Beteiligte
Tenor
1. Er erklärt die Beschwerde für zulässig.
2. Er entscheidet, dass Artikel 8 der Konvention nicht verletzt worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
O. ./. Deutschland,
hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer, die sich zusammensetzt aus
Peer Lorenzen, Präsident,
Renate Jaeger,
Rait Maruste,
Isabelle Berro-Lefèvre,
Mirjana Lazarova Trajkovska,
Zdravka Kalaydjieva,
Ganna Yudkivska, Richter,
sowie der Kanzlerin der Sektion, Claudia Westerdiek,
nach Beratung in nicht öffentlicher Sitzung am 31. August 2010,
das folgende Urteil erlassen, das an diesem Tag angenommen worden ist:
Rz. 1.
Der Rechtssache liegt eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Individualbeschwerde (Nr. 425/03) zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, Herr O. („der Beschwerdeführer”), am 2. Januar 2003 nach Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention”) beim Gerichtshof eingereicht hat.
Rz. 2.
Der Beschwerdeführer wird von Rechtsanwältin Ulrike Muhr aus Essen vertreten. Die deutsche Regierung („die Regierung”) wird von ihrer Verfahrensbevollmächtigten, Frau Almut Wittling-Vogel, Ministerialdirigentin im Bundesministerium der Justiz, vertreten.
Rz. 3.
Der Beschwerdeführer behauptet, dass die Ablehnung der Arbeitsgerichte, seine fristlose Kündigung durch die Mormonenkirche aufzuheben, Artikel 8 der Konvention verletzt habe.
Rz. 4.
Am 18. März 2008 hat der Präsident der Fünften Sektion beschlossen, der Regierung die Beschwerde zu übermitteln. In Einklang mit Artikel 29 Absatz 3 der Konvention ist ferner beschlossen worden, dass die Kammer über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Rechtssache zeitgleich entscheidet.
Rz. 5.
Sowohl der Beschwerdeführer als auch die Regierung haben schriftliche Stellungnahmen vorgelegt. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (die Mormonenkirche), die der Präsident ermächtigt hat, am schriftlichen Verfahren teilzunehmen (Artikel 36 Absatz 2 der Konvention und Artikel 44 Absatz 2 der Verfahrensordnung), hat ebenfalls Stellung genommen. Die Parteien haben auf diese Stellungnahmen erwidert (Artikel 44 Absatz 5 der Verfahrensordnung).
I. DIE UMSTÄNDE DES FALLES
A. Hintergrund der Rechtssache
Rz. 6.
Der Beschwerdeführer wurde1959 geboren und ist in N.-A. wohnhaft.
Rz. 7.
Er ist in der Mormonenkirche aufgewachsen, die den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft innehat. 1980 heiratete er nach mormonischem Ritus. Nachdem er bereits verschiedene Ämter bei der Mormonenkirche bekleidet hatte, wurde er ab dem 1. Oktober 1986 als Gebietsdirektor Europa in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit mit einem Monatsgehalt von 10.047,85 DM (ca. 5000 EUR) beschäftigt.
Rz. 8.
§ 10 seines Anstellungsvertrags vom 25. September 1986 enthielt folgende Klausel:
Verhalten im Betrieb und außerhalb |
„Dem Arbeitnehmer sind die wesentlichen Grundsätze der Kirche bekannt. Er hat Mitteilungen und jegliches Verhalten zu unterlassen, wodurch der Ruf der Kirche geschädigt oder diese Grundsätze in Frage gestellt werden könnten. Der Arbeitnehmer verpflichtet sich insbesondere zur Einhaltung hoher moralischer Grundsätze.
Er verpflichtet sich, in den Betriebsräumen sowie unmittelbar in der Nähe des Betriebes und auch auf betrieblich veranlassten Fahrten und Veranstaltungen weder zu rauchen, noch Alkohol, Bohnenkaffee oder Rauschgift zu sich zu nehmen. Grobe Verstöße berechtigen den Arbeitgeber zur fristlosen Kündigung.
Für die folgenden drei Gruppen von Mitarbeitern gelten gesteigerte Pflichten bezüglich des Verhaltens im Betrieb und außerhalb:
- Führungskräfte (insbesondere Manager)
- Mitarbeiter, die im Rahmen ihrer betrieblichen Tätigkeiten Kontakt mit betriebsfremden Personen (…) haben
- Mitarbeiter, die im Bildungswesen der Kirche religiösen Unterricht erteilen.
Die diesen Gruppen zugehörigen Arbeitnehmer müssen Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage sein. Sollten sie ihre Mitgliedschaft, aus welchen Gründen auch immer, verlieren oder sollten sie gegen die Grundsätze der Kirche in erheblichem Maße verstoßen, so muss dies eine Kündigung – in schwerwiegenden Fällen auch eine fristlose – nach sich ziehen.”
Rz. 9.
Anfang Dezember 1993 wandte sich der Beschwerdeführer an seinen zuständigen Seelsorger S. und bat um seelsorgerischen Beistand. Im Laufe des Gesprächs offenbarte er ihm, dass seine Ehe seit Jahren notleidend sei und dass er eine sexuelle Beziehung zu einer anderen Frau gehabt habe. S. legte ihm nahe, sich an N., Gebietspräsident und Vorgesetzter des Beschwerdeführers, zu wenden, und stellte klar, dass er N. unterrichten werde, wenn der Beschwerdeführer dies nicht selbst tue. Am 21. Dezember 1993 wandte sich der Beschwerdeführer an N., der sich seines seelsorgerischen Beistands enthielt. Am 27. Dezember 1993 sprach N. die fristlose Kündigung des Beschwerdeführers aus. Anschließend wurde der Betroffene im Rahmen eines internen Disziplinarverfahrens aus der Kirche ausgeschlossen.
B. Die Entscheidungen der unt...