Sachverhalt
Die Klage der Kommission gegen Polen betraf die Zulässigkeit der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes auf Säuglingsbekleidung, Bekleidungszubehör für Säuglinge und Kinderschuhe. Diese Gegenstände sind in dem Katalog der Leistungen nach Art. 123 bis 130 MwStSystRL, der nach der Beitrittsakte Polen berechtigt, für eine Übergangszeit einen ermäßigten Steuersatz anzuwenden, sowie in Anhang III MwStSystRL nicht enthalten. Die Bundesregierung hatte sich an dem Verfahren nicht beteiligt.
Entscheidung
Mit seinem Urteil hat der EuGH - entgegen den Schlussanträgen der Generalanwältin - der Klage stattgegeben. Danach berechtigt Polen auch der Bestandsschutz des Art. 115 MwStSystRL nicht zur Anwendung des ermäßigten Steuersatzes. Art. 115 MwStSystRL (bis 31.12.2006 Art. 28 Abs. 2 Buchst. d der 6. EG-Richtlinie) richtet sich nach seiner ratio legis nur an diejenigen Mitgliedstaaten, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 92/77 zur EG gehört haben, und gestattet diesen, abweichend die ermäßigten Mehrwertsteuersätze beizubehalten, sofern diese Sätze in den betreffenden Mitgliedstaaten am 1.1.1991 angewandt wurden seien (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil vom 11.10.2001, C-267/99 (Adam)).
Polen hatte geltend gemacht, in Polen sei am 1.1.1991 nach dem Gesetz vom 16.12.1972 ein ermäßigter Steuersatz für den Verkauf von Gegenständen, darunter Kinderbekleidung und Kinderschuhe, angewandt worden. Dazu stellt der EuGH fest, dass die polnische Steuer lt. Gesetz vom 16.12.1972 nicht als eine der Mehrwertsteuer entsprechende Abgabe angesehen werden kann. Die Steuer bemaß sich nach dem Bruttoumsatz, den der Steuerpflichtige im Laufe eines bestimmten Zeitraums erzielte. Somit ließ sich der Betrag dieser bei jedem einzelnen Verkauf einer Ware eventuell auf den Kunden abgewälzten Steuer nicht genau bestimmen, so dass die Voraussetzung der Proportionalität dieses Betrags zu den Preisen, die der Steuerpflichtige als Gegenleistung erhält, nicht erfüllt war.
Polen hatte außerdem argumentiert, dass die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die betreffenden Gegenstände die Geburtenrate in Polen steigern solle und dazu beitrage, im Geist der Lissabon-Strategie das Wirtschaftswachstum zu beschleunigen. Hierzu stellt der EuGH fest, dass derartige gesellschaftspolitische Erwägungen zwar möglicherweise die Gewährung einer abweichenden Regelung im Wege einer Änderung der MwStSystRL Europäischen Union rechtfertigen, aber in rechtlicher Hinsicht keinen Verstoß gegen Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL rechtfertigen können.
Hinweis
Das Urteil hat für das deutsche Umsatzsteuerrecht keine Bedeutung
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 28.10.2010, C-49/09