Dr. iur. Stefan Lammel, Tina Bieniek
Zusammenfassung
Es verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und ist verfassungswidrig, dass bei Übertragung von mehr als 25 % der Anteile an einer Kapitalgesellschaft (einem sog. schädlichen Beteiligungserwerb) die Anrechnung eines Verlustvortrags anteilig oder ganz versagt wird.
Hintergrund
Die körperschaftssteuerpflichtige Klägerin hatte Verluste erwirtschaftet, die als Verlust vorgetragen wurden, um in den Folgejahren mit angefallenen Gewinnen verrechnet werden zu können. Die Finanzverwaltung beschränkte die Verlustanerkennung und –nutzung jedoch, weil zwischenzeitlich ein Gesellschafter der Klägerin mehr als 25 % der Anteile an der Klägerin an einen Dritten übertragen hatte. Denn nach § 8c Satz 1 KStG können Verluste dann anteilig nicht mehr genutzt werden, soweit zwischen 25 % und 50 % der Anteile, Beteiligungs- oder Stimmrechte innerhalb von 5 Jahren auf einen Dritten übertragen werden (sog. "schädlicher Beteiligungserwerb"). Bei einer Übertragung von über 50 % innerhalb von 5 Jahren versagt das Gesetz die weitere Nutzung des Verlustvortrags komplett.
Der Gesetzgeber will mit der gesetzlichen Regelung verhindern, dass Gesellschaften mit erheblichen Verlustvorträgen als "Mantel" an Dritte verkauft und Verlustvorträge damit gehandelt werden. Mit anderen Worten: die Körperschaft soll nur von Verlustvorträgen profitieren, wenn die kontrollierenden Gesellschafter im Wesentlichen gleich blieben; bei einem Kontrollwechsel sollte ihr bzw. den neuen Gesellschaftern dieses Privileg nicht zugutekommen. Das Finanzgericht Hamburg, das den Fall zunächst zu entscheiden hatte, hegte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 8c Satz 1 KStG und legte den Fall dem BVerfG zur Entscheidung vor.
Das Finanzgericht Hamburg, das den Fall zunächst zu entscheiden hatte, hegte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 8c Satz 1 KStG und legte den Fall dem BVerfG zur Entscheidung vor.
Der Beschluss des BVerfG v. 29.3.2017, 2 BvL 6/11
Das BVerfG bestätigte die Zweifel des Finanzgerichts und entschied, dass § 8c Satz 1 KStG gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) verstößt. Es begründete dies damit, dass die Leistungsfähigkeit der Körperschaft als Basis ihrer Besteuerung unabhängig davon gleich bleibe, ob ein schädlicher Beteiligungserwerb stattfinde oder nicht. Wenn ein schädlicher Beteiligungserwerb trotzdem anders besteuert würde als ein unschädlicher Beteiligungserwerb, bedürfe dies eines sachlichen Grundes, an dem es vorliegend fehle. Denn bei einer Übertragung von 25 % bis 50 % (einer Minderheitsbeteiligung) käme es weder zu einem Kontrollwechsel, noch bestünde ein konkretes Missbrauchspotential, da der Minderheitsgesellschafter die Verlustnutzung nicht aktiv steuern könne. Der Gesetzgeber muss wegen der Verfassungswidrigkeit der Vorschrift daher eine rückwirkende Neuregelung für die Jahre 2008 bis 2015 bis zum 31.12.2018 treffen.
Anmerkung
Die Entscheidung des BVerfG trägt nicht nur den seit langem vorgetragenen rechtlichen Bedenken gegen § 8c Satz 1 KStG Rechnung, sie ist auch in wirtschaftlicher Hinsicht begrüßenswert. Denn die Beschränkung durch § 8c Satz 1 KStG ging vor allem zu Lasten von sanierungsbedürftigen Unternehmen oder Start-Up-Unternehmen, die zur Sicherung ihrer Finanzierung besonders auf die Aufnahme neuer Gesellschafter angewiesen waren und deren angespannte Lage durch den teilweisen Wegfall ihrer Verlustvorträge weiter verschlechtert wurde.
Was die zukünftige Behandlung von Verlustvorträgen angeht, bleibt es spannend. Ein Schritt in die richtige Richtung ist der neu eingeführte § 8d KStG (fortführungsgebundener Verlustvortrag), nach dem Verlustvorträge trotz eines schädlichen Beteiligungserwerbs erhalten bleiben, wenn der Geschäftsbetrieb des Unternehmens nach dem Gesellschafterwechsel erhalten bleibt und eine anderweitige Verlustnutzung ausgeschlossen ist. In diesem Zusammenhang ist auch eine geplante gesetzliche Neuregelung zu begrüßen, nach der Sanierungsgewinne, die dadurch entstehen, dass Gläubiger eines Unternehmens zur bilanziellen Sanierung des Unternehmens auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, begünstigt besteuert werden sollen. Der BFH hatte die entsprechende Praxis der Steuerbehörden wegen des Verstoßes gegen das europäische Beihilfenrecht in seinem Beschluss vom 28.11.2016 (Az. GrS 1/15) verworfen.
Der Gesetzgeber ist nun gehalten, europarechtskonforme Neuregelungen zu schaffen. Dies betrifft die Behandlung von Verlustvorträgen und die Besteuerung von Sanierungsgewinnen ebenso wie die zwischen ihnen bestehende Wechselwirkung.
Interessant bleibt auch das Schicksal von § 8c Abs. 1 Satz 2 KStG, nach dem sämtliche Verlustvorträge wegfallen, wenn über 50 % der Anteile übertragen werden. Ob dies mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wird zunächst der BFH überlegen müssen – ein diesbezügliches Verfahren wurde bis zur Entscheidung des BVerfG ausgesetzt (Az. I R 31/11) und kann nun wieder aufgenommen werden.