Nina Lenz-Brendel, Julia Roglmeier
1.2.1 Anwendungsvoraussetzungen
Die Vorschrift regelt die Vorgehensweise des Betreuers für die Fälle, in denen entweder keine Patientenverfügung vorliegt oder eine vorhandene Patientenverfügung die konkrete Lebens- und Behandlungssituation nicht trifft.
Satz 1 soll die Bindung des Betreuers an die Behandlungswünsche des Patienten auch in den Fällen sicherstellen, in denen ein konkreter, auf die Situation bezogener Patientenwille zwar festgestellt wird, aber nicht schriftlich fixiert ist. Der im Zeitpunkt der Einwilligungsfähigkeit früher mündlich geäußerte Wille eines Patienten ist für die Ärzte in der akuten Behandlungssituation nicht bindend, wenn der Patient ihn infolge seiner Einwilligungsunfähigkeit nicht wiederholen kann. Die Ärzte bindet nach den unmittelbar nur der in einer solchen Verfügung schriftlich festgehaltene Wille.
Liegt ein Behandlungswunsch vor, hat der Betreuer/Bevollmächtigte ihm zu folgen. Unter einem Behandlungswunsch versteht man nach der Rechtsprechung des BGH alle Äußerungen eines Betroffenen, die Festlegungen für eine konkrete Lebens- und Behandlungssituation enthalten, aber den Anforderungen an eine Patientenverfügung im Sinne von § 1827 Abs. 1 BGB nicht genügen. Auch vor Inkrafttreten der Neuregelungen war der Betreuer bereits gemäß § 1901 Abs. 3 BGB a. F. (heute: § 1821 Abs. 3 BGB) an die Behandlungswünsche des Betreuten gebunden.
Liegt kein Behandlungswunsch vor, so ist der mutmaßliche Wille eines Patienten zu ermitteln, allerdings nur in Fällen, in denen eine (Weiter-)Behandlung ärztlich indiziert ist. Eine Behandlung oder Therapie darf von Ärzten aus rechtlichen und menschlichen Gründen nicht mehr angeboten werden, wenn sie nicht indiziert ist, weil sie dem Patienten keinen Benefit mehr bringt.
Mit Urteil vom 2.4.2019 hat der BGH in einem Fall, in dem der Patient keine Patientenverfügung errichtet hatte, einen Anspruch auf Schmerzensgeld für das Weiterleben abgelehnt. Wird ein Patient durch künstliche Ernährung länger als medizinisch sinnvoll am Leben erhalten und wird damit sein Leiden verlängert, so kann nach Auffassung des BGH weder Schmerzensgeld noch Schadenersatz gefordert werden. Das Leben ist nach der Rechtsprechung des BGH nicht als immaterieller Schaden zu werten. Zudem könne der Wert des Lebens nicht durch Dritte bestimmt werden. Es spiele in diesem Zusammenhang daher auch keine Rolle, ob ärztliche Aufklärungspflichten verletzt wurden.
Ist eine Indikationsstellung gegeben, hat der Betreuer beim Fehlen einer Patientenverfügung den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln. Er muss die Frage klären, was der Patient in der konkreten Situation wollen würde und wie er entscheiden würde, wenn er noch gefragt werden könnte. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Aus eigener Kenntnis wird der Betreuer diese Frage nur in den allerwenigsten Fällen beantworten können. Besonderes Gewicht kommt im Rahmen der Ermittlung des mutmaßlichen Willens einer mündlichen Vorausverfügung des Patienten zu. Fehlt auch eine solche, muss der Betreuer versuchen, den mutmaßlichen Willen aus den persönlichen Wertvorstellungen des Patienten abzuleiten. Hierzu muss er Familienangehörige und Freunde des Patienten befragen und im persönlichen Umfeld des Patienten nach Indizien für den mutmaßlichen Willen forschen. Das ist insbesondere in den Fällen schwierig, in denen der Patient weder mit seinen Familienangehörigen noch mit Freunden oder Bekannten das Thema Krankheit und Tod besprochen hat, weil er beispielsweise wegen seines jugendlichen Alters glaubte, sich über dieses Thema noch keine Gedanken machen zu müssen. Häufig tritt aber gerade durch ein unvorhergesehenes Ereignis, wie einen Verkehrsunfall, eine Situation ein, in der der Betroffene über medizinische Behandlungsformen keine Entscheidung mehr treffen kann. Es sind alle zugänglichen Quellen zu nutzen.
Kann der individuelle mutmaßliche Wille des Patienten in den geschilderten Fällen nicht ermittelt werden, muss der Betreuer nach der Rechtsprechung des BGH prüfen, ob es eine "allgemeine Wertvorstellung" für die konkrete Situation des Patienten gibt. Unter "allgemeinen Wertvorstellungen" werden Maßnahmen verstanden, die dem Interesse eines verständigen Patienten üblicherweise entsprechen. Es sind hierunter Maßnahmen zu verstehen, die allgemein als normal und vernünftig angesehen werden. Im Ergebnis handelt es sich um die Kriterien, die die Indikation oder Nichtindikation einer Behandlung ergeben. Den Betreuer trifft die Verpflichtung zur Prüfung, ob der Patient in der konkreten Situation eine Behandlung oder eine Nichtbehandlung bzw. das Unterlassen einer Weiterbehandlung gewünscht hätte, auch wenn diese letztendlich zu seinem Tod führt. Der Betreuer muss im Interesse des menschlichen Lebens mit äußerster Sorgfalt bei seiner Entscheidungsfindung alle Umstände gegeneinander abwägen. Er hat hierbei insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönlich...