Der Begriff der seelischen Behinderung ist zweigliedrig. Es ist einmal ein Abweichen der seelischen Gesundheit vom für das Lebensalter typischen Zustand, der mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate andauert. Zum anderen ist eine dadurch verursachte und ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefordert.
2.1 Abweichung vom alterstypischen Zustand
Das Abweichen von der seelischen Gesundheit ist auf der Grundlage der ICD-10-GM festzustellen. Für diese Feststellung ist die fallzuständige Fachkraft verantwortlich. Sie hat dabei die Stellungnahme der in § 35a Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB VIII aufgeführten Fachleute einzuholen, also
- eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie oder
- eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eine Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder
- eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt.
2.2 Beeinträchtigung der Teilhabe
Die Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft ist in den 3 Bereichen
- Familie/Verwandtschaft,
- Kindergarten/Schule/Beruf,
- Freundeskreis/Freizeit
festzustellen, wobei sich die Beeinträchtigung nicht auf alle 3 Bereiche erstrecken muss. Es gilt hier der Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X. Diese Feststellung ist von den sozialpädagogischen Fachkräften des Jugendamts zu treffen. Erforderlich ist eine nachhaltige Beeinträchtigung der sozialen Funktionsfähigkeit, eine lediglich geringfügige Beeinträchtigung ist nicht ausreichend.
Die Beeinträchtigung ist nach der Intensität der Auswirkungen auf das gesamte Leben in der Gemeinschaft zu beurteilen. Bloße Schulprobleme oder Schulängste reichen nicht aus. Erforderlich ist eine nachhaltige Beeinträchtigung der Integration, die in totaler Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus allen Sozialkontakten sowie sekundären Neurotisierungen ihren Ausdruck finden kann.
Teilleistungsstörungen sind keine seelische Behinderung
Teilleistungsstörungen (z. B. Dyskalkulie oder Legasthenie) oder ADHS sind für sich genommen keine seelische Behinderung, können aber bei stärkerer Ausprägung zu einer seelischen Behinderung führen. Unabhängig vom Grad der Teilleistungsstörung ist die Schule verpflichtet, die betroffenen Kinder zu fördern. Auf die schulische Förderung kann das Jugendamt aber nur verweisen, wenn diese bedarfsgerecht zur Verfügung steht. Fehlen entsprechende Angebote in der Schule, muss die Jugendhilfe als "Ausfallbürge" eintreten.
Die für beide Begriffsteile ausreichende hohe Wahrscheinlichkeit einer drohenden seelischen Behinderung liegt vor, wenn die Behinderung mit einer Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 % zu erwarten ist.