Leitsatz
Gegenstand des Verfahrens war der Antrag der Mutter eines im Oktober 2006 geborenen Kindes, das nur wenige Wochen nach seiner Geburt mit Einverständnis der Kindesmutter bei Pflegeeltern untergebracht worden war und dort ununterbrochen lebte. Regelmäßige Besuchskontakte des Kindes mit seiner leiblichen Mutter fanden begleitet in vierwöchigen Abständen für die Dauer von jeweils einer Stunde in den Räumen des Jugendamtes statt.
Die Kindesmutter widerrief im Juli 2008 ihr Einverständnis mit der Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie und begehrte seine Rückführung in den mütterlichen Haushalt.
Sie war Mutter dreier weiterer in den Jahren 2008, 2009 und 2010 geborener Kinder. Leiblicher Vater aller vier Kinder war der Partner der Kindesmutter, mit dem sie seit Februar 2009 in nichtehelicher Lebensgemeinschaft zusammenlebte. Beide Eltern und das betroffene Kind waren italienische Staatsangehörige. Beide Eltern waren arbeitslos. Eine gemeinsame Sorgeerklärung hatten sie nicht abgegeben.
Das FamG hat zunächst auf Antrag des Jugendamtes der Mutter im Wege der einstweiligen Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das betroffene Kind M. entzogen und mit weiterem Beschluss dem Jugendamt im Wege der einstweiligen Anordnung das Recht zur Beantragung eines Passes für das Kind übertragen, um ihm eine Auslandsreise mit seinen Pflegeeltern zu ermöglichen.
Zur Frage der von der Kindesmutter begehrten Rückführung des Kindes in den mütterlichen Haushalt hat das FamG ein Sachverständigengutachten eingeholt und der Mutter letztendlich mit Beschluss vom 16.11.2009 die elterliche Sorge für das betroffene Kind M. entzogen und angeordnet, dass das Kind seinen Lebensmittelpunkt weiterhin bei den Pflegeltern haben sollte.
Hiergegen richtete sich die Beschwerde der Kindesmutter.
Ihr Rechtsmittel war erfolgreich.
Sachverhalt
Siehe Kurzzusammenfassung
Entscheidung
Das OLG hielt die Voraussetzungen für eine Entziehung der elterlichen Sorge für nicht gegeben.
Nach § 1666 Abs. 1 BGB komme eine Entziehung der Personensorge für ein Kind nur in Betracht, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet sei und die Eltern nicht willens und in der Lage seien, die Gefahr abzuwenden. Dabei müsse es sich um eine gegenwärtige oder zumindest nahe bevorstehende Gefahr für die Entwicklung des Kindes handeln, die so ernst zu nehmen sei, dass sich eine Beeinträchtigung seines körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls mit ziemlicher Sicherheit voraussagen lasse (vgl. BGH FamRZ 2005, 344, 345).
Darüber hinaus sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Da die Entziehung der elterlichen Sorge den stärksten vorstellbaren Eingriff in das durch Art. 6 Abs. 2, Abs. 3 GG geschützte Elternrecht darstelle, sei eine solche Maßnahme nur gerechtfertigt, wenn massiv belastende Ermittlungsergebnisse und ein entsprechend hohes Gefährdungspotential vorlägen.
Diese Voraussetzungen sah das OLG im vorliegenden Fall nicht erfüllt, da die Entziehung der elterlichen Sorge der Kindesmutter für das betroffene Kind M. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspreche.
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sei zu berücksichtigen, dass ein Pflegeverhältnis generell nicht so verfestigt werden dürfe, dass die leiblichen Eltern mit dessen Begründung nahezu in jedem Fall den dauerhaften Verbleib ihres Kindes in der Pflegefamilie befürchten müssten (vgl. OLG Hamm NJW-RR 1997, 1299, 1300).
Die Inpflegenahme eines Kindes stelle grundsätzlich eine vorübergehende Maßnahme dar, die zu beenden sei, sobald die Umstände es erlaubten. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze stellte die vom FamG verfügte und mit der befristeten Beschwerde der Kindesmutter nicht angegriffene Verbleibensanordnung nach § 1632 Abs. 4 BGB ein milderes Mittel i.S.d. § 1666a BGB ggü. dem Entzug der gesamten elterlichen Sorge dar. Die Verbleibensanordnung sei nach ihrem Sinn und Zweck nicht auf eine dauerhafte Trennung von Kind und Eltern, sondern darauf gerichtet, Nachteile, die durch eine zur Unzeit vorgenommene Rückführung in den elterlichen Haushalt für das Kind entständen, zu vermeiden.
Eine auf die Entziehung der elterlichen Sorge gerichtete Maßnahme nach § 1666 Abs. 1 BGB dürfe daher nur dann erfolgen, wenn die Verbleibensanordnung nicht geeignet oder nicht ausreichend sei, um die bestehende Gefahr für das Kindeswohl abzuwenden.
Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die vom FamG verfügte Verbleibensanordnung nicht geeignet oder nicht ausreichend zur Gefahrensabwehr für das Wohl des Kindes M. sei, beständen nicht.
Link zur Entscheidung
OLG Hamm, Beschluss vom 20.05.2010, II-2 UF 280/09