Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Ermäßigung der Mehrwertsteuer, die von den vom Erdbeben in den Abruzzen am 6. April 2009 betroffenen Steuerpflichtigen geschuldet wird
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Richtlinie 2006/112/EG Art. 2, 206, 273
Beteiligte
Tenor
Die Art. 2, 206 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zugunsten der vom Erdbeben in den Abruzzen (Italien) betroffenen Steuerpflichtigen eine Ermäßigung der von diesen Steuerpflichtigen zwischen April 2009 und Dezember 2010 normalerweise geschuldeten Mehrwertsteuer um 60 % vorsieht.
Tatbestand
In der Rechtssache C-37/23 [Giocevi](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 16. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Januar 2023, in dem Verfahren
Agenzia delle Entrate
gegen
PR
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von PR, vertreten durch F. Camerini und A. Rossi, Avvocati,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Herold, J. Jokubauskaitė und F. Tomat als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der im Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien (C-132/06, EU:C:2008:412), und im Beschluss vom 15. Juli 2015, Nuova Invincibile (C-82/14, EU:C:2015:510), aufgestellten Grundsätze zum gemeinsamen Mehrwertsteuersystem.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenzia delle Entrate (Agentur der Einnahmen, Italien, im Folgenden: Steuerverwaltung) und PR, einem Notar, über dessen Antrag auf Rückerstattung von 60 % der von ihm für den Zeitraum von April 2009 bis Dezember 2010 gezahlten Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der 45. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) lautet:
„Die Pflichten der Steuerpflichtigen sollten soweit wie möglich harmonisiert werden, um die erforderliche Gleichmäßigkeit bei der [Erhebung der Mehrwertsteuer] in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen.“
Rz. 4
Art. 2 der Richtlinie bestimmt:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
a) Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…“
Rz. 5
Art. 206 der Richtlinie sieht vor:
„Jeder Steuerpflichtige, der die [Mehrwertsteuer] schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder Vorauszahlungen erheben.“
Rz. 6
Art. 273 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
…“
Italienisches Recht
Decreto-legge Nr. 78 vom 31. Mai 2010
Rz. 7
Art. 39 Abs. 1 des Decreto-legge n. 78 – Misure urgenti in materia di stabilizzazione finanziaria e di competitività economica (Decreto-legge Nr. 78 über Sofortmaßnahmen auf dem Gebiet der Finanzstabilisierung und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 122 vom 30. Juli 2010) vom 31. Mai 2010 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 125 vom 31. Mai 2010) bestimmt, dass für natürliche Personen mit Unternehmenseinkünften oder Einkünften aus selbständiger Erwerbstätigkeit und für andere als natürliche Personen mit einem Umsatz von nicht mehr als 200 000 Euro die Frist für die Aussetzung von Steuerpflichten und Steuerzahlungen bis zum 20. Dezember 2010 verlängert wird, ohne dass bereits gezahlte Beträge rückerstattet werden. A...