man den Kaufpreis losgelöst von einem Verkaufsgeschehen mit Hilfe eines Sachwertverfahrens. Typisches Beispiel ist eine im Eigentum eines Unternehmens stehende Produktionsanlage.

[1] Zu den gängigen Wertbegriffen siehe Matschke/Brösel, S. 7.
[2] Ebenso Wollny, S. 721.
[3] Auch Marktwert oder wahrer Wert genannt.
[5] Matschke/Brösel, S. 10.

B. Tatbestand

I. Anwendungsbereich

 

Rz. 7

Der gemeine Wert ist nach § 9 Abs. 1 BewG jeder Bewertung zugrunde zu legen, soweit nichts anders vorgeschrieben ist.

 

Rz. 8

Ob etwas anderes vorgeschrieben ist, ergibt sich in erster Linie aus den Einzelsteuergesetzen. So muss die Einlage eines Wirtschaftsguts in ein Betriebsvermögen nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 EStG zum Teilwert erfolgen. Manchmal muss der für den Rechtsvorgänger maßgebende Steuerwert fortgeführt werden, so beim unentgeltlichen Erwerb eines Betriebs (§ 6 Abs. 3 EStG).

 

Rz. 9

Für die Erbschaftsteuer hat das BVerfG den gemeinen Wert als verfassungsrechtlich verbindlichen Wert festgeschrieben.[6] Dem ist der Gesetzgeber gefolgt, auch wenn sich hin und wieder Zweifel einstellen, ob er sich durchweg daran gehalten hat.

[6] BVerfG v. 7.11.2006 – 1 BvL 10/02, BVerfGE 117, 1 = BStBl II 2007, 192, Rn 101, 104, 109 f.

II. Bewertungsgegenstand

 

Rz. 10

Als Ausnahme (vgl. dazu § 2 Abs. 3 BewG) zu § 2 Abs. 1 BewG ist Bewertungsgegenstand nicht eine wirtschaftliche Einheit, sondern ein Wirtschaftsgut (§ 9 Abs. 2 S. 1 BewG). Denn die gesetzliche Regelung orientiert sich am Normalfall: Im täglichen Leben werden Vermögensgegenstände gleich Wirtschaftsgüter gehandelt und nicht wirtschaftliche Einheiten.

III. Schätzung des gemeinen Werts

 

Rz. 11

§ 9 Abs. 2 S. 1 BewG sagt, der gemeine Wert werde durch de...

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