Rz. 29
Das Common Law – gemeinsames oder gemeines Recht – entstand in England nach der normannischen Invasion dadurch, dass die Richter des Königs im Land herumreisten und allmählich ihr eigenes Recht gegenüber den örtlichen Gewohnheiten in den unterschiedlichen Landesteilen durchsetzten. Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde dieses Recht bereits Common Law genannt. Sein Gegenteil ist das Civil Law, wie in England früher das römische Recht genannt wurde und wie in England heute die kontinentaleuropäischen Rechte genannt werden. Das Equity Law ist ein Billigkeitsrecht, welches das Common Law einzelfallbezogen korrigiert. Common Law and Equity bilden das Case Law (Fallrecht).
Rz. 30
Das Fallrecht ist auch im Gesellschaftsrecht heutzutage noch bedeutsam, obwohl es mit dem Companies Act 2006 eine weitgehende Kodifizierung erfahren hat. Wichtig ist das Fallrecht insbesondere noch für die Haftung der Geschäftsleiter bei Pflichtverstößen und deren Durchsetzung durch einzelne Gesellschafter. Die Urteile englischer Gerichte entfalten Bindungswirkung innerhalb des Instanzenzugs. Jedes Gericht ist durch die Entscheidung eines höheren Gerichts gebunden, solange diese Rechtsprechung nicht in Entscheidungen noch höherer Gerichte aufgegeben ("overruled") oder durch Gesetzgebung obsolet wird. Der 2009 neu geschaffene Surpreme Court kann seine Rechtsprechungselbst aufgeben oder ändern. Bei diesem handelt es sich nicht um ein Verfassungsgericht, sondern um das oberste Fachgericht. Ein Verfassungsgericht existiert im englischen Rechtssystem nach wie vor nicht, da es keine Verfassung gibt und die unionsrechtlichen Grundlagen der Europäischen Menschenrechtscharta und die EMRK den Rang einfachen Rechts haben. Englische Gerichte sind allerdings nicht an Entscheidungen des Privy Council gebunden, das nunmehr als Abteilung des Surpreme Court fungiert, wenngleich dessen Urteilen aufgrund der Personenidentität mit den Richtern des Surpreme Court (law lords) eine "highly persuasive authority" zukommt. Der Privy Council ist für das gesamte Commonwealth, die Dominions und die Kolonien zuständig, soweit dies auf der Grundlage bilateraler staatlicher Abkommen vereinbart wurde, aber nicht mehr z.B. für Kanada, Indien oder Pakistan. Weiter sind englische Gerichte nicht an Entscheidungen nichtenglischer Gerichte des Vereinigten Königreichs (z.B. Entscheidungen schottischer Gerichte) sowie an Entscheidungen von Gerichten des Commonwealth gebunden.
Rz. 31
Die Bindungswirkung von Urteilen der Obergerichte wird durch die Kunst der Unterscheidung ("distinguishing") in zwei Richtungen begrenzt: Zum einen ist der englische Richter nicht gebunden, wenn sich die Sachverhalte der beiden Fälle nicht decken ("distinguished on the facts"), und zum anderen dann nicht, wenn das herangezogene Rechtsprinzip mangels Entscheidungserheblichkeit nicht den tragenden Grund der früheren Entscheidung (ratio decidendi), sondern nur eine nichttragende Erwägung (obiter dicta) darstellt. Schließlich äußert jeder einzelne Richter eines Kollegialorgans die Rechtsmeinung, die er sich selbst gebildet hat. Im Falle unterschiedlich begründeter, aber im Ergebnis übereinstimmender Voten ("concurring opinions"; im Unterschied zu "dissenting votes", die sich im Ergebnis unterscheiden) können sich Richter in den Gerichten des höheren Instanzenzugs selbst aussuchen, welche Gründe welchen Richters sie als für sich bindend ansehen wollen und welche Gründe welchen Richters nicht.