Rz. 301
Im englischen Gesellschaftsrecht ist die Problematik der Durchgriffshaftung (lifting the corporate veil) aus dem Common Law entwickelt worden. Unter diesen Begriff werden jedoch nicht nur die Fälle des haftungsrechtlichen Durchgriffs gefasst, sondern auch Fragen der Zurechnung von Handlungen einer Kapitalgesellschaft zum Anteilseigner. Es gilt selbst im Fall der personengebundenen Ein-Mann-Kapitalgesellschaft das strikte Trennungsprinzip. Eine Durchgriffshaftung oder -betrachtung wird in dieser grundlegenden Entscheidung für unzulässig erklärt.
Rz. 302
Im Common Law wurden von den Gerichten bestimmte Fallgruppen der Durchgriffshaftung entwickelt. Der Surpreme Court hat in einem viel diskutierten Urteil im Jahr 2013 hervorgehoben, Grundprinzip der Durchgriffshaftung seien die Fälle rechtsmissbräuchlichen Handelns, also Sachverhalte, in denen die Gesellschaft bewusst von den Gesellschaftern eingesetzt werde, um eine sonst gegen sie persönlich gerichtete Verpflichtung nicht erfüllen zu müssen (evasion principle). Entscheidend ist, dass die Gesellschaft zu diesem Zweck gegründet worden ist. Aufgrund dieses engen Rechtsgrundes für eine Durchgriffshaftung dürften die bisherigen in der Rechtsprechung anerkannten weiteren Fallgruppen (siehe Rdn 303 ff.) überholt sein, wenn sich im Einzelfall nicht gleichzeitig ein rechtsmissbräuchlicher Einsatz der Abschirmwirkung der Gesellschaft nachweisen lässt.
Rz. 303
Agency. Nach diesem Rechtsinstitut des Common Law haftet ein Hintermann für Rechtsgeschäfte seines Vordermanns (agent), die dieser im eigenen Namen und auf eigene Rechnung schließt, soweit der agent nur als ein Strohmann eingesetzt wird. In dieser Fallgruppe spielen die meisten Fälle der Durchgriffshaftung. So wurde beispielsweise in der Entscheidung Jones vs. Littmann eine Gesellschaft gegründet, in die ein Grundstück eingebracht wurde, zu dessen Übereignung sich der einzige Gesellschafter der Gesellschaft persönlich verpflichtet hatte. Die Einbringung diente allein dem Zweck des Alleingesellschafters, sich seinen persönlichen Vertragsverpflichtungen entziehen zu können. Diese Fallgruppe als Anwendungsbeispiel für einen rechtsmissbräuchlichen Einsatz einer Körperschaft dürfte nach der Neuausrichtung der Rechtsprechung fortbestehen können.
Rz. 304
Unternehmensgruppen. In dieser Fallgruppe geht es darum, Tochtergesellschaften und ihre Obergesellschaften als rechtliche Einheit zu betrachten und Verpflichtungen der Tochtergesellschaften auf die Obergesellschaft durchschlagen zu lassen. Im Fall "Salomon" führte das House of Lords aus, dass eine Gesellschaft wegen ihrer eigenen Rechtspersönlichkeit nicht automatisch "agent" ihrer Gesellschafter sei, nur weil gleichzeitig der Gesellschafter der Tochtergesellschaft auch der Geschäftsherr sei. Tochtergesellschaften werden also nicht als Agenten ihrer Muttergesellschaften (Gesellschafter) angesehen. Vereinzelt hat es in diesem Bereich eine Durchgriffshaftung der Obergesellschaft gegeben. Aufbauend auf den neuen Entscheidungen des Surpreme Court wird eine Durchgriffshaftung jedoch nur noch sehr schwer anzunehmen sein. Selbst wenn vermögenslose Gesellschaften eingeschaltet werden, welche sich vertraglich zu Leistungen verpflichten, die sie aufgrund ihrer Vermögenssituation nicht erfüllen können, oder wenn solche Gesellschaften trotz ihrer rechtlichen Verpflichtungen ihre wesentlichen Vermögensgegenstände veräußern (asset stripping), ist eine Durchgriffshaftung aus Gründen des Vorrangs der Rechtssicherheit vor der Durchgriffshaftung abgelehnt. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Fälle Adams vs. Cape Industries plc, Yukong Lines Ltd. of Korea vs. Rendsburg Investment Corp. of Liberia und Ord vs. Belhaven Pubs Ltd zu nennen. In all diesen Fällen wird gerade das agency-Argument ausdrücklich zurückgewiesen.